Wirken des Erinnerns im Hier und Jetzt

In „Wer wir sind“ schildert Lena Gorelik vielschichtige und dynamische Momente ihrer Sozialisation

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wenn es lange genug nervt, dann wird es ein Roman“ – so äußert sich Lena Gorelik im Gespräch mit Björn Jager zum Verhalten der Ideen, Themen, Motive und/oder Charaktere in ihrem Kopf, bevor sie zu Papier gebracht werden können. Auf Wer wir sind treffe das in besonderer Weise zu, denn es sei ein Text, von dem sie lange gedacht habe, ihn nicht schreiben zu dürfen. In gleichem Maße jedoch habe sie das Gefühl gehabt, ihn schreiben zu müssen und dabei kein Hehl daraus zu machen, dass es um sie selbst gehe.

Die Genese sei einer Wellenbewegung gleich gewesen – so Lena Goreliks Reaktion auf Jagers Bemerkung, dass Wasser wohl das zentrale Element des Textes darstelle. So wie das Buch strukturiert sei, sei es ihr beim Schreiben ergangen. Der Text habe sie zwar getragen, dennoch habe sie sich an ihn herantasten müssen und damit von Anfang an nicht nur geschrieben, sondern ihr Tun auf einer Metaebene reflektiert.

Mit ihren Eltern, ihrer Großmutter und ihrem neun Jahre älteren Bruder kommt die elfjährige Lena Gorelik im Mai 1992 nach Deutschland. In Russland, einem Land, das zunehmend antisemitisch geprägt ist und in dem die Zugehörigkeit zum Judentum sogar im Pass notiert ist, möchte die Familie nicht bleiben. Eine direkte Anfeindung, die dem Vater in der Sankt Petersburger Metro widerfährt, gibt den Ausschlag dafür, einen Ausreiseantrag zu stellen. In Baden-Württemberg, das sie sich als Bundesland ausgesucht haben, kommen Lena und ihre Familie in einem Wohnheim für Immigranten unter, bevor sie die erste eigene Wohnung auf einem ehemaligen amerikanischen Militärgelände beziehen. Ihre bereits in Sankt Petersburg hervorragenden schulischen Leistungen kann Lena in Deutschland weiter ausbauen. Mit dem Überspringen einer Klasse gilt sie als „Steigerung einer Streberin“. Nach dem glänzend absolvierten Abitur verlässt sie Baden-Württemberg, um sich ihrem Studium zu widmen.

Nach vielschichtigen Rückblicken auf ihre individuelle und ebenso auf die transgenerationale Vergangenheit ihrer Familie richtet die Autorin den Blick auf die Pandemiesituation: mit ihren beiden Söhnen reist sie zu (Groß-)Mutter und (Groß-)Vater, die sie seit Monaten nicht gesehen haben. Sie beschreibt, wie die überraschten und gerührten (Groß-)Eltern aus ihrer Etagenwohnung nach unten auf den Hof kommen, um dort mit Tochter und Enkeln Pizza zu essen.

Wer wir sind beginnt mit der Gegenwart und endet damit. In diese zyklische Struktur sind weder Plot noch lineares Erzählen eingebettet und das zu erwartende epische Präteritum ist weitestgehend durch das Präsens ersetzt. Im Rahmen facettenreicher Momentaufnahmen, die ein „Neues“, ein „Drittes“ bilden, gehen Vergangenheit und Gegenwart eine symbiotische Beziehung ein. Am ehesten zu fassen ist ein solches Drittes als ein ,Dazwischen des Schreibens‘, eine Leerstelle, ein Schlupfloch für alles Ungesagte, die Paradoxie zudem von Präsenz und Absenz, die nicht nur die emotionale Intensität steigert, sondern ebenso die Arbitrarität der Reminiszenzen modelliert. Bekanntermaßen ist diese abhängig von den Subjekten, die die Erträge ihrer Erinnerungsarbeit in Narrationen zwischen Fact und Fiction rekonstruieren.

