Rilke Reloaded

Zu einer Neuedition der Kommentierten Werke Rainer Maria Rilkes und einem aktuellen Band zu Leben und Werk des Dichters

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rainer Maria Rilke wurde 1875 in Prag geboren. Der Dichter der Wahlheimaten lebte an vier Wohnsitzen – in Prag, im damaligen Österreich-Ungarn, in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Er führte ein rastloses Wanderleben, bereiste in den Jahren 1899 und 1900 zusammen mit Lou Andreas-Salomé Russland und heiratete 1901 die Bildhauerin Claire Westhoff. 1905/06 war er Privatsekretär Auguste Rodins in Paris, danach schlossen sich wieder Reisen und Gastaufenthalte an, unter anderem auf Schloss Duino bei Triest. Nach 1918 lebte er in der Schweiz, wo er sich 1921 in Muzot, im schweizerischen Wallis, im „Turm“ (den Rilke sein „Schloß“ nannte) in die totale Abgeschiedenheit zurückzog. Rilke ist am 29. Dezember 1926 in Val-Mont, im französischen Kanton Arnay-le-Duc, wo er sich mehrmals in einem Sanatorium aufhalten musste,an Leukämie gestorben. Über die wesentlichen Stationen seines Lebens und Schaffens gibt die Monographie von Ingeborg Schnack Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes 1875–1926, im Verlag Suhrkamp/Insel in der erweiterten Neuausgabe von 2009 und herausgegeben von Renate Scharffenberg,detailreich Auskunft.

Rainer Maria Rilke ist einer der populärsten Dichter des 20. Jahrhunderts und ein Autor von weltliterarischem Rang. Die Recherche auf der Homepage von literaturkritik.de erbringt für Bücher, in deren Titel sein Name vorkommt, allein für die Jahre 1999 bis 2018 über neunzig Titel, darunter Werkausgaben von Gedichten und Erzählungen aus dem Nachlass, neu edierte Briefausgaben, Tagebücher und Reiseberichte Rilkes, neuerdings auch Einspielungen von Lesungen populärer Schauspieler. Seither sind viele Publikationen hinzugekommen: Soviel Rilke war nie, könnte man sagen, und ein Ende ist vorerst nicht in Sicht. Durch Udo Lindenberg und Lady Gaga ist der Autor in die Pop-Kultur eingesickert, und sein Gedicht Der Panther ist das Gedicht der Stunde: Als im Frühjahr 2020 die Welt zum Stillstand kam, las die österreichische Schriftstellerin Marica Bodrožić zwei Monate lang auf ihrem Balkon jeden Abend Rilkes Gedicht, und eine an Demenz erkrankte Heimbewohnerin zitierte es wortgetreu in der ARD-Serie Die Toten von Marnow, die mit großem Erfolg im März 2021 ausgestrahlt wurde.

Seit den 1980er Jahren sind fast 4000 Forschungsbeiträge zu Rilkes Werk veröffentlicht worden, allein auf literaturkritik.de erschienen über 30 Rezensionen und vergleichende Besprechungen zu neuen Publikationen, darunter das editorische Projekt der Gesammelten Werke Rilkes in neun Bänden, die im Jahr 2000 bei Insel (Frankfurt am Main/Leipzig) mit Einführungen, aber ohne Stellenkommentare der Herausgeber der Kommentierten Ausgabe veröffentlicht worden sind. Der damalige Rezensent beklagte allerdings, dass die Prinzipien, nach denen diese „gesammelten“ Werke zusammengestellt worden waren, nirgendwo offengelegt worden seien, weshalb er eine Bewertung der Auswahl nicht riskieren wolle. Sein Fazit lautete damals:

Wer Rilke kennenlernen möchte, der findet somit in den nun vorgelegten neun Bänden zwar den für die Beschäftigung mit diesem Dichter unverzichtbaren Kanon von Texten. Die Selektion, die jeder Kanonbildung inhärent ist, wird aber nicht begründet und auch in den Nachworten der Herausgeber nicht reflektiert, vielmehr fokussieren die Nachworte durch ihre Gewichtung und Anlage noch einmal auf bestimmte Texte innerhalb der Auswahl.

Des Weiteren sind seitdem neu erschienene Biographien und viele der erst nach und nach publizierten Ausgaben von Briefwechseln besprochen worden. Das Rilke-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung (herausgegeben von Manfred Engel unter Mitarbeit von Dorothea Lauterbach (Stuttgart/Weimar: Metzlersche Verlagsbuchhandlung 2004) hingegen traf auf begeisterte Zustimmung: „Herausgekommen ist bei dieser Entreprise ein gewichtiges Zwischenresümee der Rilke-Forschung der letzten Jahrzehnte, das eine umfassende Neu-Lektüre Rilkes auf hohem Niveau liefert, aber dennoch nicht nur für Fachleute geschrieben ist“, so lautete das Fazit des damaligen Rezensenten. Hier gilt es nun, zwei der jüngsten Publikationen zu würdigen: erstens einen Literaturführer für Studium, Schule und Literaturbegeisterte – so die Verlagswerbung des Baden-Badener Tectum-Verlags – und zweitens den Nachdruck der Kommentierten Ausgabe der Werke Rainer Maria Rilkes in vier Bänden.

I

Zunächst zur Einführung in Leben und Werk des Dichters von Torsten Hoffmann, der an der Universität Stuttgart als Professor für Neuere deutsche Literatur tätig ist. Sein Buch ist in der Reihe Literatur Kompakt erschienen, die sich bisher unter anderen den Autoren Heinrich Heine, Theodor Fontane, Arthur Schnitzler, Friedrich Schiller, Friedrich Dürrenmatt, Hermann Hesse, Günter Grass, Botho Strauß und Gottfried Keller gewidmet hat, um – gemäß Verlagsprospekt – „auf visuell attraktive Weise kompakte Informationen zu zentralen Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Literatur“ zu bieten. Diesen Anspruch kann Hoffmanns Werk, das sei schon vorweggenommen, überzeugend einlösen. Hoffmann, der schon 2009 im Stuttgarter Reclam-Verlag eine Auswahl von Rainer Maria Rilkes Schriften zur Literatur und Kunst aus den Jahren 1897 bis 1919 herausgegeben, kenntnisreich kommentiert und zu einer Gesamtdarstellung der Poetik Rilkes vervollständigt hat, ist als Vizepräsident der Internationalen Rilke-Gesellschaft bestens qualifiziert. Die Einführung ist mit zahlreichen Illustrationen versehen und bietet ein lebendiges Porträt des ruhelosen, jedoch gut vernetzten Dichters:

Rilke personifiziert die enorme Ungleichzeitigkeit der Vorkriegsjahre. Einerseits führt er ein ungebundenes, modernes Leben in den europäischen Metropolen, andererseits ist er eines der letzten Beispiele für eine vom Mäzenatentum getragene Künstlerexistenz. (S. 43)

Bevor sich Hoffmann ausführlich in drei Kapiteln, die jeweils Einführungscharakter haben, den Dramen, der Prosa und – am gewichtigsten wohl – der Lyrik Rilkes widmet und damit der Verlagsreihe voll gerecht werden kann, stellt er die wesentlichen Werkaspekte in kompakter Form dar; dabei kann er den aktuellen Stand der Sekundärliteratur einbeziehen und auch gelungene Ansätze für weiterführende Werkinterpretationen liefern. Rilkes „überschwängliche“ Ich-Bezogenheit des Frühwerks, weiche, so Hoffmann, im mittleren Werk „einem sachlichen Blick auf die Dinge“, während das „hermetische Spätwerk beides“ reflektiere und kombiniere, und zitiert das Urteil des Rilke-Forschers Manfred Engel aus dem Rilke-Handbuch. Hoffmann stellt anschließend in den drei nachfolgenden Großkapiteln nachvollziehbar dar, dass zwar jede Werkphase Rilkes ihre „eigene“ Poetik hat, sich dennoch aber Konstanten durch Rilkes Schreiben ziehen. Neben der

anthropologische[n] Ästhetik, die intensive Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst sowie eine Beschäftigung mit den in Rilkes Augen wichtigsten Themen des menschlichen Daseins – der Liebe, der Transzendenz als dem Bereich, der über die sinnliche Erfahrungswelt hinausgeht, und dem Tod. (S. 55)

