Traue keinem Menschen vom Land

Ein Gespräch mit dem britischen Historiker Ronald Hutton über das Folk Horror-Genre, die Angst des modernen Menschen vor der Vergangenheit und das Hexenbild im 21. Jahrhundert

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Ronald Hutton, geb. 1953, ist Professor für Geschichte an der University of Bristol. Sein Spezialgebiet ist die frühe britische Geschichte, britische Folklore, vorchristliche Religionen und zeitgenössischer Paganismus. In seinen Büchern beschäftigt sich Hutton intensiv mit der heidnischen Geschichte Großbritanniens, Schamanismus, Druidentum und jüngst mit dem Topos der Hexe. Sein Buch The Witch, erschienen 2018, stellt eine groß angelegte Untersuchung des historischen Hexenglaubens sowie der Hexenverfolgung in verschiedenen Regionen der Welt dar. Er plädiert hier für eine enge Zusammenarbeit zwischen Kulturanthropologie und Geschichtswissenschaft sowie eine globale, komparatistische Sicht auf die verschiedenen historischen Hexenbilder, um zu einem umfassendne Verständnis des Topos zu gelangen.

In jüngster Zeit haben Huttons Studien auch das Interesse der Film- und Literaturwissenschaft sowie der Liebhaber jenes Genres geweckt, das man als ‚Folk Horror‘ bezeichnet (und dem unser Juli-Schwerpunkt gewidmet ist). Es ist ein Interesse, dem er zwar reserviert, aber dennoch mit einem gewissen Enthusiasmus begegnet. Sascha Seiler sprach mit Ronald Hutton über Folk Horror, Hexen und die Dialektik der modernen Welt.

 

Literaturkritik.de: Mr. Hutton, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch mit uns genommen haben. Ich gehe gleich mal in medias res: Wie würden Sie persönlich den Begriff ‚Folk Horror‘ definieren?

Ronald Hutton: Folk Horror ist ein erst kürzlich definiertes Genre im Bereich der modernen Literatur. Wenn ich den Begriff ‚modern‘ wähle, so beziehe ich mich explizit auf das späte 20. Jahrhundert. Allerdings ist es durchaus möglich, es in die Vergangenheit zu projizieren, jedoch würde dies die Definition des Genres zusehends erschweren. Sind die Romane Dracula oder Frankenstein Folk Horror, die traditionell zur Gattung der ‚Gothic Fiction‘ gezählt werden? Ich würde für meinen Teil sagen: Wo Gothic endet, also in etwa Mitte des 20. Jahrhunderts, beginnt Folk Horror.
Was die genaue Definition angeht: Das Horror-Element ist offensichtlich. Schwieriger wird es, das Folk-Element zu definieren. Folk-Horror-Erzählungen sind in der Regel in traditionellen Gemeinden angelegt. Und sie bewegen sich auch deswegen nicht im Bereich der Science-Fiction oder der Fantasy.

Literaturkritik.de: Sie haben den Übergang des Gothic Horror zum Folk Horror im 20. Jahrhundert erwähnt. Ich denke, dieser Wandel ging von britischen Schriftstellern wie Arthur Machen und M.R. James aus, die im Kontext der Moderne sozialisiert wurden, aber die Moderne grundlegend abgelehnt haben. Sehen Sie das genauso?

Hutton: Nein, überhaupt nicht. Ich denke nicht, dass die von Ihnen genannten Autoren eine ablehnende Haltung gegenüber der Moderne eingenommen hätten. In vielerlei Hinsicht haben sie sogar die Werte der Moderne vehement verteidigt! Wie viele Autoren, die dem Horror-Genre zuzurechnen sind, wollen sie aber natürlich beides haben. Auf der einen Seite schreiben sie über traditionelle Topoi, wie Phantome, Geister, Ghoule und die Wiederkehr der alten Götter. Gleichzeitig aber nehmen sie eine Haltung ein, die vermittelt, dass eine Mischung aus modernem Rationalismus und eine Art verwässertes Christentum die beste Art ist, mit dem Universum umzugehen. Wenn es also eine Moral in den Geschichten von M.R. James gibt, so lautet diese: Begehe keine Verbrechen, sündige nicht und mach keinen Unsinn an uralten Orten, die du nicht verstehen kannst.
Arthur Machen ist sogar noch traditioneller, da seine Geschichten stets die Botschaft vermitteln, man dürfe Menschen vom Land nicht über den Weg trauen und sich vor allem nicht mit alten heidnischen Gottheiten einlassen. Um es kurz zu machen: Die Geschichten dieser Autoren verfolgen den Zweck, dem gemütlichen bourgeoisen Leben klare Grenzen zu setzen.