Trotz des schon allein erinnerungsbedingt denkbaren fiktionalen Anteils ist die Etikettierung ‚Roman‘ irreführend. Ebenso wenig hat man es mit einer Autobiografie zu tun, denn diese wiese bilanzierende, konkludierende Züge auf und wäre durchgängig im Präteritum verfasst. Gleichwohl liegt autobiografisches Schreiben vor, und zwar basierend auf doppelt konturierter homodiegetischer Stimme – das erzählende, sich erinnernde Ich der Gegenwart der Schriftstellerin und Mutter auf der einen Seite und das erlebende Ich des Kindes und der jungen Erwachsenen auf der anderen Seite. Nicht zuletzt aus dieser Reibung resultiert eine flexible und dynamische Erinnerungsarbeit, die vom sowohl kommunikativ als auch kulturell geformten Familiengedächtnis befeuert wird. Eine Paradoxie ergibt sich auch zwischen der Dynamik der Erinnerung einerseits und dem Impetus andererseits, diesem Vergangenen, dem Gelebten, Statik und Atemporalität zu verleihen. Gleich zu Beginn manifestiert sich die Leitmetaphorik des Zusammenpackens, des Aufbewahrens und des Hervorholens. Wenn der Vater sich allein im Urlaub am Meer befindet, sammelt er vielerlei Strandgut, das er sorgfältig verpackt. Lena Gorelik selbst kauft in Amsterdam einen hundert Jahre alten Arzneischrank aus England, in dem sie Briefe, Fotos und andere Erinnerungsstücke deponiert. Der Vater arrangiert Muscheln, Steine und Seesterne zu kleinen Kunstwerken, die Tochter holt Objekte aus ihrem Arzneischrank, sozusagen als Heilmittel, die das Schreiben triggern.

Im Einklang damit setzt Lena Gorelik mit bemerkenswerter Frequenz Figuren der Reihung und Häufung ein, insbesondere Akkumulationen. Diese bedienen gleichermaßen, so wie das Verpacken, Auspacken und Neukomponieren der Dinge, den Wunsch nach Reduktion und das Bedürfnis nach Extensivierung. Das Kompilieren und Kombinieren spielt auch in anderen Werken Goreliks, wie beispielsweise dem Roman Die Listensammlerin eine große Rolle.

Ein Koffer und neun Säcke – in diese hinein packt die Familie ihre Habseligkeiten bei der Ausreise nach Deutschland. In Russland werden die Spielsachen für die Kinder auf einem Zwischenboden über den Türen gelagert, in Deutschland hingegen auf dem Speicher. In einem gelben Lederkoffer führen die Eltern alle Dokumente für die Ausreise mit. Jahre später, wenn ihn die Erzählerin wieder in die Hand nimmt und diese Papiere betrachtet, ist er orange geworden, hat demzufolge Patina angesetzt.

Als hochgradig signifikant tritt in diesem Kontext des Mitnehmens, Behaltens und Sammelns die Art und Weise des Packens hervor: unten in den Koffer, so erklärt der Vater, müsse alles Schwere hinein, oben das Leichte. Damit kreiert er ein rundum passendes Bild für das Gedächtnis: das Schwere liegt tief in den unteren Stockwerken des Gehirns und des Gedächtnisses verborgen. Erst dann, wenn das Luftige, Leichte, Banale, Oberflächliche zur Seite geräumt worden ist, tut sich ein Zugang zum Schwerwiegenden und Belastenden auf.

Die Formulierung „Wer wir sind“ legt den Fokus auf die Familie in ihrer mikro-, meso- und makrosystemischen Bedingtheit. Mutter und Vater sind diametral zueinander akzentuiert: Die Mutter sei diejenige, so die Erzählerin, die sie auch dann noch liebe, wenn sie sich selbst nicht mehr lieben könne, die dafür gekämpft habe, dass sie in eine reguläre Klasse habe gehen können und deren Stärke sie in sich trage. Im Gegensatz zu ihr, die eher für emotionale Kompetenz steht, setzt der Vater auf Ehrgeiz und Intellektualität. Als seine Tochter vier Jahre alt ist, bringt er ihr das Lesen bei, er nimmt sie mit zu kulturellen Veranstaltungen und spielt Schach mit ihr. Er propagiert die Schönheit des Schachspiels, die „Ästhetik des Denkens“, begibt sich mit der Tochter in eine ,Aemulatio‘, einen positiven Wettstreit, der die Herausforderung rund um das Adagio aus Beethovens Hammerklaviersonate in Erinnerung ruft, der sich Vater und Tochter in Yasmina Rezas autobiografischer Schrift Hammerklavier stellen.

In Deutschland erlebt die elfjährige Lena sich selbst und die gesamte Familie als durch einen Vexierspiegel der Andersartigkeit wahrgenommen. Der eigene, verfremdende und befremdliche Blick auf Deutschland und seine Bewohner*innen geht einher mit dem Gefühl, nicht dazuzugehören. Eine der vielen Stärken des Buches ist die exzellente und schonungslose Präsentation alltäglicher Xenophobie bei den Begegnungen mit deutschen Muttersprachler*innen. Mal kommt diese im Gewand wohlmeinenden Gutmenschentums daher, mal massiv einschüchternd und offen aggressiv mit O-Tönen wie „Lernen Sie doch erst einmal richtig Deutsch“.

Im Behördendschungel regredieren die Eltern zu „unbeholfenen Kindern“, die Kinder metamorphosieren flugs zu Eltern, weil nur sie durch die Stadt navigieren und dolmetschen können. Sie sind zwischen den Sprachen unterwegs und damit offenbart sich, was Lena Goreliks Buch auch ist: Nachdenken über Sprache, über das Deutsche, dessen Grammatik von der Zweitstellung des Verbs im Satz beherrscht werde, worauf dieses „einen rechtlichen Anspruch“ habe. Die Wendung „etwas hat zu sein“ sei „die deutscheste aller grammatischen Formen“ und „am lautesten“ lärme die deutsche Grammatik „in Briefen, die von Ämtern geschickt werden“. Im Russischen könne man dagegen die Worte „hin und her schieben“; „die Bedeutung rennt der Reihenfolge einfach hinterher“.

Ab und an fügt Lena Gorelik russische Wörter, Wendungen und Sätze in ihren Text ein, dann vor allem, wenn es hochemotional und/oder sehr traurig wird, etwa in der zutiefst berührenden Szene, als Lenas Eltern ihre betagte und gebrechliche Hündin pandemiebedingt nicht selbst zur finalen Injektion zum Tierarzt bringen können und die Mutter das Tier auf Russisch mit den Worten, „alles gut, unsere Kleine, unsere Gute, unsere geliebte Hündin“, letztendlich mit „Liebe, in Worte gelegt,“ verabschiedet. Als Nichtkundige dieser Sprache wünscht man sich dann einen ,Tiptoi‘, um über den Text fahren und den Klang auskosten zu können.

Im Alltag zieht das antithetische Verhältnis der Sprachen zueinander ein Leben im Komparativen nach sich, eine bereichernde Bilingualität zum einen, eine innere Zerrissenheit zum anderen. Es ist der Protagonistin nahezu unmöglich, ihren eigenen, originären Platz zu finden, denn immer flottiert sie irgendwo dazwischen. Den Titel von Marie Férauds berühmter Schullektüre, Anne ici – Sélima là-bas, könnte man zu „Lena hier, Lenotschka dort“ abwandeln.

