Cliffhänger mit Kippmechanismus.
Colin Niel zeigt in „Nur die Tiere“ seinen virtuosen Umgang mit Krimikonventionen
Von Sabine Haupt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLange habe ich keinen Krimi mehr gelesen. Diesen zunächst nur, weil ich mich aus persönlichen Gründen für das französische Zentralmassiv interessiere, jene von erloschenen Vulkanen durchzogene Gebirgsregion im Südosten Frankreichs, die zu den schönsten, aber auch den ärmsten und kulturell rückständigsten Gegenden des Landes gehört. Der in Frankreich recht bekannte, für seine „Romans noirs“ mehrfach preisgekrönte, heute in Marseille lebende Autor Colin Niel ist studierter Evolutionsbiologe, hat, bevor er mit der Schriftstellerei begann, als Agrar- und Forstingenieur im Bereich Biodiversität gearbeitet und einen Nationalpark in der Karibik geleitet. Niel kennt sich aus mit der Natur. Mit der tierischen wie mit der menschlichen. Sein Roman Seules les bêtes (deutsch: Nur die Tiere) aus dem Jahr 2017 ist mit zahlreichen Auszeichnungen und einer Verfilmung (2019, Regie: Dominik Moll) sein bisher erfolgreichstes Buch, das nun – in einer fast durchgehend überzeugenden deutschen Übersetzung von Anne Thomas – im Basler Lenos-Verlag erschienen ist.
Natürlich interessiert sich auch eine Krimi-Skeptikerin erst einmal vor allem für den Plot. Im Fall von Nur die Tiere sieht es zunächst so aus, als drehe sich die Handlung um einen klassischen Frauenmord: schöne, reiche Dame, die aufgrund ebenso unklarer wie banaler Lebensumstände in eine ihr gänzlich fremde Gegend verschlagen wurde, verschwindet, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Wer nun aber eine klassische Spurensuche mit klassischer Verbrecherjagd und klassischer Aufklärung erwartet, sieht sich schon bald enttäuscht.
Zwar arbeitet der Erzähler im ersten Kapitel des Romans noch hemmungslos mit simplen Cliffhängern, oder um die herkömmliche Narratologie zu bemühen, mit dem altbewährten Spannungsinstrument der sogenannten „zukunftsgewissen Vorausdeutung“ bzw. „Prolepse“, die der Leserschaft mit raunenden Andeutungen suggeriert, dass das Beste erst noch komme, à la:
An einem trockenen, heissen Sommermorgen machte ich mich daher auf den Weg zum Causse, ohne zu wissen, dass hier etwas seinen Anfang nahm, was mein Leben auf den Kopf stellen würde.
Man möge sich beim Lesen doch bitte etwas gedulden:
Wenn ich früher begriffen hätte, wie sehr die Geschichte auch mich betraf, hätte ich vielleicht verhindern können, was sich da anbahnte.
Weitere, teilweise mit dem erzähltechnischen Vorschlaghammer in den Text gerammte Vorgriffe, wie „Dass Michel heute nicht mehr da ist, ist meine Schuld“, halten die Lesenden bei der Stange. Kurz: der klassische Krimileser wird erst einmal dort abgeholt, wo er gewöhnlich steht, seine Gier nach Rätsel und Spannung mit altbewährten dramaturgischen und rhetorischen Tricks angefüttert und der Leser somit in Atem gehalten.
Was Colin Niel seinen Leserinnen und Lesern dann aber bietet, ist an Virtuosität kaum zu übertreffen. Einige französische Rezensionen loben (völlig zu Recht!) den polyphonen Charakter des Romans, der in fünf separaten Kapiteln das Geschehen aus fünf verschiedenen Perspektiven erzählt, die bis in die Feinstruktur der Sprache als jeweils höchst plausibel inszenierte, individuelle Wahrnehmungen erscheinen. Doch das eigentlich Herausragende von Nur die Tiere ist der sagenhaft originelle und an keiner Stelle auch nur annähernd vorhersehbare Plot, der, je weiter die Handlung fortschreitet, auch keine Cliffhänger und Vorausdeutungen mehr benötigt.