Hoffmann trifft klare Entscheidungen für seine Schwerpunktsetzungen, die er einführend dargelegt hat: zunächst auf das (knappe) dramatische Werk, in dem Rilke auch als „sozialkritischer Autor“ in Erscheinung getreten sei; dann natürlich auf den überwältigenden Anfangserfolg des Cornet, „ausgerechnet dieses schmale Buch [,das] schon zu Lebzeiten des Autors sein größter Bestseller werden (und bis heute bleiben) würde“ (S. 99), dann für jede Einführung unverzichtbar auf den Malte, der „wie keines seiner Werke […] Rilke nachträglich so verunsichert [hat]“ (S. 114), schließlich auch auf das 1905 veröffentlichte Stunden-Buch: „[K]ein anderes Werk hat ihm direkt nach dem Erscheinen so viel Verehrung und Verachtung eingebracht; wie kein zweites hat es das Rilke-Bild der Zeitgenossen geprägt.“ (S. 143).

In seinem Hauptteil, der das zentrale Werk der Rilke’schen Lyrik detaillierter vorstellt – das Buch der Bilder, das Stunden-Buch, die Neuen Gedichte und Der Neuen Gedichte anderer Teil, die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus – widmet sich Hoffmann den Deutungskontroversen der neueren Rilke-Forschung „zwischen Gedankenkitsch und hoher Kunst“, hier den Rilke-Forscher Wolfram Groddeck zitierend. Rilke als Verfasser fremdsprachiger Lyrik und als Übersetzer findet nur kurz Erwähnung, dagegen geht Hoffmann in einem gewichtigen Kapitel auf die für ihn bedeutendsten Briefwechsel ein, die Rilke so zahlreich geführt hat, und bietet so dem Leser angesichts der großen Zahl der mittlerweile publizierten Ausgaben eine wichtige Orientierung. Behandelt werden die sogenannten Briefe an einen jungen Dichter, die mittlerweile Kultstatus im In- und Ausland erreicht haben, die Briefe über Cézanne, nach Hoffmann „die im Blick auf Rilkes Poetik aufschlussreichste Briefsammlung“ (S. 227) – mit der sich Hoffmann auch schon in einem früheren Aufsatz auseinandergesetzt hatte –, und ebenso unverzichtbar der Briefwechsel mit Lou Andreas-Salomé, der Rilke „nahezu unbegrenzt vertraut und sie bisweilen als Deuterin und Richterin über sein Leben eingesetzt“ (S. 225) hat. Der Band schließt mit einem Kapitel zur Wirkungsgeschichte Rilkes bis in die Pop-Kultur des 21. Jahrhunderts.

In seinem abschließenden Register führt Hoffmann die auch in dieser Rezension angesprochenen wichtigsten Werkausgaben auf, nicht zuletzt die (zum Zeitpunkt der Drucklegung von Hoffmanns Buch bereits vergriffene) Kommentierte Ausgabe von 1996, aus der er im Übrigen seine zahlreichen Textbelege entnehmen kann. Weiterhin werden wesentliche Titel der reichhaltigen Primär- sowie Sekundärliteratur, die bis ans Jahr 2019 heranreichen, aufgelistet, was den Nutzen dieses kompakten Literaturführers über den privaten Bereich hinaus für Zwecke der schulischen Sekundarstufen allemal und weitergehend für universitäre Belange wesentlich erhöht. Am Ende der Lektüre von Hoffmanns Einführungsband kommt man mit ihm zu der Überzeugung, dass Rilke heute keinesfalls „passé“ sei (ein Diktum des Schriftstellers Horst Bingel aus den 60er Jahren), und so macht Hoffmann Mut zu einer vertieften Beschäftigung mit einem Werk, „das heute zu den meistgelesenen, kurz: beständigsten Texten der klassischen Moderne gehört“ (S. 18). Hoffmann schließt mit der Bemerkung: „Die außergewöhnliche Intensität von Verehrung und Verachtung ist nicht zuletzt eine Einladung, sich ein eigenes Bild zu machen, also: Rilke zu lesen.“ (S. 18)

