Homo inquietus stirbt

Abram Maenner entfaltet in „Todes Stunde“ einen poetischen Rausch der Erinnerung

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schauen wir uns beim Sterben zu? Abram Maenner, Jahrgang 1941 und seines Zeichens promovierter Kulturhistoriker, Dichter, Dramaturg, Regisseur, Schauspieler, Filmemacher, Bildhauer und wahrscheinlich noch vieles mehr, versucht genau das in einem Gedicht. Es ist eine Art innerer Monolog eines offenkundig Sterbenden, ein Gedankenfluss der Lebenserinnerungen auf fast zweihundertfünfzig Seiten, ungeordnet, rätselhaft, voller Andeutungen, visionär. Dieser Sterbende liegt auf einem Bett, inmitten eines Raums, der angefüllt ist mit Skulpturen, während von oben durch ein Glasdach ein wie auch immer verdoppeltes Ich herabschaut und sich fragt, was in dem anderen Ich wohl gerade vor sich gehe.

Das hätte ich als Leserin auch gerne gewusst, da diese mäandernden Wortkaskaden doch vor allem sorgsam verschlossene Privatbotschaften enthalten. Wer ist wer? Und wo ist wo? Und was ist was? Wie also haben wir diese „poetische Vision“, so der Untertitel des Gedichtmarathons mit dem Ziel Nirwana, denn zu verstehen, da sie uns beharrlich Kohärenz verweigert? Vielleicht so:

Lieber verlasse ich lebend
die Welt und sterbe im Himmel
redend fahre ich aus meiner Haut
und fühle mich leer
träumend tauch ich in meine Seele
und quäle mich selbst
schreibend überspringe ich meinen Schatten
und sehe mich sterben

Die Vorstellung, die Welt lebend und redend zu verlassen und dabei in die Seele einzutauchen, den eigenen Schatten hinter sich lassend, nun diese Vorstellung hat etwas Bezwingendes. Man stirbt nicht einfach, sondern schaut sich gewissermaßen aus sicherer Himmelsperspektive beim Sterben zu. Gut, auf das Selbstquälerische ließe sich dabei verzichten, aber der Himmel verspricht und hält allemal mehr Ewigkeit als unser lausiges Erdendasein.

Wir ahnen ein ereignisreiches Leben, eines, in das extreme Situationen eingeschrieben sind, in dem es tiefe Gräben zu überwinden galt. Der Erinnerungsfluss spült ebenso mythische Verwurzelungen heran, bringt lichte Geisteslandschaften hervor und dann wieder dunkelste Abgründe. Das Leben wird auf diese Weise zu einer zerfurchten Topographie. Maenner entwirft lyrisch ausgelotete Denkräume und taucht sie in einen ständigen Stimmungswechsel von Hell- und Dunkelwerten. Das alles bleibt vage, hält uns absichtlich auf Distanz und dann tritt doch an einigen Stellen die Wirklichkeit sehr konkret ins Bild:

die Straßen leer nur dieses neue Virus
in den Wolken sinkt herab dringt ein steckt
an und mordet am liebsten Greise wahllos

An anderer Stelle ist es der Klimawandel: „sodaß das letzte / Eis dort schmilzt / durch Hitze aus den Städten“. Und wieder an anderer Stelle mokiert er sich über unsere in Smartphones verliebten Mitmenschen mit ihrem nimmersatten Stieren auf Displays:

jetzt greifen wir
verstört und kraftlos
süchtig nach süßlicher
Vergiftung aus gleißenden
allgegenwärtigen
Monitoren
und Displays

Neulich hatte der Dichter und Philosoph Fabian Schwitter in der Neuen Zürcher Zeitung unter der Überschrift Das Gedicht hat seine Fesseln abgelegt, nun irrt es ziellos umher Bedenkenswertes zum Thema freier Vers geäußert. Zwar anerkennt Schwitter die im freien Vers demokratisierte Poesie und hält sie für eine grandiose Erweiterung der Dichtkunst, aber seine Kritik am Verzicht auf Reim und Metrum ist ebenso wenig zu überhören. Die Gefahr des Sinnverlustes sei hier virulent, so Schwitters Befürchtung. Es sei nichts dagegen einzuwenden, dass das ungebundene Gedicht allen Dingen in seiner Gestalt gerecht zu werden versuche, aber er wittert nicht ganz zu Unrecht bloßen Funktionalismus. Seine volle Berechtigung hatte der individualistische freie Vers, so Schwitter, noch bei Paul Celan mit einem klaren historischen Hintergrund. Denn darin richteten sich in der Tat „verzweifelte Gespräche“ an ein imaginäres „Du“. Aber der freie Vers bleibe eine „einsame Klage“.

Was das mit Abram Maenner zu tun hat? Vielleicht damit, dass mir seine Klage auch zu einsam klang, seine individualistischen Botschaften zu verschlüsselt erschienen, um ihnen einen konkreten Sinn abzulauschen. Man fühlt eine Stimmung und weiß weder warum, noch worauf der Blick eigentlich gerichtet ist. Klar, wenn es in unserem Leben darauf ankommt, bleiben wir uns oft genug doch nur ein Rätsel. Ein paar kulturkritische Einsprengsel mit erkennbaren Verortungen machen die Sache freilich nicht besser. Am Ende dann eine Art Eingeständnis: „es bleibt noch für wenige Zeit / der Nachhall hilfloser Verse“. Und dabei glauben wir, wir hätten mehr zu vererben als den Klang von Worten.

Titelbild

Abram Maenner: Todes Stunde. Eine poetische Vision.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2021.
248 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783865258489

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