Was den Bericht der Sozialarbeiterin Alice, durch deren Brille man detailliert über die sozialen Probleme der französischen Provinz informiert wird, mit dem des Einzelgängers Joseph verbindet, der auf über eintausend Metern in archaischer Einsamkeit mit seinem Vieh lebt, und mit dem der jungen Borderlinerin Maribé, deren zufällige Ähnlichkeit mit einer bekannten Pornodarstellerin den Dreh- und Angelpunkt des höchst subtil ausgetüftelten Verhängnisses bildet, sowie wiederum deren Verbindung zu Armand, einem in Westafrika lebenden Internetganoven, der mit seinen Fakeprofilen Europäern das Geld aus der Tasche zieht, und dem einfältigen Bauern Michel, der mit seiner umwerfend naiven Liebesfähigkeit die Machenschaften der anderen Figuren beschämt, ist nicht nur überaus raffiniert konstruiert, sondern tatsächlich bis zuletzt spannend und überraschend.
Dabei steht das Rätsel um den Kriminalfall gar nicht wirklich im Zentrum der Handlung. Denn schon im zweiten Kapitel erfährt man, wo sich die Verschwundene befindet, und man ahnt, dass für dieses seltsame Verbrechen weder ein tierischer Trieb noch ein manipulatives, menschliches Gehirn verantwortlich sind. Die kriminelle Energie der Beteiligten ist normal bis gering. Trotzdem kommt es zu einem Verbrechen. Fazit: Das Leben im Allgemeinen und gewisse Verbrechen im Besonderen sind eine fatale Verknüpfung unglücklicher Umstände, dummer Zufälle, zu spät entdeckter Missverständnisse und Fehlinterpretationen. Vielleicht könnte man die Dramaturgie dieses Erzählers mit dem Geschick eines Profitüftlers vergleichen, der sein Puzzle von allen vier Seiten gleichzeitig beginnt, den Schlussstein aber erst dann aus der Tasche zieht, wenn kaum noch jemand daran glaubt, dass diese merkwürdige Gemengelage aus völlig unterschiedlichen Blickwinkeln je einen in sich stimmigen – und das heißt beim Krimi natürlich auch logisch befriedigenden – Abschluss erfahren wird. Doch soviel darf verraten werden: Es gibt sie, die große, alles an seinen Platz stellende Auflösung. Am Ende bleibt keine den Plot bzw. die fatale Verstrickung betreffende Frage offen.
Das aber ist nur die eine Ebene des Romans. Denn neben der dramaturgischen, geradezu bewundernswerten Geschlossenheit herrscht noch ein zweites Prinzip, das auf Leserinnen und Leser wie mich vermutlich eine noch viel stärkere Wirkung ausübt. Ich habe mir zwar abgewöhnt, von „psychischen Abgründen“ zu sprechen, wenn es um literarische Figuren geht, muss aber gestehen, dass ich hier bei diesem Text, der so ganz ohne Ironie und doppelten Boden auskommt, der sein Personal ernst nimmt, als wäre es gewerkschaftlich gegen den Autor organisiert, immer wieder das Gefühl hatte, in etwas hineingezogen zu werden, dessen Dimensionen nur schwer abzuschätzen sind.
Das beginnt schon bei der Landschaft, die in atmosphärisch verdichteten, immer haarscharf an einer vielleicht allzu offensichtlichen Symbolik vorbeischrammenden Beschreibungen das Dunkle, Kalte, Karge und Wilde des Gebirges beschwört, den Schneesturm, der um die in die Felsen gehauenen Häuser tobt, die unheimlichen Karsthöhlen, aus deren Tiefen die Stimmen der Toten emporsteigen, die Gänsegeier im blauen Berghimmel, deren „riesige Schwingen reglos im Höhenwind“ schweben – das alles hat schon einen gewissen, oft durchaus originellen Gothic-Charme: „Die grauen, gerupften Bäume an den Talhängen erinnerten mich an Gitterstäbe einer Zelle“. In diese Kulisse stellt Niel sodann die dazu gehörigen Typen, besonders die Männer passen gut zur Landschaft: wie sie sich dem Alkohol hingeben, Frau, Kind und Vieh vernachlässigen und das Messer beim Essen mit der Faust umklammern, sich verschulden und schließlich in der Scheune erhängen. Man glaubt das zu kennen, auch aus der deutschsprachigen „Heimatliteratur“.
Doch Niel geht einen entscheidenden Schritt weiter. So trägt der polyphone Ansatz des Romans zunächst einmal dazu bei, dass alles Fremde oder Unheimliche aus einer anderen Perspektive nah und vertraut erscheinen kann, das gilt für den Silikonbusen der jungen Schneiderin, die keineswegs ein Pornosternchen ist, genauso wie für den gruseligen „Typ mit dem Dachschaden“, der für die anderen ein „typischer Mörder“, in Wahrheit aber ein Mensch von schier überirdischer Fürsorglichkeit ist.
Sodann aber entwickelt sich aus diesem multiperspektivischen Spiel mit dramaturgischen Dreh- und Kippmechanismen eine in aller Ernsthaftigkeit durchdeklinierte Transgression emotionaler, moralischer und gesellschaftlicher Tabus. Damit meine ich nicht den banalen Ehebruch, auch nicht die obsessive homosexuelle Liebe zwischen den beiden Frauen oder das Online-Dating des vereinsamten Bauern. Darüber regt sich auch im Massif central niemand mehr auf. Aufwühlend und geradezu betörend in ihrer detailliert beschriebenen und damit emotional nachvollziehbaren Skurrilität aber sind zwei andere Grenzüberschreitungen der Libido, beziehungsweise der Liebe.
Mir scheint, dass genau hier auch die Aktualität des Romans zu suchen ist. In der Frage nämlich, ob es in einer Gesellschaft vereinsamter, einander grundsätzlich entfremdeter Menschen nicht letztlich klüger ist, eine Leiche oder ein Fake zu lieben als einen realen Menschen. Die über mehrere Seiten ausgebreitete Schilderung einer unglaublich anrührenden Nekrophilie, die vielleicht ganz entfernt an berühmte Passagen aus Charles Bukowskis Love is a Dog from hell oder Georges Batailles Le bleu du ciel erinnert, ganz sicher aber an Hitchcocks Thriller Psycho: „Es machte mich ein bisschen traurig, aber vielleicht war das hier die einzige Beziehung, zu der ich je fähig wäre. Über eine Tote wachen, wie damals bei Maman“, zeigt den Verlauf eines absolut „unschuldigen“, absichtslosen, auch hilflosen Tabubruchs. Ähnliches gilt für die Entscheidung des Bauern Michel, sich emotional ganz der Virtualität hinzugeben:
Ich weiss, dass Amandine nicht existiert. Hat ein bisschen gedauert, bis ich’s kapiert hatte, doch ja. Aber das ist nicht das Problem, jetzt, wo ich’s weiss. Das Problem ist, dass ich die Realität, die mich da angesprungen hat, nicht will, glaub ich. Ja, genau, ich erkenne sie nicht an.
Bei manchen Details, gerade auch, was die Vorgehensweise der afrikanischen Internetbetrüger betrifft, ist offensichtlich, dass sie recherchiert wurden, beispielsweise wenn der Erzähler einen speziellen Polizeigriff beschreibt, der bei Verhaftungen verwendet wird, weil die Polizisten „nicht genug Handschellen haben“. Und so dankt der Autor am Ende seines Buches auch ganz ausdrücklich seinen „Kundschaftern von nah und fern“.
Am Schluss erlaube ich mir noch ein paar Bemerkungen zur Übersetzung, die mich insgesamt überzeugt, mir stellenweise aber einen Tick zu vorsichtig erscheint. Die leitmotivische „Tourmente“ überlässt die Übersetzerin ganz dem Französischen. „Tourmente“ ist der Name für den lokalen, von allen gefürchteten Wintersturm. Das Wort hat im Französischen aber auch eine psychische Dimension, es bedeutet Unruhe, innerer Aufruhr, Tumult. Auch der Titel des Romans ist im Französischen mehrdeutig. Seules les bêtes heißt soviel wie „Allein die Tiere“ oder „Die Tiere allein“. Hingegen ist Nur die Tiere eine semantische Verengung, die den Aspekt der Vereinsamung unterschlägt.
Im vierten, dem Afrikaner Armand gewidmeten Kapitel stößt die Übersetzung dann ganz offensichtlich an ihre Grenzen. Sie tut dies zwar auf redliche und transparente Weise, indem sie den jeweiligen Originalausdruck aus dem im Senegal oder an der Elfenbeinküste gesprochenen Französisch im deutschen Text tel quel beibehält und durch Fußnoten kommentiert, doch fragt man sich, ob es für das eine oder andere umgangssprachliche Wort nicht doch eine durchaus akzeptable Entsprechung im Deutschen gegeben hätte, wie Großkotz, Aufschneider oder Blender für „faroteur“, oder Abzocker und Absahner für „brouteur“.
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