II

Ich verstehe diese Aufforderung als Einladung und komme nun zu der neu vorgelegten Ausgabe der Werke Rainer Maria Rilkes in vier Bänden, die nun als wbg-Edition, einem Imprint der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt, erschienen ist. Der Edition liegt die Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, die 1996 bei Insel (gleichzeitig in Frankfurt am Main und Leipzig) erschienen war, zugrunde. Im Jahr 2003 war sie erneut aufgelegt worden, damals ergänzt um einen Supplementband, für den Manfred Engel und Dorothea Lauterbach verantwortlich zeichneten; Rätus Luck (gestorben 2012), der zu den Gründern der Rilke-Gesellschaft gehörte, hat die Texte Rilkes, die in der vorherigen Ausgabe nicht enthalten waren, aus dem Französischen ins Deutsche übertragen. Die Bände der Ausgabe von 2003 sind bis auf eine kleine Restauflage des Supplementbands im Buchhandel vergriffen, genauso wie die Ausgabe der Sämtlichen Werke, die vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke und besorgt durch Ernst Zinn in Frankfurt am Main 1955–1966 erschienen war und die vielen Forschungsarbeiten als Referenzausgabe bis heute zugrunde liegt; sie muss inzwischen aber als überholt gelten und ist nur noch antiquarisch oder in Bibliotheksbeständen zugänglich. Die einzige derzeit bestellbare Gesamtausgabe ist daher eine chinesische, natürlich in Übersetzung, und diesem Zustand soll durch den Nachdruck abgeholfen werden, auch wenn zwei ihrer Mitherausgeber inzwischen verstorben sind: der akademische Lehrer Manfred Engels Ulrich Fülleborn, damals Ordinarius für Neuere deutsche Literatur an der Universität Erlangen-Nürnberg und auch der Rilke-Forscher Horst Nalewski; August Stahl (geboren 1934) ist inzwischen emeritiert.

Laut Auskunft des Lektorats der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt (WBG) ist die vorliegende Ausgabe

bis heute die beste Leseausgabe von Rilkes-Werk […]. Mit der neuen Auflage möchten wir diese Ausgabe nun den Lesern und Leserinnen wieder zugänglich machen. Eine aktuelle historisch-kritische Werkausgabe liegt nicht vor. Bei unserer Ausgabe handelt es sich um eine Lizenzausgabe des Insel Verlages, der seit Langem Rilkes Erbe pflegt. Wir bieten die Ausgabe so an wie bei Insel ursprünglich als vierbändige Ausgabe erschienen (Mitteilung vom 11.3.2021).