Literaturkritik.de: Dazu kommt, dass Machen ja offensichtlich auch große Angst vor diesen Dingen hatte, auch vor der Sexualität, die er ja immer als etwas im Grunde Unfassbares beschreibt, das immer nur in Vereinigung mit dunken Mächten aufkommen kann. Seine Geschichten sind also nicht zuletzt auch psychologisch motiviert.

Hutton: Ja, das ist wohl wahr. Und natürlich war es auch sein Ziel, andere Leute davor zu ängstigen.

Literaturkritik.de: Sehen Sie eine Verbindung mit dem wachsenden Erfolg von Folk Horror in den letzten zehn Jahren und der Globalisierung, der ja immer auch der Ruf nach dem zunehmenden Verlust kultureller Tradition implizit ist? Oder würden sie auch dies im Kontext einer Verteidigung unserer globalisierten Welt vor uns unbekannten und daher unheimlichen Mächten sehen, so, wie die von uns eben diskutierten beiden Autoren ihre modernen Werte verteidigen wollten?

Hutton: Auch hier würde ich zur zweiten These tendieren. Es ist doch letztlich das gleiche Thema. Es geht darum, sich gegenüber zu viel Neugierde zu sperren und lieber beim Altbekannten, beim Traditionellen zu bleiben, anstatt das Exotische, das Heterodoxe, das Geisterhafte sowie das Antike zu erforschen. Ich muss zugeben, dass ich die Definition dieses bestimmten Genres, über das wir sprechen, als Folk Horror niemals allzu brauchbar fand. Alle Werke, seien sie literarischer oder filmischer Natur, die sie einschließt und die das Genre letztlich aus sich heraus definieren sollen, können ebensogut unter ältere Genredefinitionen gefasst werden. Andererseits ist es ja durchaus so, dass Anhänger des Folk-Horror-Genres meine akademische Arbeit oft sehr zu schätzen wissen, also freue ich mich auch, mit ihnen in einen Dialog zu treten.

Literaturkritik.de: Sie würden aber zustimmen, dass es gerade in unserer hermetischen, digitalisierten Welt eine große Angst vor dem Archaischen, dem Unbekannten, vor der Macht der Natur gibt, weil die tiefere Beschäftigung damit die Blase, in der die Menschen heute leben, zerstören könnte?

Hutton: Ja, natürlich. Was auch damit zusammenhängt, dass wir in einer Zeit leben, in der es einen gigantischen kulturellen Druck zur Angepasstheit und Normalität gibt, und da prallen Geschichten über das Abnormale und das Heterodoxe ab. Arthur Machen war der erste Schriftsteller, der mir bekannt ist, der zwei Themen eingeführt hat, die bis heute im Folk Horror weiterleben. Das eine ist der aus dem urbanen Raum kommende Außenseiter, der zu einem abgelegenen ländlichen Ort reist und dort eine Gemeinschaft vorfindet, die uralte, geheime Rituale durchführt. Es sind immer heidnische Kulte, und was sie da treiben, ist immer schrecklich. Also müssen der Held oder die Heldin flüchten.
Das zweite Thema bezieht sich auf eine Person, die – mit oder ohne Absicht – einen alten heidnischen Kult wiederbelebt, entweder weil sie einen Zauberspruch oder einen Tempel oder eine Liturgie entdeckt hat und hier etwas in Gang setzt. Oder eben sie sucht aktiv nach Überresten und führt eine Art Wiederbelebung durch. Wie auch immer, es endet stets im Tod oder im Wahnsinn, oder es kommt eben ein christlicher Held oder eine christliche Heldin und rettet die Menschen, die diese Katastrophe herbeigeführt haben.

