Der Janus der Familie

In der romanhaften Chronik „Der Dritte“ folgt Walter Laufenberg den Spuren seiner Vorfahren

Von Andreas UrbanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Urban

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Dinge, die entscheiden sich mit einem simplen Münzwurf. In anderen Fällen ist das nicht ganz so einfach. Das gilt in mehrfacher Hinsicht für Der Dritte, die Familienchronik und Autobiografie von Walter Laufenberg.

Laufenberg kam in den 1930er Jahren als drittes Kind einer rheinländischen Familie auf die Welt. Und schon seine Zeugung war – so schildert er es am Anfang seines Buches – nichts für schwache Nerven. Besser gesagt: nichts für ordnungsliebende Gemüter. Denn der Vollzug der ehelichen Pflicht hatte in den Augen der Beteiligten bitte ordentlich über die Bühne zu gehen. Also mit Verhütung und ohne erneute Schwangerschaft. Doch das ging gründlich daneben und Walter Laufenberg erblickte das Licht der Welt. Als Dilemma seiner Familie macht Laufenberg in Der Dritte den kleinbürgerlichen Sinn für Ordnung aus, der zum Leitmotiv des Buches wird. Eine Ordnung, die sich in der Familie allzu häufig aufgrund von äußeren Nöten ins Gegenteil verkehrte. Mit dem Leitspruch dieses Buches, dass „nur die Unordnung […] genuin menschlich“ sei, gibt sich Laufenberg als deutlich entspannterer Zeitgenosse zu erkennen.

Bereits im Falle seines Vaters Jakob Laufenberg erwies sich ein Verstoß gegen die herrschende Ordnung als lebenserhaltende Maßnahme. Als dieser in den 1930er Jahren auf der Karriereleiter nach oben klettern wollte, verlangten die Nationalsozialisten einen Ahnenpass, der das Fehlen jüdischer Wurzeln nachwies. Nun ging dessen Mutter Maria jedoch aus einer außerehelichen Affäre mit einem jüdischen Mann hervor (ein ganz eigener Verstoß gegen die kleinbürgerliche Ordnungsliebe). Erst durch die Manipulation des Passes, die den Fehltritt seiner Großmutter unter den Tisch fallen lässt, ist die Familienexistenz gesichert. Das satirische Potential eines solches Ariernachweises hat übrigens der Schriftsteller Walter Mehring schon zur Nazi-Zeit wie kein Zweiter ausgeschöpft. Die humorvolle Höhe von Mehrings Roman Müller. Chronik einer deutschen Sippe (1935) erreicht die Episode in Der Dritte nicht ganz. Das Buch hat aber auch anderes im Sinn.

Die Familienchronik von Laufenberg ist numerisch nicht strukturiert, lässt sich aber in drei große Erzählpartien plus Finale gliedern. Im ersten Abschnitt geht der Schriftsteller rund 100 Jahre in der Geschichte zurück und beginnt bei seinen Ururgroßeltern Johann Wagner und Anna, geb. Ditlinger. Dabei zeigt sich der Autor als souveräner Erzähler historischer Begebenheiten: Die kurzen Szenen folgen rasch aufeinander. Er taucht in die Arbeiterwelt im ärmlichen Saarland ein und wandert schließlich mit seiner Urgroßmutter Elisabeth auf deren Suche nach Arbeit weiter nach Paris. Hier heiratet sie zu Zeiten der Haussmannisierung den deutschstämmigen Nikolaus Eker und leistet sich die besagte Affäre, aus der Laufenbergs Großmutter Maria hervorgeht. Die historischen Veränderungen, die prächtige Stadtentfaltung von Paris – all dies geht an der Familie vorüber. Kommt die Rede auf den Fortschritt, beschränkt sich das auf die Eisenbahn, bei der zu arbeiten Familientradition wird.

Die erste Erzählpartie dient vor allem der Schilderung des Arbeitermilieus, den sozialrealistischen Beschreibungen der „kleinen Leute mit ihren großen Problemen“. Da bleibt kein Blick für historische Momente oder ästhetischen Feinsinn. Als die Urgroßeltern weiterziehen, diesmal ins rheinische Köln, heuert Nikolaus bei der Dombauhütte an. Der entsprechende Kommentar ‚von unten‘ für den langen Dornröschenschlaf der gotischen Kathedrale – im Mittelalter begonnen, dann zunächst nicht weitergebaut – kommt von Elisabeth: „Schon immer hatten die Leute alle Hände voll zu tun mit ihrem alltäglichen Kram. Deshalb blieb der Cölner Dom dreihundert Jahre lang so halbfertig stehen.“

Den mittleren Block von Der Dritte bildet die Geschichte der Eltern Jakob Laufenberg und Agnes, geb. Neef. Hierfür variiert Laufenberg seinen Erzählstil. Die Erzählerstimme Laufenbergs tritt in den Hintergrund, das Buch gewährt Einblicke in die Briefe des Vaters, geheime Zeugnisse aus der Zeit des 1. Weltkrieges. Diese einzubauen ist clever. Durch den zeitlichen Rückgriff zeigt sich der Vater von einer ganz anderen Seite als bei seiner Einführung.

Anschließend kommt die Mutter zu Wort, und zwar in Dialogen mit dem Sohn Walter. Deren Form, einem Theatertext ähnlich den Namen vor die direkte Rede setzend, wendet Laufenberg im gesamten Buch an – mit hohem Reiz. Das ist überall dort pointiert, wo es sich um kurze Dialoge handelt. Im Interview mit der Mutter jedoch entstehen deutlich Längen. Die klassische Strategie des mündlichen Erzählens nimmt zu viel Raum ein. Immerhin: Die Genrebezeichnung in der dritten Person „Seine […] Biografie“ ist an keiner Stelle des Buches so wörtlich zu verstehen wie hier.

Der dritte Abschnitt erzählt von der Zeit nach der Geburt des Autors. Hier tritt Laufenberg selbst auf – doch nicht als reiner Berichterstatter, als der er sich selbst ankündigt. Denn auch Laufenberg erzählt von Episoden, die er nicht selbst erlebt hat. Leider fällt dieser Teil des Buches deutlich ab: Die Spannungstechniken sind brüchiger und verleihen dem Erzählkonstrukt nur wenig Stabilität. Vieles plätschert dahin. Laufenberg erzählt, wie sie sich als Kinder zur Zeit des 2. Weltkriegs als Soldaten verkleideten und den Krieg der Väter nachspielten. Fernab des wirklichen Krieges erlebten sie zahlreiche idyllische Momente. Der Vater trug zwar eine SA-Uniform, das wird aber am Ende als Mitläufertum abgetan. Das hat man schon in anderen Erinnerungen an die Kindheit in der NS-Zeit gelesen. Und dass im Übrigen das Ziel zu schreiben in der Biografie eines Schriftstellers überhaupt nicht vorkommt – stattdessen aber der Wunsch, einen Fotoapparat besitzen zu wollen, ohne dass die Biografie einen Bezug zum Visuellen hergestellt hätte – irritiert.

Nach den drei Teilen folgt der – erzählerisch recht überraschende – Schlussakkord. Anlässlich der Goldenen Hochzeit von Laufenbergs Eltern in den 1980er Jahren kommt es zu einem Familientreffen und der Autor streut etwas Pathos als Pulsbeschleuniger in den Text. Tempo und Intensität werden nicht zuletzt durch die neu eingeführte Du-Perspektive erhöht. Das wirkt so, wie es klingt, nämlich etwas gekünstelt. Besser liest sich die Sammlung von inneren Monologen der anwesenden Familienmitglieder. Ein ganzes Konzert von Stimmen, das erzähltechnisch und formal vielleicht sogar die spannendste Partie des gesamten Buches ist. Inhaltlich begibt sich der Autor erneut auf eine tiefe Ebene: Alle Familienmitglieder haben ihre kleinen, prosaischen, zum Teil boshaften Alltagsgedanken. Das wirkt wie am Reißbrett entworfen. Zu gewollt wird der Laufenberg‘sche Sozialrealismus in Psychologie gegossen. Das letzte Wort hat niemand Geringeres als die Nähmaschine der Mutter.

Deutlich wird: Die Erzählweise des Buches ist nicht so vollkommen gegen den Strich gebürstet und achronologisch, wie es der Klappentext ein wenig vollmundig ankündigt. Der Dritte ist grundsätzlich chronologisch erzählt von 1840 bis in die 1980er Jahre. Es gibt zwar Rückblenden, Vorgriffe und erzählerische Schachzüge. Das aber gehört ins gängige Repertoire. Damit rückt die Biografie Der Dritte in die Nähe des Romans, löst aber keinen Avantgardeanspruch ein. So tritt das Buch ein wenig auf der Stelle. Nicht Fisch, nicht Fleisch – ein Zwiespalt, der direkt mit der Erzählweise verkettet ist. In Der Dritte wird Laufenberg zum zweigesichtigen Erzähler, der – vom Punkt seiner Geburt an gerechnet – wie der römische Gott Janus in die Vergangenheit und in die Zukunft schaut. Damit wäre auch eine Erklärung für den Titel gefunden, der sich in zwei Hälften spaltet: In die „pränatale Biografie“ einerseits, die Geschichte der Vorfahren ab 1840, und in „et cetera pp“ andererseits, die Zeit ab Laufenbergs Geburt bis in die 1980er Jahre. Doch was hier auf unglückliche Weise doppelgesichtig ist und aus dem Ruder zu laufen droht, ist vor allem der Erzählton.

Es gibt mehrfach Sentenzen, die sich auf der Grenze zwischen feinem Wortwitz und peinlichem Kalenderspruch befinden. Sätze, die so wirken, als hätten sie mehr sein können – oder so aussehen, als hätte es noch schlimmer kommen können. Als sein Vater seine spätere Frau kennenlernt und sich Klarheit über seine Gefühle verschaffen möchte, starrte er in ein „Dunkel […], das ihm keine Erleuchtung bieten wollte.“ Wie ein erbauliches Sprüchlein wirkt der Satz: „Wir altern mit dem Kalender um die Wette, dabei sind wir dazu verdammt, diesen Wettkampf zu verlieren.“ Oder ein Wortspiel, das eher befremdet als amüsiert: „Deshalb war man sich bald darüber einig, dass ich einmal Heizer werde. Das war mehr als ein heißer Tipp, denn Eisenbahn stand damals noch für Karriere.“ Bereits Laufenbergs Mutter war es „auf den Wecker gegangen“, wenn sich der Vater durch die Gegend kalauerte. Dass der Autor den Wortwitz vom Vater sowie die Lust am Fabulieren von der Mutter hat und ihnen mit Der Dritte eine stille Reverenz erweist, entschuldigt das nur zum Teil.

Es gibt weitere Feinheiten, die dem Buch etwas Janusköpfiges verleihen – und das ist das unglücklich geratene Lektorat. „Jakob, der ließ es sich nicht nehmen, Abend für Abend als letztes vor dem Schlafengehen das Nachtlied […] zu singen“ ist da zu lesen, wo es doch „als Letztes“ heißen müsste. Mit einem „gewöhnt“ muss man an einer Stelle rechnen, wo „gewohnt“ stehen müsste. „Es war soweit, der Zug meiner Bankgenossen kam zuerst.“ Hier wäre „so weit“ richtig. Schlimmer ist es bei „soviel“, das sich durch das ganze Buch zieht, zum Beispiel mit: „Denn da war noch soviel zu erledigen.“ Da es auch hier nicht um die Konjunktion geht, müsste es „so viel“ heißen. Alles nur Erbsenzählerei?

Wenn der Ich-Erzähler schreibt: „Ich fand das Lied ganz toll, es aber auch schade, dass ich keine Schwester hatte“, wünscht man sich schon ein weiteres „fand“ vor dem „es“. „Am 1. September des Jahres 1936 wurde ich besonders intensiv gehätschelt, weil ich ein Jahr alt wurde. Daran kann ich mich natürlich nicht erinnern, deshalb nehme ich das einfach mal als sicher an.“ Klingt logisch und ist lakonisch geschildert, kollidiert aber mit der großen Eingangsszene seiner Zeugung. Dort hieß es noch: „Woher ich das so genau weiß? – Ich war doch als Samen dabei.“ Hat ein Spermium ein besseres Wahrnehmungsvermögen als ein einjähriges Kind? Das hätte geglättet werden dürfen. Oder auch die Stelle, an der Laufenberg auf sein erstes Kapitel verweist – dabei ist das Buch gar nicht in Kapitel eingeteilt.

Ähnlich sieht es mit Wiederholungen bereits geschilderter Szenen aus. Darüber stolpert man im gesamten Buch. Nur nicht immer sind sie so eindeutig Teil der Erzähltechnik, wie es zum Ende hin beim inneren Monolog der Mutter einmal der Fall ist und als Intensitätssteigerung funktioniert. Und wo man sich wiederum eine Wiederholung wünscht, ist schnell Schicht im Schacht. So geht es gelegentlich mit den Namen von Vorfahren. Die werden nur einmal erwähnt und verschwinden sofort wieder aus der Geschichte. Die Frage, in welche Richtung der Erzählgestus weisen möchte, bleibt an solchen Stellen unbeantwortet. So entsteht der Eindruck, einen Text vor sich zu haben, der zwei Gesichter zeigt.

Der Dritte ist in vielen Teilen ein gut komponiertes und unterhaltsam geschriebenes Buch. Laufenberg beherrscht sein Handwerk. Dass jedoch lückenlos ein Rad ins andere griffe, lässt sich nicht behaupten. So hat das Janusköpfige der Erzählanlage leider auf das Buch abgefärbt. Kein eindeutiger Münzwurf. Eher zwei Seiten einer Medaille.

Titelbild

Walter Laufenberg: Der Dritte. Seine pränatale Biografie et cetera pp.
SALON LiteraturVERLAG, München 2021.
320 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783947404292

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