Der Suhrkamp/Insel-Verlag schien an einer Neuauflage nicht interessiert gewesen zu sein, deshalb ist nun die WBG in diese Lücke gestoßen, und die Vereinsmitglieder der WBG haben die Herausgabe des Werks ermöglicht. Auf die Neuedition des Supplementbandes von 2003 wurde in der wbg-Edition aus nicht dokumentierten Gründen verzichtet (weder ein Vorwort noch das Mitgliedermagazin der WBG, in dem die Ausgabe wie gewohnt zu einem reduzierten Preis gegenüber der Buchhandelsausgabe beworben wird, geben darüber Auskunft). Möglicherweise waren die Rechte nicht frei oder der Verlag hat sich der verbreiteten, aber nach Meinung des Rezensenten irrigen Ansicht angeschlossen, dass die fremdsprachigen Texte Rilkes nur so etwas wie ein Stiefkind im Textkorpus darstellen. Vielleicht war man auch der Meinung, dass die Überblickskommentare zu den Zyklen und Gedichten und die Herausgebererläuterungen von Rilkes französischer Lyrik nicht das Interesse eines breiteren Leserkreises finden könnten. Der Supplementband ist allerdings im Buchhandel noch lieferbar, sogar zu einem stark reduzierten Preis, und interessierte Leserinnen und Leser können die insgesamt fast 440 Einzeltexte, also einen nicht unwesentlichen Teil des Rilke’schen Œuvres, noch kennenlernen.

Der durchaus nachvollziehbaren Intention, nicht irgendeine beliebige Auswahlausgabe zu machen, sondern Rilkes Werk „so vollständig zu präsentieren wie möglich“ (Manfred Engel in einer brieflichen Mitteilung vom 10.2.2021), hatte man schon 1996 nur nachkommen können, indem ganze Werkblöcke (zum Beispiel des Frühwerks) ausgeschieden wurden, wie zunächst auch die auf Französisch geschriebene Lyrik Rilkes. Eine durchaus von Herausgeberseite schon damals als defizitär empfundene Verlagsentscheidung, denn eine Werkausgabe soll ja – das ist die Erwartung des Lesepublikums – das literarische Werk eines Autors möglichst vollständig versammeln und dabei neben Schriften, die zu Lebzeiten des Autors veröffentlicht wurden, auch Werke berücksichtigen, die sich im Nachlass befinden, also etwa Briefe und Redemanuskripte, die zum ursprünglichen Veröffentlichungszeitpunkt nicht mehr oder noch nicht verfügbar waren. Diesem Anspruch kann im Falle der wbg-Edition also auch jetzt nicht voll entsprochen werden. Eine nach wie vor wünschenswerte historisch-kritische Ausgabe, welche die Wartezeit der am Werk Rilkes Interessierten auf eine künftige, vollständige Edition verkürzt hätte, war – wie verlautet – nicht angedacht. Bei einem solchen Projekt handelt es sich um ein personal- und kostenaufwändiges Unternehmen, das von Universitäten, Akademien oder Literaturarchiven begleitet werden muss; überlieferte Textträger (Manuskripte, Typoskripte, Drucke) müssen gesichtet und neu bewertet, Textvarianten müssen philologisch überprüft werden, zum Beispiel in Hinblick auf Schreibfehler im Manuskript oder in den Fassungen des Autors oder durch Emendationen von Druckfehlern beziehungsweise Eingriffen vorheriger Herausgeber.

Jede „Gesamtausgabe“ ist also letztlich eine Werkausgabe, nicht aber jede Werkausgabe eine Gesamtausgabe, und es ist in die Entscheidung der Käufer oder Nutzer gestellt, zu welcher der „gesammelten“, „ausgewählten“ oder „kommentierten“ Ausgaben er oder sie greifen möchte, was für private Nutzer oftmals auch eine reine Sache des Preises ist, ob sich die Anschaffung also lohnt, auch und gerade, wenn man schon zahlreiche, vielleicht sogar bibliophile Ausgaben besitzt. Oft allerdings ist auch Vorsicht geboten, weil Ausgaben, die weitergehenden wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, aus vielerlei Gründen ins Stocken geraten können, und der geplante Umfang nicht eingehalten werden kann –, etwa weil der Hauptherausgeber das Unternehmen aufgeben muss oder ein Bearbeiter ausscheidet. Der akademische Nachwuchs bekommt oft nur die Chance, schon Bekanntes neu zu edieren, was keine Karrieren verspricht; andererseits haben Editoren, sobald sie fest „im Sattel sitzen“, oft wenig Anreize, ihre Ausgaben nochmals zu überarbeiten, so dass Verlage aus Kostengründen zu der Lösung greifen, Bewährtes nachzudrucken, wie auch im Fall der jetzt wieder aufgelegten Rilke-Ausgabe; ähnlich war der Suhrkamp-Verlag auch schon bei den ab 2008 verlegten Schriften Walter Benjamins vorgegangen. Es gilt die alte Regel: Verlage verkaufen gerne Bücher, aber etwas tun sie noch viel lieber: Bücher wiederverkaufen, um Herstellungskosten zu vermeiden.

