Bestechungsskandal im Altersheim: Verrückte Omi türmt mit Journalisten in die Schweiz

Warum es in Tarkan Bagcis Roman „Die Erfindung des Dosenöffners“ in erster Linie nicht darum geht, wer den Dosenöffner erfunden hat

Von Charlotte QuickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Quick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Annette hat ein Geheimnis“, raunt ein Bewohner des Altersheims dem jungen Timur zu. Timur ist Lokaljournalist in einer Kleinstadt und weder mit seinem Leben noch mit seiner beruflichen Laufbahn zufrieden. Die Artikel über den lokalen Hühnerzüchterverein oder andere vermeintliche Belanglosigkeiten langweilen ihn, da er von einer großen Karriere träumt. Eine Sprosse auf der Leiter des Erfolgs soll Benjamin sein, der ihm ein „Volo“ besorgen soll. Die Prämisse hierfür brüllt Benjamin dem bemühten Protagonisten in einer Disco ins Ohr: „MUSST EINFACH ‘NE HAMMER-STORY BRINGEN, EGAL WAS! HAUPTSACHE, ES IST FETT“. Während Timur sein angeblich erfolgreiches und erfülltes Leben auf Instagram inszeniert – #Journalism #PassionNotWork –, überlegt er in der wenig inspirierenden Arbeitsumgebung, woher eine solche „Hammer-Story“ stammen soll.

Die Redaktion bestand aus ein paar zusammengeschobenen Tischen und drei alten Rechnern. Der traurigste Newsroom der Welt. Die Decken hingen tief wie Galgen, und alles sah irgendwie abgesessen aus […]. Der ganze Raum hatte eine Trägheit, die seinem eigentlichen Sinn komplett entgegenstand.

Nach mehreren vergeblichen Versuchen, etwas zu Papier zu bringen, erinnert sich Timur an Annette, die ein Geheimnis haben soll. Begleitet von Zweifeln am Wahrheitsgehalt der Geschichte der alten Dame, wird Timur in ein Abenteuer verstrickt, bei dem es zu Sachbeschädigung, Polizeieinsätzen, Bestechung und Notarzteinsätzen kommt. Dabei lernen wir schnell, dass es nicht darum geht, wie Annette den Dosenöffner erfunden hat, sondern dass sie tatsächlich ein Geheimnis hat, das den Lesenden weit mehr fesselt als die Erfindung des Dosenöffners. Dass eine Geschichte mehr ist als das, was wir schwarz auf weiß lesen können, lernt auch der Protagonist im Verlauf der Geschichte.

Tarkan Bagci ist wie der Protagonist seines Debütromans als Journalist tätig. Er schreibt schon länger erfolgreich für TV-Formate wie das ZDF (ehemals: Neo) Magazine Royal, hat einen eigenen Comedy-Podcast (Gefühlte-Fakten) und wurde 2018 für den deutschen Comedypreis nominiert. Nun wagt er sich mit Die Erfindung des Dosenöffners (2021) endlich in die Welt der Romane. Ein Glück für uns Lesende. Mit viel Witz webt er eine Story aus dem Alltagspessimismus seines Protagonisten Timur, der unbedingt ein Volontariat bei einer großen Zeitung bekommen möchte, und um dessen Mittel zum Zweck Annette, die, wie er feststellen wird, eine Geschichte erzählt, die sich lohnt, gehört zu werden.

Der etwa 250 Seiten lange Roman ist sehr kurzweilig im ungezwungenen Stil geschrieben. Der Ich-Erzähler berichtet aus der Sicht und im angesagten Sprechstil des jungen Protagonisten, wodurch ein Ton entsteht, der sich passend zum Instagram-Kontext als #relatable beschreiben lässt. Die Geschichte begleitet sowohl den unverblümt langweiligen Alltag des unmotivierten Journalisten Timur, der stets auf der Suche nach etwas Bedeutsamem ist. Gleichzeitig gewährt sie Einblicke in Timurs Instagram-Account, von dem aus er das vermeintlich schillernde Leben seiner Schulfreunde verfolgt, die jetzt auf Abenteuerreise in der großen weiten Welt sind. Die Handlung wird von Passagen unterbrochen, in denen Annette Timur aus ihrer Jugend erzählt. Je weiter sich die Handlung chronologisch entwickelt, desto tiefer zieht es die Lesenden auch in die Vergangenheit der alten Dame. Dennoch überzeugt der Roman nicht allein durch die Handlung, die zwar kleine Überraschungen, aber keine Sensationen bereithält. Er lebt vielmehr von den authentischen Figuren und deren Beziehungen, die durch unverblümte Dialoge geformt werden. Sowohl diese Dialoge als auch Bagcis Erzählstil sind gekennzeichnet durch einen sehr bildlichen Schreibstil voller Metaphern und Vergleiche, der den Leser wiederholt schmunzeln lässt.

Flo nahm sein Pinnchen, und wir beide kippten uns den braunen Alkohol den Hals runter. Er schmeckte widerlich. Als wäre ein Haufen Kräuter in Desinfektionsmittel eingelegt worden und trotzdem verwest.

Der Humor wechselt hierbei zwischen trocken und sarkastisch bis hin zu subtilen Nuancen. Doch nicht nur diese gelingen Bagci: Auch die ernsteren Passagen, wie Annettes Zusammenbruch oder die Aufarbeitung des Verhältnisses von Timur zu seinem Vater, werden als solche präsentiert und nicht mit unangebrachten Scherzen verschandelt. Bagci bewahrt ihre Ernsthaftigkeit so lange wie nötig – meist jedoch auch nicht länger. Die Rückkehr zur unbeschwerten Art des Romans schafft er dabei jedes Mal wieder leichtfüßig und natürlich, sodass weder die Ernsthaftigkeit noch die Leichtigkeit gestellt wirken.

Stellenweise werden Assoziation zu Jonas Jonassons Roman Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand (2013) geweckt; doch wo Jonasson Übertreibungen und Absurdität lebt, unterstreicht Bagci die Relevanz der Bodenständigkeit.

Flo und Özlem beneideten mich um etwas, das ich nicht hatte. Das ich nur vorgab zu haben. Nur vorgegeben hatte zu haben, weil ich dachte, dass sie es hatten […]. Wie viel Zeit ich damit verbracht hatte, Flo und Özlem für ihr Leben zu beneiden, und jetzt stellte sich heraus, dass das alles umsonst war. Als hätte ich monatelang für einen Spitzensport trainiert, von dem ich jetzt erfuhr, dass es ihn gar nicht gab.

Bagci führt durch Timurs Entwicklung vor Augen, dass nicht alles immer so spannend oder auch fad ist, wie wir es präsentieren oder rezipieren. Somit wird der Bezug zum Journalismus, der den Roman stark prägt, zum Schluss noch einmal gekonnt in Szene gesetzt. Die Romanhandlung lässt sich im absurd aufdringlichen Stil der Boulevard-Presse zu einer übertriebenen Schlagzeile, wie dem Titel dieser Rezension, verarbeiten, was Bagcis Roman jedoch gar nicht nötig hat.

Die Erfindung des Dosenöffners ist eine klare Empfehlung für alle, die bereit sind, Bagci und seinen Figuren zuzuhören. Der Dosenöffner selbst ist schnell nur Nebensache, und die Charaktere sowie ihre Geschichten werden erlebt. Eine kurzweilige und humorvolle Unterhaltung, die nicht so tut, als würde sie mehr sein, und damit alles richtig macht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Tarkan Bagci: Die Erfindung des Dosenöffners.
Ullstein Verlag, Berlin 2021.
256 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783864931345

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