Die dilemmatische, zunächst topographische Intermediär-Position tendiert dazu, sich auf verschiedene Ebenen des Daseins auszuweiten. In der Schule ist der Protagonistin unwohl, weil sie trotz vielerlei Bemühungen (sich nicht mehr im Unterricht melden, absichtlich schlechte Noten schreiben) ihr Streberinnen-Image nicht verliert. Als parentifiziertes Kind bewegt sie sich zwischen den Generationen, als Jugendliche möchte sie zu einer Frau werden, die sich schminkt, hübsch ist und einen anmutigen Gang hat, wird aber in ihrem aufkeimenden femininen Bewusstsein mehr als unsicher, wenn sie von ihrer Tante gesagt bekommt, dass sie einen seltsamen Gang habe und später Mitbewohner*innen ihr einen „lustigen Gang“ nachsagen.

„Nirgendwohin gehören“ – diese Selbst-Diagnose bedingt eine existenzielle Instabilität, die wiederum Scham in ihrem Gefolge hat, eine intra- und mit Bezug auf die kulturelle Gruppe im Hintergrund auch interindividuell motivierte Selbst-Stigmatisierung, die sich in desillusionierenden Worten konkretisiert:

Was übrig bleibt vom Stacheldrahtzaun, von dem Mädchen, vom Gestank im Wohnheim, der sich in uns frisst, was übrig bleibt von dieser Mischung aus Bratfett, Verzweiflung, Schimmel und Angst, das ist die Scham. Die simpelste Scham von allen, die zu sein. Die sein zu wollen. Zu denken, dass ich, dass jemand mich mögen könnte. Dazuzugehören, ein Wunsch, größer als alle Geburtstage zusammen. Als wäre ich – und der Satz ließe sich beliebig fortsetzen. Dagegen hilft kein Erfolg, keine Therapie, keine Erfahrung. Nichts hilft, weil Scham währt.

Diese Stigmatisierung währt sogar im Schreiben, wird im freien Schweben der Erinnerungen in einer Zwischenwelt paradoxerweise verstärkt und zunichtegemacht.

Im Prozess des Schreibens gerät die intrinsische Spaltung zu einer Meta-Paradoxie insofern, als nur im Schreibfluss alle Ambivalenzen und Disjunktionen abgebildet und alle Gefühle der Heimatlosigkeit weiter exazerbiert und disseminiert werden. Jedoch bietet nur der produktive Fluss künstlerischer Genese den Königsweg hin zur Dissolution des Antithetischen. Im Goldstandard eines glorreichen Dazwischen tangieren sich die Gegensätze, lösen sich vielleicht irgendwann in Wohlgefallen auf, auch wenn möglicherweise von vorneherein „viele zarte Andeutungen“ aus dem Russischen und „viele Fragen hindurchrieseln zwischen den lateinischen Buchstaben“.

Am Anfang des „Romans“ baut sich die Hürde auf, „Ich“ sagen zu dürfen, heißt es doch im Russischen, dass Я (= ich, ausgesprochen „ja“) nur ein Buchstabe sei und jedem Kind die Maxime „Ich ist der letzte Buchstabe im Alphabet“ eingebläut wird. Es mag nur Spielerei sein, aber nichtsdestoweniger: die Aussprache des russischen „Ich“ ist ein deutsches „Ja“. Der Akt der Selbstermächtigung besteht darin, im Deutschen Ja zu einem Ich zu sagen, das binational ist, sich mit diesem „Ja zum Ich“ von der russischen Kultur zu distanzieren, sie aber in modifizierter Form wieder in das Ich einzulassen. So entspinnt sich eine hermeneutische, ambivalente und komplexe Prozesshaftigkeit, in der die Suche nach Identität zur „never ending story“ avanciert.

Wenn auch Wer wir sind kein Titel ist, der ein Alleinstellungsmerkmal aufweist, wenn es des Weiteren Myriaden von Texten gibt, die Identitätssuche und „Coming of age“ bearbeiten und mitunter in spannende Narrationen kleiden, und obwohl Identität sowieso immer ein literarisches Querschnittthema ist, bleibt Wer wir sind einzigartig mit der Art und Weise, wie Lena Gorelik Identität als innerseelische Disjunktion und Scham einer dynamischen Modellage unterzieht.

Titelbild

Lena Gorelik: Wer wir sind.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783737101073

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