Literaturkritik.de: Wie verwurzelt sind diese Narrative denn in der britischen Tradition?

Hutton: Sie sind unverkennbar moderner Natur. Sie werden solche Geschichten nicht vor den 1890ern finden, denn erst in dieser Dekade kam eine Bewegung auf, die das Heidentum wiederbeleben wollte. Und in diesem Jahrzehnt entstand auch der Terminus Neo-Paganismus. Und seitdem tauchen immer wieder Menschen auf, die Aspekte der alten, paganen Welt wiederbeleben wollen. Eine Bewegung, die dann numerisch, aber auch was ihre Komplexität angeht, durch das 20. Jahrhundert hindurch gewachsen ist. Und auch die Warnschilder tauchen immer wieder auf, heute nennen sie sich unter anderem Folk Horror.
Aber zugegeben, das Genre ist äußerst unterhaltsam, wahrscheinlich ist es deswegen auch so populär. Und tatsächlich haben zeitgenössische Heiden ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Genre, denn sie sind sich einerseits bewusst, dass in vielen dieser Kunstwerke eine anti-pagane Botschaft verborgen ist. Und trotzdem können sie das Drama und, ja, das ‚Camp‘, den bizarren Humor gerade der Filme genießen. Schauen Sie sich den Film Midsommar an, er ist eine perfekte Nachbildung der Literatur um 1890 herum, denn er bedient genau dieses Thema: Der zivilisierte Fremde landet bei einer ländlichen Gemeinschaft und merkt langsam, wie diese auf eine tödliche Art böse ist.

Literaturkritik.de: Das ist ja ein zentrales Motiv in Folk-Horror-Narrativen: der Außenseiter, der in eine abgelegene Gemeinschaft kommt, die über ein eigenes Glaubenssystem verfügt und ihn dann in ein tödliches Ritual verwickelt…

Hutton: Ja, genau. Paganismus ist nicht unbedingt die Rahmung des Narrativs. Tatsächlich gehe ich davon aus, dass viele Menschen gerade auch konventionellere Abhandlungen von christlicher Kosmologie in das Genre packen würden. Sehen Sie sich einen der großen Klassiker des Folk Horror, Blood on Satan’s Claw an, in dem eine Dorfgemeinschaft im 17. Jahrhundert aus Versehen einen Dämon zum Leben erweckt, der sie zu Satanismus und Menschenopfern bringt. Aber auch hier werden letztlich traditionelle Werte und Vorstellungen verteidigt.

Literaturkritik.de: Haben Sie eine Vorstellung, warum Menschen heutzutage das Voraufklärerische, Heidnische so ängstigt?

Hutton: Ich denke, weil wir unwiderruflich auf eine Welt zusteuern, die sich aus verschiedenen Glaubenssystemen, verschiedenen Ethnien, verschiedenen Kulturen zusammensetzt, so dass die Menschen einem unendlichen Pluralismus ausgesetzt sind und letztlich auch die Wahl zwischen kulturellen oder religiösen Systemen haben. Und eine Menge Menschen haben große Probleme mit dieser neuen Realität. Ich will jetzt nicht mit dem allzu Offensichtlichen anfangen, aber in meinem eigenen Land ist ja dieses ganze Phänomen, die EU zu verlassen, vor allem eine Reaktion auf die Angst vor dem Fremden und vor dem Neuen. Und es war ja vor allem die Angst vor unregulierter Immigration, die so viele Menschen dazu bewogen hat, für das Verlassen der EU zu votieren. Es existiert eine große Angst vor dem, was das 20. Jahrhundert vollbracht hat, nämlich Grenzen zu öffnen, Normalität zu zerstören und Hegemonien zu destabilisieren.

Literaturkritik.de: Lassen Sie uns über ein anderes Phänomen sprechen, über das Sie ihr jüngstes Buch verfasst haben und das auch ein wichtiges Thema im Folk Horror ist: die Hexe. Einerseits gilt sie als Botin des Bösen, andererseits wird sie in heutiger Zeit immer mehr zum Symbol des Feminismus.

