Freischwimmen

Thomasz Jedrowskis Debütroman „Im Wasser sind wir schwerelos“ erzählt von politischen Repressionen, Aufbruchstimmung und einer (unmöglichen) Männerliebe im spätkommunistischen Polen

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Schwimmen spielt in Thomas Jedrowskis Roman eine herausragende Rolle, in symbolischer und ganz konkreter Hinsicht: Beim Schwimmen, während eines von der Partei verpflichtend von Jugendlichen und jungen Erwachsenen abverlangten Ernteeinsatzes, der nicht nur der Arbeit, sondern auch dem politischen Drill dienen sollte, lernen sich Ludwik und Janusz 1980 kennen. Hier sind sie schwerelos – eine gar nicht so unglückliche Titelwahl bei der Übersetzung des natürlich ungleich doppelsinnigeren englischen Originals Swimming in the dark – und können sich auch körperlich unvoreingenommen, zumindest optisch, näherkommen. Denn alles andere ist schwierig. Offiziell gab es Homosexualität im kommunistischen Polen nicht und wer – durch Spitzel oder erzwungene Denunziationen – überführt wurde, hatte einiges an Repressionen zu fürchten. Zum anderen sind das immer wieder beschworene Schwimmen im See und die Leichtigkeit heißer Sommertage natürlich auch ein Symbol, in dem sich die Realität körperlicher Nähe und Ungezwungenheit auch zu einem Lebensgefühl von Schwere- und Zwanglosigkeit verdichten, die für kurze Momente Kontrolle und Selbstkontrolle vergessen lassen.  

Das Jahr 1980, in dem die beiden sich kennenlernen und ihre Liebe zu keimen beginnt, ist eine Zeit, in der Polen nicht selten in den Schlagzeilen steht: Am 16. Oktober 1978 wird mit dem Krakauer Erzbischof Karol Wojtyła der erste Nicht-Italiener seit dem 16. Jahrhundert und der erste Slawe überhaupt zum Papst gewählt, die Solidarnosc des späteren Staatspräsidenten Lech Wałęsa wird im Sommer 1980 gegründet und in Polen baut sich eine Aufbruchstimmung auf, die auch den politisch-atmosphärischen Hintergrund dieser Geschichte bildet. Um es aber gleich vorwegzunehmen: Das ist nicht die autobiographische Lebensgeschichte des Verfassers Thomas Jedrowski. Gemeinsam ist den beiden Protagonisten und dem Autor nur die sexuelle Orientierung und das Gefühl, im Leben etwas anderes als nur das Gegenwärtige zu wollen. Jedrowksi ist in Westdeutschland als Sohn polnischer Eltern geboren, studierte Jura in England und Frankreich und hat einige Jahre als Anwalt gearbeitet, bevor ihm klar geworden ist, dass sein bisheriges Leben und Arbeiten nicht dem entspricht, was er sich unter einem glückenden Leben vorstellt. Dennoch – oder gerade auch deshalb, weil dieser Roman ein Kunstwerk, eine fiktive Erzählung ist und nicht (nur eine autobiographische) Lebensdarstellung – hat dieser Text das Zeug, zum Klassiker zu werden. 

Coming-of-Age-Geschichten haben mehr denn je Konjunktur: Im Frühjahr legte Benedict Wells mit Hard Land einen Text vor, der sich im Eröffnungssatz („In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb“) den Beginn einer wiederum zu ihrer Zeit prominenten Geschichte vom Erwachsenwerden des amerikanischen Autors Charles Simmons, Salzwasser (1998), zu eigen machte („Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank“). Um die Bedeutung der politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Jedrowskis Erzählung über die Unmöglichkeit einer Liebe zu verdeutlichen, hätte der Autor auch einen solchen Eröffnungssatz wählen können, in dem sich die Konzeption der Geschichte verdichtet: „Im Jahr 1980 lernte ich Janusz kennen und die Solidarnosc wurde gegründet“.

Doch das Scheitern der im Grunde schon im Keim erstickenden, von Anfang an schon als Erinnerung nur existierenden Liebesgeschichte zwischen Ludwik und Janusz ist eben nicht nur den gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldet. Ludwik und Janusz haben auch unterschiedliche Ansichten über das polnisch-sozialistische Gesellschaftsmodell, was ein wenig an die Konstellation von David und Diego in Tomász Gutiérrez Alea schwulem Filmklassiker Erdbeer und Schokolade (1994) – vor dem Hintergrund des kubanischen Sozialismus – erinnert: Hier der durchaus aus passablen Verhältnissen stammende Ludwik mit einer ausgeprägt kritischen Haltung gegenüber der Unfreiheit im spätkommunistischen Polen, dort der aus bäuerlichen Verhältnissen stammende Janusz, der die (Bildungs-)Chancen, die das System auch Menschen aus einfachen Verhältnissen bietet, selbst erfahren hat. Die Stärke des Textes besteht mit Blick auf diese konträren Positionen sicherlich darin, dass die Erzählinstanz, der Ich-Erzähler Ludwik – obwohl einer der beiden Beteiligten – nicht erkennbar die Position des anderen desavouiert, sondern sie neben den von ihm vertretenen Überzeugungen stehenlässt.