Eine kurze Bemerkung zur Ausstattung der wbg-Edition: Beim Nachdruck der Texte und der Kommentarteile hat man sich zu einer anderen Seitengestaltung entschlossen, der Satzspiegel ist größer, und die Ausgabe erscheint voluminöser, denn außer dem geänderten Layout wurde auch noch ein anderes Papier verwendet als in der ursprünglichen, jetzt vergriffenen Ausgabe. Die alte Ausgabe hatte Dünndruckpapier, war leichter und filigraner, die Neuausgabe ist dafür geschätzt um ein Drittel „dicker“! So hält man nun schwere „Klötze“ und mitsamt dem schön gestalteten Schuber ca. fünf Kilogramm in den Händen! Die Bände haben jeweils nur ein Lesebändchen, wo man doch gerne Texte und Kommentare parallel lesen möchte. Das passt nicht zur insgesamt wertigen, gediegenen Ausstattung; der Verlag hätte die Bände besser teilen sollen, so dass man cum grano salis zwar jeweils mit zwei Exemplaren hantieren müsste – aber schon so bräuchte es die Hände eines Riesen.

Die Kommentierte Werkausgabe hatte seit ihrem Erscheinen eine nicht geringe Wertschätzung erfahren, wie auch Torsten Hoffmann bekennt:

So wie Ernst Zinns Werkausgabe in den fünfziger Jahren die Rilke-Philologie befeuert hat, gehen das Erscheinen der kommentierten Werkausgabe von 1996 sowie des Rilke-Handbuches von 2004 mit einer markanten Expansion der Rilke-Forschung einher, die bis heute anhält. (Hoffmann, Rainer Maria Rilke, S. 248).

Es wäre also zu wünschen, dass die Neuauflage des Jahres 2021 eine ähnliche Wirkung entfalten kann, obwohl mittlerweile viele der Werke Rilkes in neuen Einzelausgaben oder in günstigeren Sammelausgaben erschienen sind. Vorweg eine Bemerkung zu den Herausgebern: Manfred Engel und Ulrich Fülleborn haben den ersten Band (Gedichte 1895 bis 1910) und den zweiten Band (Gedichte 1910 bis 1926) betreut, August Stahl den dritten Band (Erzählungen und Dramen sowie Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge), Horst Nalewski zeichnete für den vierten Band verantwortlich (Schriften zur Literatur und Kunst). Engel (geboren 1953), wurde 1986 über Rilkes Duineser Elegien promoviert und war bis 2019 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes; er hat unter anderem. 2004 das Rilke-Handbuch herausgegeben. Stahl (geboren 1934), inzwischen Professor em. für Literaturwissenschaft der Universität Saarbrücken, hat seit 1967 maßgeblich über Rilke gearbeitet. Fülleborn (1920–2012) war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1988 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und lange Jahre Vorstandsmitglied der Rilke-Gesellschaft, und Nalewski (1931–2020) lehrte bis zu seiner Emeritierung 1994 an der Universität Leipzig als Professor für Poetik und Vergleichende Literaturwissenschaft; er wurde 1963 über Rilke promoviert und hat – noch im Leipziger Insel-Verlag – eine dreibändige Rilke-Werkausgabe veröffentlicht, daneben einen Band über Rainer Maria Rilke in seiner Zeit sowie eine zweibändige Briefedition; später hat er die viel beachtete Monographie Rilke. Leben, Werk und Zeit in Texten und Bildern auch in der Bundesrepublik herausgegeben.