Hutton: Ich würde sogar vier verschiedene Vorstellungen von Hexen ausmachen, die in der Gegenwart koexistieren, die aber auch im Widerspruch zueinander stehen. Die gängigste Vorstellung ist, dass die Hexe jemand ist, die Magie dafür verwendet, anderen Menschen wehzutun. Zweitens verwendet die Hexe jegliche Art von Magie, gut oder böse – wobei man hier zwischen ‚white witches‘ bzw. ‚good witches‘ und ‚black witches‘ bzw. ‚bad witches‘ unterscheidet. Diese beiden Vorstellungen kursieren bereits seit Jahrhunderten.
Nun gibt es aber dazu noch zwei moderne Vorstellungen: Zum einen wird die Hexe als feministisches Symbol angesehen, eine nonkonformistische, unabhängige Frau, die von der gesellschaftlichen Mehrheit verfolgt wird, vor allem von den Männern, weil sie sich gegen diese Mehrheitsmeinung wehrt. Wie Sie bereits angedeutet haben, hat die Hexe eine intrinsische, feministische Qualität. Sie ist eines der wenigen Symbole von unabhängiger weiblicher Macht, die ja von der europäischen Kultur bis heute unterdrückt wird. Die vierte Definition schließlich besagt, dass die Hexe eine moderne heidnische Religion ausübt, in der es um die Anbetung der Natur, bzw. einer Göttin oder einem Gott, die der Natur verbunden sind, geht. Natürlich passen diese Definitionen nicht zusammen, aber das trägt dazu bei, dass die Spannung und auch die Unsicherheit in Bezug auf die Hexe in der modernen Welt auf den Zusammenprall dieser doch sehr unterschiedlichen Definitionen zurückzuführen sind.

Literaturkritik.de: Wie beurteilen sie das Bild der Hexe in zeitgenössischen Folk-Horror-Filmen? Ich habe in einem Interview mit Ihnen gelesen, dass Sie beispielsweise Robert Eggers Film The Witch nicht sonderlich schätzen…

Hutton: Hexen werden auf verschiedenste Weise dargestellt, so dass ich mit einigen dieser Darstellungen zufrieden bin, mit anderen weniger. Sehr gut gefallen mir die Hexen in TV-Serien wie Buffy oder Sabrina, denn das sind sehr positiv gezeichnete Hexen. Mit der Darstellung in The Craft bin ich immerhin zu 50% zufrieden. Die Gründe für meine Abneigung gegenüber The Witch liegen zum einen darin, dass der Film sehr düster ist. Fast alle Hauptfiguren sterben schließlich auf schreckliche Art, eine nach der anderen, nur um eine Waise zurückzulassen, die dann zur Satanistin wird. Ich bin aber auch jemand, der fröhliche Filme mit Happy-Ends mag.
Aber es gibt zum anderen noch einen tieferen Grund: Der Film rehabilitiert das im 16. und 17. Jahrhundert gezeichnete Bild der Hexerei und erinnert dabei an die Märchen der Gebrüder Grimm: Frauen stehlen und ermorden Kinder, um sie dann in einem Zaubertrank zu verkochen. Darüber hinaus wollen sie Menschen verletzten und Böses tun, um ihren satanischen Meister zu dienen, der dann auch noch die Form eines Ziegenbocks annimmt. Und zu guter Letzt rekrutiert man auch noch einen jungen, attraktiven Teenager. Aber ich sehe schon ein, dass diese Art von Film ein großes Publikum anspricht, weil sie gute Stories haben und auch gut gemacht sind. Und The Witch hat zudem noch ein sehr einnehmendes, klaustrophobisches Setting sowie großartige Schauspieler. Ich sehe aber auch, wie der Film im amerikanischen Bible Belt sicher gut ankommt, weil hier eine sublime christliche, anti-pagane, anti-satanistische Botschaft enthalten ist. Sicher werden aber auch ein  paar Satanisten erfreut sein, denn ihrer Meinung nach gewinnen ja am Ende die Guten!