Die Diskussion zwischen den beiden um die Vor- und Nachteile der sozialistischen Gesellschaftsordnung ist aber auch mehr als nur die Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Menschen unter den Vorzeichen einer aufkeimenden – aber verbotenen – Liebe: In ihr spiegelt sich freilich auch die ideologische, vor Familien, Liebenden und Freunden nicht halt machende Lagerbildung einer ganzen Epoche wider. Grandios und beachtlich ist der Debütroman Jedrowskis aber vor allem wegen der Präzision seiner Erzählweise. Er versteht es, eindringlich Bewusstseinsmomente zu rekonstruieren, wenn Ludwik etwa über die weitreichenden mentalen Folgen einer ersten, natürlich heimlich-versteckt und später mit Scham beladenen sexuellen Handlung mit einem Gleichgesinnten reflektiert, womit sich gleichsam die Einsicht über das Anderssein in seinem Gehirn festsetzt. 

Wichtig für die Frage nach dem kommunikativen Status des Erzählten ist, dass sich die Sätze an ein Du richten, das der Leser nach einigen Seiten als den verlorenen Janusz identifizieren kann. Was Ludwik erzählt, ist die Erinnerung an eine erste Liebe und die Vergegenwärtigung der Reichweite ihrer psychischen und letztlich auch körperlichen Bedeutung. Der interessanteste erzählerische Kunstgriff des Romans liegt in seiner Zeitstruktur. Der Ich-Erzähler Ludwik berichtet über seine Erlebnisse im kommunistischen Polen von 1980 nicht aus der Gegenwart des 21. Jahrhunderts, also einer Zeit mit einem längst untergegangenen kommunistischen Polen, sondern die Gegenwart des Erzählers – diese Passagen sind durch das Präsens des Erzählens und „heute“ gekennzeichnet – ist jene Zeit nach seiner Flucht nach Amerika, aber eben noch vor dem Ende des Ostblocks mit den Revolutionen von 1989.

Von diesen Vorgängen weiß Ludwik noch nichts, als er mit seiner aus der räumlichen und ideologischen Distanz von Amerika aus geschriebenen Erinnerungsarbeit beginnt. Was uns der Autor damit vor Augen führt, ist etwas, was mit anderen Zeitstrukturen oftmals nicht ganz so eindrücklich gelingt: Der Schmerz darüber, nicht zu wissen, wie das alles weitergeht, verleiht dem Erzählten Gewicht und Tiefe. Die Handlungen, Abschiede und verpassten Möglichkeiten – nicht nur zwischen den beiden Männern – erhalten eine fast schon erdrückende Schwere, weil Ludwiks Perspektive ja gerade noch nicht geprägt ist vom Wissen über den Untergang des kommunistischen Regimes, sondern seine psychische Verfasstheit eines Versehrten und Hoffnungslosen letztlich glaubwürdig macht.

Ludwiks Erinnerungsmonolog, dessen apostrophischer, an Janusz gerichteter Gestus gleichwohl den Dialog sucht (aber nicht finden kann), ist Bekenntnis und Therapie in einem – und dafür ist die von Jedrowski seinem Erzähler auferlegte zeitliche Perspektive entscheidend: Im Schreiben und Erzählen versucht Ludwik, sich von der Trauer über eine unmögliche Liebe zu befreien, während sich sein Heimatland Polen auf den Weg macht, sich von einem repressiven System und gesellschaftlich-politischen Zwängen zu befreien. Als Polen sich aus der Diktatur befreit, kämpft der Ich-Erzähler seinen ganz eigenen Kampf der sexuellen Befreiung und Anerkennung, der – schaut man heute nach Polen – auch 30 Jahre nach der Handlungszeit des Romans noch nicht gewonnen ist. Auch die Homosexuellen und ihre Geschichte in Polen stehen ja als Gruppe nur sinnbildlich für eine Vielzahl von Menschen, die wegen eines unfreien, erbarmungslosen und menschenverachtenden Regimes auf ein ungelebtes Leben zurückblicken müssen und denen ihre Zeit auf Erden genommen worden ist.

Titelbild

Tomasz Jedrowski: Im Wasser sind wir schwerelos.
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021.
224 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783455011173

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