Das Edieren gehört zumeist nicht zu den spektakulärsten Tätigkeiten, und die Herausgeber müssen darauf vertrauen, dass ihre Arbeit möglichst lange Früchte trägt und Leserinnen wie Lesern eine zuverlässige Lektüre gewährt. Eine gewisse Beeinträchtigung ergibt sich aus heutiger Sicht daraus, dass sich der Textkorpus natürlich auf dem Stand von 1996 befindet und schon damals weniger umfangreich war als die Sämtlichen Werke der Zinn-Ausgabe, auf dessen Textkorpus man sich aber aus vielerlei Gründen berufen hat und die nach Auskunft der Herausgeber nicht ersetzt, sondern ergänzt werden sollte. Es war das Ziel, eine Werkausgabe für eine Leserschaft herauszugeben, der Dichter wie Rilke nicht mehr „als unverwechselbar Einzelne in den von ihnen selbst autorisierten Ausgaben allgemein präsent“ sind und „anders gelesen“ werden, „als wenn sie bereits in die Hände der Philologen gefallen sind“, so einleitend im Kommentar zu Band 1 auf Seite 589. Bei den Kürzungen und Einsparungen gegenüber der Zinn’schen Ausgabe, die bis zu 40 Prozent betragen dürften, hat man sich möglicherweise schon damals dem verlegerischen „Rotstift“ beugen müssen. Daraus ergeben sich freilich Disproportionalitäten innerhalb des gebotenen Textkorpus, aber zugunsten der jeweiligen Kommentarteile. Positiv ist nach wie vor, dass man als Leser einen Überblick über das Werkganze bekommt, ergänzt durch die vorzüglichen und detaillierten Kommentare von sachkundigen Rilke-Forschern. Zu beachten sind einige weitere Besonderheiten der Edition, bei der man sich einer Anordnung der Texte in chronologischer Abfolge verpflichtet fühlte: Man wollte „gleichartig Entstandenes in seiner Wechselwirkung“ (S. 607) präsentieren, das gilt besonders für die Gedichte. Aber auch hier musste man zu Lösungen greifen, um „die von Rilke geschaffenen Werkeinheiten zu bewahren“ (ebd.). Insgesamt hat man sich aber an die in der Rilke-Forschung üblicherweise unterschiedenen vier Werkphasen gehalten. Dazu gibt es zunächst jeweils Überblickskommentare, anschließend werden zu jedem Text Ausschnitte der jeweiligen Selbstaussagen des Dichters abgedruckt und kompakte, literaturwissenschaftliche Deutungsaspekte gegeben. Genannt werden Zeit und Ort der Entstehung sowie Angaben der Erstdrucke und die für diese Ausgabe gültigen Textzeugen. Werkregister und Querverweise ermöglichen eine Orientierung über die gesamte Ausgabe. Rilkes Briefe über den Maler Paul Cézanne werden dem Schriften-Band zugeschlagen, eine sicherlich auch heute noch begründbare Entscheidung, da die Briefe mit zu den „Scheitelpunkten“ (Band 4, S. 795) des Œuvres gehören. Zu Rilkes immenser Briefproduktion wird bis heute geforscht (siehe dazu Hoffmann: Rainer Maria Rilke, S. 227ff.), und beispielsweise die Briefe an einen jungen Dichter sind gerade in einer neuen, ergänzten Edition von Erich Unglaub, dem Präsidenten der internationalen Rilke-Gesellschaft, im Göttinger Wallstein-Verlag erschienen.

