Federschmuck
In Megan Hunters Roman „Die Harpyie“ wird eine britische Durchschnittsfrau zum Racheengel
Von Sascha Seiler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHarpyien sind mythische Vogelgestalten, häufig als Frauen mit Flügeln, oder Vogelkörper mit Frauenköpfen dargestellt. In älteren Mythen sind sie noch von schönem Antlitz, später bekommen sie zunehmend dämonische Züge. Harpyien tauchen unter anderem in der Odyssee auf, in der Argonautensage, wo sie den blinden Seher Phineas quälen und mit ihrem Kot dessen Essen verderben und in Vergils Aeneis, als Vögel mit scheußlichen Mädchengesichtern, die vom Hunger getrieben sind.
Lucy, die Erzählerin von Megan Hunters zweitem Roman, der nach dieser mythologischen Figur benannt wurde, ist seit ihrer Kindheit fasziniert von Harpyien. Aus einem gewalttätigen Elternhaus kommend projizierte sie als Kind in die Sagengestalten düstere weibliche Heldinnen hinein, die kraft ihrer Unverwundbarkeit zu Rächerinnen sämtlicher geschundener Frauen werden. Als sie gleich zu Beginn des Romans erfährt, dass ihr Mann, ein Universitätsdozent, sie seit längerem mit einer Kollegin betrügt, erinnert sie sich an diese Projektionen ihrer Kindheit und beginnt, sich immer mehr mit den Rachevögeln zu identifizieren.
Vor diesem Betrug haben Lucy und ihr Mann Jake ein typisch britisches Vorstadtleben geführt. Lucy, Mitte 30, hat ihre Universitätskarriere sowie sämtliche schriftstellerischen Ambitionen wegen Mann und Kindern an den Nagel gehängt und arbeitet freiberuflich als Texterin für Gebrauchsanleitungen, während Jake Karriere als Biologe macht. Sie gesteht sich nicht ein, dass ihr Leben zwischen Kindern und Kochen zunehmend sinnentleert ist. Als sie jedoch erfährt, dass Jake sie mit der (deutlich älteren) Kollegin Vanessa betrügt, ist sie zunächst schockiert und sprachlos.
Jake, der als widerlich schleimiger Zeitgenosse proträtiert wird, schlägt ihr, ohne es tatsächlich ernst zu meinen, einen archaischen Deal vor, in den sie unerwartet einwilligt: Sie darf ihn fortan dreimal verletzten. In Lucy erwacht nun nämlich wieder ihr Kindheitstrauma und sie sieht plötzlich die Möglichkeit, zur zeitgenössischen Harpyie zu werden. Während die erste Verletzung noch recht harmlos abläuft – sie mischt, in Anlehnung an die Argonautensage, Jake ein Übelkeit erregendes Medikament ins Abendessen – entscheidet sie für den zweiten Akt, auf Jakes Handy gespeicherte Sexfotos mit besagter Vanessa per Email an die gesamte Fakultät zu schicken. Und das Unheil nimmt, selbstredend, seinen Lauf, Jake droht aus den elitären universitären Zirkeln verschwinden zu müssen, so wie einst die Harpyien Odysseus verschwinden ließen.
Der Roman wird auf zwei Ebenen erzählt: Auf der einen Seite ist die stringent erzählte, zwischen Krimi und Familiendrama changierende Haupterzählung. Auf der anderen gibt es kurze Einsprengsel, in denen Lucy sich an ihre kindliche Leidenschaft für die Harpyien erinnert sowie nach und nach versucht, die mythischen Gestalten wieder in ihr Leben zu lassen. Diese Parallelwelt dringt – zumindest aus Lucys Sicht – immer mehr in die reale Welt ein.
Der Roman ist der Thematik entsprechend recht düster und resignativ gehalten, versucht jedoch mit zunehmender Dauer verstärkt die individuelle Problematik um Lucy zu einer universellen Aussage über die Rolle der Frau in der gegenwärtigen britischen Mittelklasse-Gesellschaft zu machen, was nur teilweise funktioniert. Die Passagen jedoch, in denen Lucy vergeblich versucht, vor der natürlich eingeweihten Nachbarschaft ihren Stolz zu bewahren, sind gerade aufgrund ihrer Banalität von großer Intensität.
Enttäuschend hingegen ist die unglaublich plumpe Auflösung, nachdem der Roman zuvor gerade aufgrund seines unkonventionellen, Spannung generierenden Aufbaus sowie seiner mythologischen Bezüge über weite Strecken äußerst gelungen ist. Und es ist gerade die Fixierung der Hauptfigur und Ich-Erzählerin – und mit ihr der Autorin – auf das Harpyien-Motiv, die am Ende zu einer Ausreizung desselben und einem recht klischeebehafteten Ende führen.
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