Nur eine unbedeutende Person

In seinem Roman „W.“ erzählt Steve Sem-Sandberg das Leben von Johann Christian Woyzeck nach

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Georg Büchners Woyzeck-Drama blieb unvollendet. Dennoch hat diese Tragödie des armen Mannes bis heute kaum an Faszination eingebüßt. Was Büchner in kurzen dramatischen Szenen kondensierte, faltet der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg in seinem Roman mit akribischem Detailreichtum aus. W. fokussiert ganz auf die Personalie von Johann Christian Woyzeck, der 1780 in Leipzig geboren und 44 Jahre später daselbst hingerichtet wurde. Am 21. Juni 1821 hatte er die Geliebte Johanna Christiane Woost, die Witwe eines Chirurgen, mit einer abgebrochenen Degenklinge erstochen – ohne dass er danach genau zu sagen gewusst hätte, weshalb er dies getan hatte.

Woyzeck wurde unmittelbar nach der Tat arretiert. Es folgten Verhöre und eine gerichtsärztliche Untersuchung durch den Hofrat Clarus, der die Zurechnungsfähigkeit Woyzecks bestätigte. Clarus erkannte „keine Spur krankhafter Exaltiertheit, gefühlsmäßiger Verarmung oder begrifflicher Verwirrung“. Er hielt vielmehr fest, dass der Untersuchte „von Natur aus gelehrig und vom Verstand her vollkommen fähig ist, besseres Wissen zu erfassen“. Damit erkannte er ungeschminkt und frei von Empathie die tiefere Tragik dieser nur „unbedeutenden Person“, als was sich Woyzeck selbst einmal bezeichnet. 

Die zahlreichen Dokumente, die sich im Laufe der Untersuchung ansammelten, sind heute alle öffentlich zugänglich. Steve Sem-Sandberg, der gerne gut dokumentierte Stoffe aufgreift, stützt sich darauf ab, um in seinem Roman die Grenzen zwischen Dokument und Fiktion, Realität und dichterischer Hinzufügung fließend zu gestalten. Ausgehend vom tragischen Mord rekapituliert er das Leben Woyzecks, dem, bei allen guten Anlagen, die ihm der Hofrat Clarus attestierte, nie eine Chance zuteil wurde. Früh schon Vollwaise machte er eine Lehre als Perückenmacher, die aber nichts taugte. Danach fand Woyzeck nie ein rechtes Auskommen, er lebte von Gelegenheitsarbeiten als schlecht bezahltes Faktotum, ohne Heimstadt und oft auch ohne Bett. Er war einsam, verliebte sich unglücklich in Frauen, trank oft zu viel und ließ hin und wieder etwas mitgehen. 

Schließlich tat er, was viele wie er taten: Er ließ sich als Soldat anwerben und geriet in die napoleonischen Kriege. Es begann mit der Belagerung von Stralsund und endete im russischen Winter, aus dem er als einer der wenigen glückhaft zurückkehrte. Doch wer sollte ihm dies glauben. Ihm wurde dafür nie ein Zeugnis ausgestellt, deshalb galt er als einer, der wohl „desertiert, gestürmt und feige echappiert“ war. Wieder zurück in seiner Heimat, suchte Woyzeck neuerlich seine alte Bekanntschaft, die Chirurgenwitwe Woost, auf. Irgendwie mochte sie ihn, der mal aufbrausend war, dann wieder feine Hände bewies und gut mit Holz und Papier umgehen konnte. Nur die Engel, Geister, Dämonen, die Woyzeck sah, ängstigten sie. Es waren wirre Schimären aus dem Krieg. Er hatte zu viel mit angesehen.

Woyzeck lebte, so Doktor Heinroth in seinem Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens von 1818, ein „verkehrtes Leben“, das Grund sei für das „Bersten von Hirn und Blutgefäßen“ und folglich der „moralischen Verwilderung“. Diese Diagnose klingt einleuchtend, doch damit ist nichts gewonnen. Entsprechend schildert Sem-Sandberg Woyzeck als gänzlich einsamen Menschen. „Ich wage es nicht mehr, mich auf jemanden oder etwas zu verlassen“, sagte er gegenüber dem Gefängnispastor: „Das macht der Krieg. Er verdreht selbst dem vernünftigen Kerl den Kopf.“ Und dann erinnert er sich an die Ermordung eines Geistlichen im Krieg und stellt die Theodizeefrage (ohne recht zu wissen, was er tut): „Pastor, wo war da Gottes beschützende Hand?“ Wie kann es nur sein, dass in einer guten Schöpfung derlei geschehen könne? Woyzeck war nicht auf den Kopf gefallen, er hatte bloß früh gelernt, sich beiseite zu halten, wenn er nicht verhöhnt werden wollte. So begann, wie es der Erzähler beschreibt, „was ihn für den Rest seines Lebens zum Gespött machen wird. Das Herumgeschleiche. Das Beäugen von Menschen und Dingen aus der Ferne.“

Für sein Drama hat sich Büchner auch auf andere Kriminalfälle der damaligen Zeit gestützt, weshalb er seinem Helden einen anderen Namen verlieh: Franz Woyzeck. Demgegenüber konzentriert sich W. ganz auf die Figur des Perückenmachers Johann Christian Woyzeck und erzählt an seinem Exempel die traurige Geschichte von einem, der kein böser Mensch ist, dem es nur an Gelegenheit fehlt, sich im Leben zu beweisen. „Er ist ein guter Mann, Woyzeck“, wird ihm zweimal beschieden. Dennoch erdolchte er eine Frau, die er „über alles auf der Welt liebte“.

