In der Gewalt des Hungermanns

In seinem Thrillererstling „Die Stille des Bösen“ blickt der in Tasmanien lebende Autor Kyle Perry hinter die Fassaden einer Kleinstadt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Murphy-Brüder Jordan und Butch dealen in der nordtasmanischen Kleinstadt Limstone Creek mit selbst angebautem Cannabis. Jordans 16-jährige Tochter Jasmine, die nach dem Tod der Mutter gemeinsam mit ihrem Vater bei dessen älterem Bruder wohnt, hat sich von der Cleverness der beiden Männer, mit denen die immer wieder den einheimischen Polizisten Doble auf die Palme bringen, einiges abgeschaut. In der Schule gehört sie zu den Fab Four, vier Mädchen, die den Ton in ihrer Klasse angeben und zu denen die Jüngeren bewundernd aufschauen. Allein die Freundschaft zwischen dem Zwillingspärchen Cierra und Madison Mason, der von Aboriginals abstammenden Georgia Lenah und der gewitzten Jasmine Murphy ist nicht so eng, wie es für Außenstehende den Anschein hat. Und als bei einem Schulausflug – „Wildniserfahrung“ soll bei dem Trip in die Berge nahe der Stadt gesammelt werden – drei der vier Freundinnen zusammen mit einem weiteren Mädchen spurlos verschwinden, stellt sich auch nach und nach heraus, dass die vier von mehr zusammengehalten werden als nur einer Schulfreundschaft.

Kyle Perrys Die Stille des Bösen ist der Debütroman des dreißigjährigen Autors, der aus der Gegend stammt, in der sein Buch spielt. Als Therapeut und Sozialarbeiter in verschiedenen Highschools, Jugendeinrichtungen und Entzugskliniken hat er jahrelang mit Drogen- und Alkoholabhängigen gearbeitet und nebenbei immer geschrieben. Als sein elftes Buch endlich von einem namhaften Verlag angenommen wurde und enthusiastische Kritiken der Publikation folgten, lag das nicht zuletzt daran, dass sowohl seine Erfahrungen mit jugendlichen Abhängigen als auch die Liebe zur wild-geheimnisvollen Natur seiner Heimat darin eine Rolle spielen. Die Nähe zu seinen Themen verbindet sich bei Perry zusätzlich mit einem erstaunlichen schriftstellerischen Talent, wie man es nur selten bei Autoren findet, die erst am Anfang ihrer öffentlichen Schriftstellerkarriere stehen.

Atmosphärisch fesselnd und von Kapitel zu Kapitel die Perspektiven wechselnd, dringt Die Stille des Bösen in die Geheimnisse einer Kleinstadt ein, die für die beiden Detectives, die damit beauftragt sind, die vier verschwundenen Jugendlichen zu suchen und heil nach Hause zurückzubringen, zunächst viel Provinzielles hat. Die Kollegen vor Ort wirken nicht kompetent. Die Legenden, an die die Hälfte der Bevölkerung zu glauben scheint, kommen den Ermittlern – Cornelius Badenhorst, den von seinem letzten Fall noch traumatisierten und deshalb aus Sydney nach Tasmanien versetzten Spezialisten für Straftaten von und an Jugendlichen, und Gabriella Pakinga, eine groß gewachsene Maori, die kein Blatt vor den Mund nimmt und aneckt, wo sie nur anecken kann – mehr wie Märchen vor. Und in die Geschichte der Besiedlung Tasmaniens und des tragischen Schicksals seiner Ureinwohner, die für den Roman eine nicht unwichtige Rolle spielt, müssen sie sich erst einmal einarbeiten, zumal die Einheimischen ihnen mit großem Misstrauen begegnen und die Dinge lieber unter sich regeln würden.

Als allerdings eines der verschwundenen Mädchen tot im Urwald aufgefunden wird, rückt eine drei Jahrzehnte zurückliegende Geschichte erneut in den Blickpunkt. Denn schon einmal, 1985, sind Mädchen aus Limestone Creek verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Damals fiel der Verdacht auf den Hausmeister der örtlichen Schule. Weil man ihm die Taten nicht beweisen konnte, wurde er strafrechtlich nicht belangt, brachte sich aber nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis um. Ein Schuldeingeständnis? Oder sollte der Täter dreißig Jahre lang unerkannt in der Kleinstadt am Rande des Western Tiers Nationalparks weitergelebt und nun erneut zugeschlagen haben? Und auch diesmal spielt die Bevölkerung nach Bekanntwerden des Falls und seiner immer größere Ausmaße annehmenden Ausschlachtung durch die Medien verrückt. So dass, wer in Verdacht gerät, die Mädchen entführt zu haben – die Murphy-Brüder gehören genauso dazu wie einige Lehrer, die die Klassen auf den Ausflug begleiteten –, um sein Leben fürchten muss. 

Die sich um das Verbrechen aus den achtziger Jahren rankende Legende um den mordenden und seine Opfer verspeisenden „Hungermann“, dem sogar ein Schülerreim ein Denkmal setzt – „Drum geh ich da oben nie allein durch den Wald,/ sonst kommt der Hungermann und macht mich kalt.“ –, erweist sich auf jeden Fall noch als sehr lebendig unter den Bewohnern der Stadt. Und auf ihrem YouTube-Kanal bemüht sich die Zwillingsschwester der verschwundenen Cierra, Madison Mason, mit ihren sensationslüsternen Spekulationen rund um diese Geschichte Follower anzuziehen, auch wenn sie damit mehr Unheil stiftet als ihr lieb sein dürfte.  

Die Stille des Bösen ist ein geschickt komponierter Roman, der seine Leser schnell in eine Geschichte hineinzieht, in der alle Beteiligten etwas zu verbergen scheinen. Er verliert in seinem Mittelteil etwas an Tempo, macht das aber wieder gut, indem er zum Ende hin mit ein paar äußerst verblüffenden Wendungen aufwartet. Geschickt spielt Kyle Perry mit der Mehrfachbedeutung des Wortes „Bluff“ – The Bluffs lautet denn auch der Originaltitel des Romans –, indem er zum einen seine Hauptfiguren, besonders den nicht immer die richtigen Spuren verfolgenden Detective Cornelius „Con“ Badenhorst, sich reichlich aus dem Arsenal ihrer Trickkisten bedienen lässt, auch wenn das nicht immer in Übereinstimmung mit den geltenden Gesetzen steht. Zum anderen verschwinden die vier jungen Mädchen in einem von Steilhängen und gefährlichen Felskliffs (engl.: bluff) durchzogenen, unwegsamen Gebiet des Western-Tiers-Gebirges, wo „vom Weg abkommen“ in vielen Fällen gleichbedeutend mit „verlorengehen“ ist.    

Perry hat seinen Roman mit ein paar wunderbar bizarren Figuren ausgestattet. Einem Ermittler, der, wenn er seine Nächte fern von zuhause verbringen muss, eigene Gardinen und Bettwäsche dabeihat und die nichtssagenden Bilder an den Hotelwänden durch private Fotografien ersetzt. Einer jugendlichen YouTuberin mit am Ende gut acht Millionen Followern, die mit ihren Videos mehr in Bewegung bringen kann als die ermittelnde Polizei mit herkömmlichen Methoden und, wenn es sein muss und der Bekanntheitssteigerung dient, über Leichen geht. Einer Lehrerin, die sich selbst Erlaubnisscheine ausstellt, um handeln zu können. Und einer bedrohlich im Hintergrund der die Stadt umgebenden Wälder lauernden Figur, die die Bewohner in Angst und Schrecken versetzt und von der man bis zum Schluss nicht weiß, ob sie nicht lediglich ein Produkt der kollektiven Fantasie ist.

Titelbild

Kyle Perry: Die Stille des Bösen. Thriller.
Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld.
Atrium Verlag, Zürich 2021.
460 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783855351176

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