In der wbg-Edition fehlen – neben der französischen Lyrik – nach wie vor das zumindest quantitativ wichtige Frühwerk, so die Texte der von Rilke herausgegebenen Zeitschrift Wegwarten und aus den frühen Gedichtbänden Traumgekrönt und Advent, weiterhin der Kleinstzyklus Christus-Visionen und die einhundert Lou Andreas-Salomé gewidmeten Gedichte Dir zur Feier; Band 1 bietet jedoch die Gegentexte der Sammlung Mir zur Feier. Von den Prosatexten – der Begriff ist hier sehr weit zu fassen – wird ein für die Beschäftigung mit Rilke unverzichtbarer Textkanon geboten, jedoch fallen die Kommentare zu den meisten der Erzählungen, die bis 1996 unveröffentlicht waren, spärlich aus.

Die Entscheidung, eine Ausgabe in zeitlicher Folge der Texte zu veranstalten, wird durch das Festhalten an Gattungsaspekten und die Aufteilung der Bände durchbrochen; allerdings macht der Kommentar deutlich, dass Rilke als Vertreter einer wie auch immer zu definierenden Moderne kein Verfechter überkommener Gattungsnormen war. Dies illustriert schon seine Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, in Prosa abgefasst, aber zur Lyrik tendierend. Die Erstfassung dieses Werks, das sich bis heute zum Kultbuch entwickelt hat, entstand 1899, verschwand danach in der Dichterschublade und wurde erst 1904 in einer Prager Kulturzeitschrift veröffentlicht; dann noch einmal 1906 als limitierte Liebhaberausgabe und zuletzt in einer letzten Fassung im Jahr 1912 herausgegeben, als erste Nummer der Inselbücherei, die selbst einen Kultstatus erreicht hat.

Im Abschnitt „Dramen“ werden von den zwölf Stücken, die Rilke verfasst hat, drei ausgewählt (Im Frühfrost, die Szene Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens … sowie Das tägliche Leben, ein Stück in zwei Szenen); die Herausgeber haben sich für diese Auswahl entschieden, weil es diejenigen Stücke der dramatischen Produktion Rilkes waren, die tatsächlich aufgeführt wurden und deshalb die meiste Berücksichtigung in der Forschung gefunden haben; ihnen werden im Kommentar allerdings nur sechs Seiten eingeräumt. Außerdem ist im ersten Band, wo neben der Lyrik grundsätzlich alle prosalyrischen Texte des Werkes aufgenommen wurden, das ausgesprochen lyrische Drama Weiße Fürstin enthalten.

Insgesamt gesehen ist dieser Nachdruck zu begrüßen, da vielfältige Perspektiven eröffnet werden, um das Werk Rilkes neu zu entdecken. Darüber hinaus ist erwähnenswert, dass die Nachworte der ersten beiden Bände mit 971 plus 1035 Seiten mehr als die Hälfte des Umfangs der Kommentarteile ausmachen, in den anderen Bänden sind die Verhältnisse ähnlich. Hier liegen die eindeutigen Stärken dieser Ausgabe, weil sie neben Deutungsaspekten und Interpretationen auch die Schwierigkeiten einer Kommentierung mitbedenkt. Die angegebene Sekundärliteratur, die auf einem Kenntnisstand beruht, der bis an die Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts heranreicht, demonstriert allerdings die Kurzlebigkeit jeder nicht aktualisierten Ausgabe, so dass die Leserin oder der Leser der wbg-Edition ein – in dieser Hinsicht – aktuelleres Werk wie etwa dasjenige Hoffmanns, das trotz seines vergleichsweise geringen Umfangs eine hohe Informationsdichte aufweist, also unbedingt zur Hand haben sollte, um wenigstens diesen Mangel zum Teil ausgleichen zu können, denn auch das immer noch sehr hilfreiche Rilke-Handbuch, demeine teilweise Neubearbeitung zu wünschen wäre, bildet nur den Stand von 2003 ab.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Torsten Hoffmann: Rainer Maria Rilke.
Tectum Verlag, Marburg 2021.
303 Seiten , 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783828844490

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Titelbild

Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden.
Hg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stah.
wbg Theiss, Darmstadt 2021.
4206 Seiten, 250 EUR.
ISBN-13: 9783534273256

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