Steve Sem-Sandberg legt ein langsames Buch vor, das behutsam und detailliert in die Tiefe von Woyzecks geschundener Seele bohrt. Er urteilt oder verurteilt ebenso wenig wie er Woyzeck einfach freispricht, vielmehr erzählt er, wie verworren das eine mit dem anderen zusammenhängt. Im Gegensatz zum Hofrat Clarus, der alles mit moralischer Schärfe in eine kausale Abfolge bringen wollte, ist Sem-Sandberg seinem Helden mit zurückhaltender Empathie gewogen. „Wie erzählt man von einem Leben“, fragt der Erzähler, das „nie in nur einer Richtung verlaufen“ ist. Was lässt sich darüber wissen, und was ist das überhaupt für ein Mensch, dieser Woyzeck? Einmal schreibt er auch: „So trägt er das Licht in sich statt außen.“ Es sei wie mit einem Eimer Wasser: „Nie trägt man ja das Wasser selbst, nur den Eimer“, in steter Furcht, etwas vom Wasser zu verschütten.

Auch sprachlich bleibt Sem-Sandberg bei einer diskret historisierenden Schreibweise, nahe an den Quellen, die den Fall Woyzeck dokumentieren. Er tut dies zurückhaltend, ohne zu imitieren. Sein Blick verrät psychologisches Wissen, seine Diagnose aber bleibt stets historisch begründet. Die Übersetzerin Gisela Kosubek hat für all das eine wunderbare deutsche Entsprechung gefunden, die gänzlich vergessen macht, dass hier ein schwedischer Autor aus deutschen Archivquellen erzählt.

„Wir Armen“, sagt die Witwe Woost einmal. Darum geht es hier. Sem-Sandberg erzählt ein historisches Drama, das einen Nachhall in der Gegenwart findet. Wie halten wir es mit Menschen, die sich fortlaufend verdrücken, als Sans-Papiers herumschleichen, die aller Qualifikationen zum Trotz nur niedere Dienste angeboten bekommen? Solche Fragen blitzen hier laufend auf. Im Falle von Woyzeck mögen geistige Zerrüttung und Geisterhören mit im Spiel gewesen sein, doch darum geht es nicht. Woyzeck ist einer, dem schon bei der Geburt das Werkzeug aus der Hand genommen wurde, mit dem er Schmied seines eigenen Glücks hätte werden können – wie der Hofrat Clarus nicht müde wurde zu betonen. Woyzeck lebt das Schicksal eines Armen, der nie aus der Heerschar jener herausgefunden hat, die gerade noch zum soldatischen Kanonenfutter taugen. Er gehört zu den täglich Gedemütigten, von denen Gutmütigkeit und Gottergebenheit verlangt wird – und wehe, sie werden zwischendurch einmal böse. Wer möchte es Woyzeck verargen, dass er verzweifelt ist und sich manchmal zu drohenden Worten hinreißen lässt. Es hilft ihm am Ende nichts, weder als Ausrede noch um das Geschehen, den Mord an der Witwe Woost, ungeschehen zu machen. Musste es deshalb so kommen?

Die eigentliche Tragödie liegt darin, dass auch sein Opfer ein ähnliches Schicksal im Leben teilte. Die Armen tragen die Not unter sich aus. Woyzeck spürt, dass alles aus der Ordnung fällt, und denkt, „von all dem Seltsamen, was geschieht, sollte jemand Zeugnis ablegen“.

„Woyzeck ist die offene Wunde“, sagte Heiner Müller in seiner Dankesrede zum Büchnerpreis 1985, mit Blick auf Büchners Drama. Die schlecht verheilte Narbe öffnet Steve Sem-Sandberg mit diesem Buch von Neuem auf eine sehr bedächtige und zurückhaltende, gerade deshalb eindrückliche Weise. W. bildet einen Gegenentwurf zu Büchners „geschundenem Text“ (so Heiner Müller) und ist zugleich wie dieses ein Dokument der Menschlichkeit. Der Held Woyzeck erscheint darin als der unbedeutendste Mensch. Sein Wahn fällt mit dem Wahn der Welt zusammen und seine Frage hallt darin lange nach: „Ist dieser grenzenlose, ständig andauernde Unverstand die grundlegende Ordnung der Welt?“

Titelbild

Steve Sem-Sandberg: W.
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021.
416 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783608981193

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch