Zivilisationsmodell 3.0

Parag Khanna untersucht in „Move“ ein gegenwärtiges wie zukünftiges Zeitalter der Migration

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach Angaben des UN-Flüchtlingswerks lag 2020 die Zahl der Flüchtenden weltweit bei 82,4 Millionen Menschen und ist im neunten Jahr in Folge erneut angestiegen. Insbesondere der Anteil der Binnenvertriebenen sei deutlich gewachsen. Insofern scheint Move von Parag Khanna aktueller denn je zu sein.

Der indisch-amerikanische Politikwissenschaftler und studierte „Humangeograph“, der zeitweilig in Deutschland die Schule besuchte und u. a. auch in Saudi-Arabien lebte, ist spätestens seit er das „asiatische Zeitalter“ bzw. „unsere asiatische Zukunft“ ausgerufen hat, durchaus kontrovers in aller intellektueller Munde (vgl. The Future is Asian. Global Order in the 21st Century. New York 2019). Als ein mögliches Modell der Zukunft in Hinblick auf das globale Zusammenleben der Menschen betrachtet er u. a. seine heutige Wahlheimat Singapur.

In seinem neuen Werk Move geht der Autor nun der Frage nach, inwieweit sich die Wanderungs- und Migrationsbewegungen in Zukunft auf die conditio humana auswirken werden, und umgekehrt, welche Möglichkeiten der menschlichen Spezies bleiben, um auf diese Entwicklungen zu reagieren. Seine Position bezeichnet er selbst als „kosmopolitischen Utilitarismus“. Khanna vertritt die Überzeugung, dass die Menschheit aufgrund klimatischer Veränderungen gezwungen sein wird, sich auf der Erde neu zu verteilen, denn „Gebiete, die bislang von der Natur bevorzugt wurden, drohen unbewohnbar zu werden; alte Industrieregionen, die Millionen von Menschen angezogen haben, werden veröden, neue Zentren entstehen.“ Die Migrationsbewegungen werden seiner Auffassung nach „ins Landesinnere, in größere Höhen und nordwärts“ gehen.

Dabei verbindet der Verfasser mit bestimmten gesellschaftlichen Gruppen wie den Millennials (Generation Y) oder der Generation Z trotz „unbegrenzter Meinungsfreiheit bei eingeschränkter Handlungsfreiheit“ besondere Hoffnungen, weil diese ihr Leben schon jetzt größtenteils jenseits von Sesshaftigkeit, Wohlstandswahrung im Sinne von Eigenheimerwerb u. ä. oder (Universitäts-)Abschlüssen planten. Stattdessen setzten sie auf Bewegung, soziales Engagement und praktische Kompetenzen, in einem solchen Ausmaß, dass beispielsweise ein Apple-Praktikum in Zukunft wichtiger als ein Harvard-Abschluss sein werde. Insofern müssten zugleich Qualifizierungsmaßnahmen neu gedacht werden, wie es laut Khanna in einigen Unternehmen heutzutage durchaus schon geschieht, indem sie beispielsweise Möglichkeiten in Hinblick auf ein „modernes Nomadentum“ etwa in Form finanzieller Unterstützung von Auslandsjahren zur Verfügung stellen. Für diese Generationen scheint berufliche Anerkennung, ökonomischer Erfolg gepaart mit ökologischer Verantwortung im Sinne eines kommunitaristischen Weltbürgers wichtiger als sozialer Aufstieg oder eine vermeintliche „gesellschaftliche Stabilität“, die oft mit nationalen Strömungen und der Etablierung autoritärer Regime verbunden ist. Nicht zuletzt macht Khanna darauf aufmerksam, dass demokratische und liberale Regierungen, die auf Nachhaltigkeit setzen, in der Wahrnehmung dieser beiden Generationen viel höhere Reputation haben. Und in der Zukunft werden es nach Meinung des Autors genau diese Faktoren sein, auf die es ankommen wird. Khanna vertritt die Auffassung, dass „clashs of cultures“ künftig weniger aufgrund ethnischer Unterschiede als durch Faktoren des Alters bestimmt sein werden.

Wie mit dem Titel schon angedeutet, geht Khanna davon aus, dass sich die Wanderungsbewegungen aufgrund von Klimakatastrophen, Berufs- und Wohnwechsel in der Zukunft noch weiter verstärken und beschleunigen, ja, dass wir alle als „globale Staatsbürger“ immer mehr „on the move“ sein werden. Die kommende Welt wird nach Khanna „geradezu durch die Mobilität von allem definiert“.

Diese Zukunft, die schon begonnen hat, gehört jenen Menschen, die diese Mobilität als etwas Natürliches ansehen und in ihr Leben zu integrieren versuchen. Der Move wird das Normale sein, die Sesshaftigkeit die Ausnahme der Regel. Es ließe sich in diesem Zusammenhang an einen Gedanken von Johannes Bobrowski denken, den dieser schon vor seinem Tod 1965 äußerte, dass die „im Neolithikum begonnene Sesshaftwerdung […] die Inbesitznahme des Bodens, die Bindung an ihn bis heute im Wesentlichen angedauert, zu Ende geht, mit ihm Vorstellungen wie Heimat, Heimweh, politisch: Nationalstaaten, Nationalbewusstsein […] zu Provinzialismen werden“. Eine ähnliche Position wird etwa auch in der mit dem NDR-Kultur-Sachbuchpreis 2020 und dem Preis für das politische Buch 2021 der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichneten Darstellung der Flucht des Historikers Andreas Kossert vertreten (Andreas Kossert: Flucht, eine Menschheitsgeschichte. München 2020).

Daran anknüpfend erscheint es in diesem Sinn falsch, von einem Anthropozän zu sprechen, worauf u. a. auch Philipp Blom hingewiesen hat. Der in Wien lebende Historiker ist darüber hinaus der Meinung, dass Kulturen untergegangen sind, weil sie zu lange an alten Vorstellungen und Verhaltensweisen festgehalten haben (Philipp Blom: Was auf dem Spiel steht. München 2017). Khanna geht ebenfalls davon aus, dass dieses Zeitalter der Wanderungen schon lange begonnen hat und dass die meisten Menschen nur weiterhin nach der irrigen Ansicht leben würden, dass die Ansiedlung das Normale und Migration das Außergewöhnliche sei. Er zitiert in diesem Zusammenhang den Architekten und Städteplaner Rahul Mehrota mit dem Satz: „Warum zwanghaft der Permanenz huldigen, wenn Wandel die einzige Konstante ist?“

Dabei legt Khanna seinem Werk einen weiten Migrationsbegriff zugrunde, der nicht nur die „Wanderungsbewegungen von einer Region in die andere“, sondern auch jene von „einem Zivilisationsmodell zum anderen“ sowie die Migrationen innerhalb von Ländern im Auge hat. Die besondere Volte in Khannas Ansatz liegt nun darin, Wege aufzuzeigen, wie wir die Migrations- und Wanderungsbewegungen nicht nur passiv, entweder als Betroffene oder Beobachter, erleiden, sondern wie wir sie im 21. Jahrhundert werden mitgestalten können und müssen, um dem Wohl der Menschheit zu dienen, indem auf diese Weise etwa der Ressourcengebrauch verringert wird. Denn Migrationsbewegungen werden in Zukunft nicht zuletzt „Klimamigrationen“ sein. In einem etwas vereinfachenden Bild gesagt: Wir werden als Menschheit die Verschiebungen der Welt nur bewältigen, indem Migrationsbewegungen auch mental positiv gewendet wahrgenommen werden. Die große Aufgabe wird darin bestehen, den Homo mobilis zu schaffen.

Die schon in der Einleitung gestellte Frage gibt die Richtung der Vision Khannas vor, die da lautet: Wo werden Sie im Jahre 2050 leben? Bereits der Blick auf den Aufbau des Buchs lässt dabei die Stoßrichtung der Argumentation des Autors, wenngleich auch ex negativo, erkennbar werden: Mobilität ist Schicksal, Generation Move o. ä. Dabei stehen der Menschheit die Bewältigung großer Aufgaben bevor wie „heute Lockdown, morgen Massenmigration; heute populistische Demokratie, morgen datengeschätztes Regieren; heute nationale Identität, morgen globale Solidarität – und an manchen Orten geradezu umgekehrt oder im steten Wechsel zwischen diesen Gegensätzen“.

Khanna hat nichts weniger als das zugleich „bescheidene“ wie anspruchsvolle Ziel im Blick, Geografie wie Demografie nicht als Schicksal hinzunehmen, sondern mitgestaltend zu erleben: „Geografie ist, was wir daraus machen“. In diesem Sinne ist nicht nur die Zeit der Sesshaftigkeit, sondern auch die traditioneller Geographie- wie Politikvorstellungen an ihr Ende gekommen, und die Zeit der Humangeographie, der Kombination von „natürlicher Geografie, politischer Geografie ökonomischer und nicht zuletzt ökologischer Geografie“ hat begonnen. Diese Richtung bezeichnet Khanna mit dem schon 1946 von dem amerikanischen Geographen John Kirtland Wright geprägten Begriff der Geosophie.

Das Buch Khannas besticht neben seinem Inhalt vor allem durch seine kluge Struktur. Außer dem Fließtext werden Tabellen mit zusammenfassenden Textfenstern systematisch und übersichtlich zugleich eingestreut, dazu transparente Überschriften mit Texten wie „Migration ist menschlich, Migranten halten den Laden in Schwung, Mit den Füßen abstimmen“ (wie man leben will, Ergänzung SW) eingefügt. Seine breite Bildung und seine genaue Kenntnis von Ländern aller Klimazonen der Erde beweist Khanna im mittleren Teil des Werks, das diverse Länder Süd- wie Nordamerikas (Kapitel 5), Europas (Kapitel 6), Zentralasiens (Kapitel 7), der Arktis, Afrikas wie Süd- und Südostasiens (Kapitel 8–11) betrachtet, nicht zuletzt auch die Situation seines Herkunftslands Indien und seiner Geburtsstadt Kampur, „mein extrem verschmutzter und ökologisch belasteter Geburtsort“.

Darüber hinaus entwickelt der Autor kluge Gedanken in Hinblick auf konkrete Zukunftsaussichten, etwa dialektisch, dass historisch die Menschen immer den Wohn- und Erwerbsmöglichkeiten gefolgt sind und sich deshalb große Moves ergeben haben. In diesem Zusammenhang sei an das britische Film-Drama The Marsh von 1990 (Regie: David Wheatley, Drehbuch: William Nicholson) erinnert, welches Khanna nicht erwähnt, was aber fiktiv die großen Migrationsströme von Afrika nach Europa fast schon visionär vorwegnimmt und dem damals nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde, weil das Thema noch als „verfrüht“ galt.

Die einzige Schwäche der Ausführungen Khannas könnte darin liegen, dass sich das Werk nach starkem Beginn im mittleren Teil etwas in Einzelheiten verzettelt, worunter die flüssige Lesart und die Stringenz der Argumentation etwas leidet. Scheint der Autor zudem doch an manchen Stellen ein dezidiert zu positives Zukunftsszenario zu entwerfen, so kommt ihm dennoch das Verdienst zu, ein Plädoyer dafür zu halten, sich als handelnder wie denkender Mensch den Entwicklungen der Zukunft nicht ohnmächtig auszuliefern, sondern Überlegungen anzustrengen und Handlungswege aufzuzeigen, wie die Menschen über Kulturen hinweg in der Zukunft aktiv eingreifen können, eine Position, die ihn beispielsweise mit dem erwähnten Historiker Philipp Blom verbindet. (Vgl. Philipp Blom, Die Natur schlägt zurück). Khannas Vorstellung der Zukunft, zu deren Verwirklichung er konkrete Schritte aufzeigt, nennt er das Zivilisationsmodell 3.0, das mobil und nachhaltig sein muss:

Unser CO2-Fußabdruck wird dank erneuerbarer Energien kleiner werden, dennoch werden wir aufgrund sozioökonomischer und ökologischer Unbeständigkeit häufiger migrieren müssen. Immer mehr Menschen werden nomadisch leben; Siedlungen können temporär sein. Wir werden uns verteilen, doch wir werden vernetzt bleiben.

Abschließend sei noch eine Bemerkung zur Zielgruppe des Werks erlaubt: In einer Zeit zunehmender Polarisierung in verschiedenen europäischen Gesellschaften, wie sie kürzlich von einer Studie innerhalb des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ an der Universität Münster noch einmal bestätigt worden ist, besteht die Gefahr, dass das Buch vor allem bei jenen gesellschaftlichen Gruppen Aufmerksamkeit finden wird, die sowieso mit Khanna konform gehen und die in der besagten Studie als „Entdecker“ bezeichnet werden. Es ist fraglich, ob die andere extreme Gruppe der „Verteidiger“, die nach der Münsteraner Studie immerhin 20% ausmachen wird, sein Modell wahrnehmen werden. Dennoch kann man den Wert von Khannas Werk in Hinblick auf die größte „unentschiedene“ gesellschaftliche Gruppe gar nicht hoch genug ansetzen. Als Leserinnen und Leser sollten wir ihm weiterhin in seinen „realistischen Visionen“ aufmerksam zuhören, nicht zuletzt wenn es darum geht, wie es nach dem Stillstand der Pandemie weitergehen könnte.

Titelbild

Parag Khanna: Move. Das Zeitalter der Migration.
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Karsten Petersen.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021.
448 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783737101158

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