Schach dem König

Richard Forster und Ulla Steffan geben unter dem Titel „Auf die Dame kommt es an“ eine Anthologie mit 15 Schachgeschichten heraus

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur das Theater kennt „Bretter, die die Welt bedeuten“. Auch das Schachbrett ist für viele Menschen wichtig mit seinen 64 Feldern für anfangs 32 Figuren, davon je die Hälfte in Weiß und Schwarz. Fünfzehn Schachgeschichten – oft Ausschnitte aus längeren Texten – versammelt eine Anthologie, die der Schweizer Schachexperte Richard Forster gemeinsam mit Ulla Steffan, einer Fachfrau für Verlagswesen, herausgegeben hat. Der Titel Auf die Dame kommt es an erinnert daran, dass im Schach die Damen besonders beweglich und schlagkräftig sind, auch wenn sich die Männer mit dem Königstitel schmücken, dem Spiel den Namen gaben („Schah“ – persisch: „König“) und ihre Kapitulation das Spiel beendet. Im Widerspruch zum Titel widmet sich keine Geschichte der gewaltigen Macht der Dame beim Schach. Einige Geschichten stammen von literarischen Großmeistern. Wie immer beim Schach gibt es Überraschungen und Entdeckungen.

Aus dem im deutschen Sprachraum wichtigsten literarischen Zeugnis für die Bedeutung des Schachspiels, der Schachnovelle von Stefan Zweig, wird ein Ausschnitt vorgestellt, aus dem nicht hervorgeht, woher der erfolgreiche Widersacher des arroganten Weltmeisters seine Erfahrungen hat und warum er sich nur in eine einzige kollektive Partie als Berater einmischt. Wer den tragischen Hintergrund nicht kennt, lese die Novelle.

Von Agatha Christie findet sich unter dem Titel Das Schachproblem ein Auszug aus dem Kriminalroman Die großen Vier. Hier wird ein Läufer auf dem Schachbrett zur todbringenden Waffe. Die große Dame der Kriminalliteratur begnügt sich nicht mit dieser Requisite, sondern macht das Fehlen von Schachkompetenz zum Mordmotiv. Der raffinierte Täter wird überführt, weil er etwas nicht berücksichtigt hat, was zwischen Schwarz und Weiß liegt: die kleinen grauen Zellen von Hercule Poirot.

Das Fragment Der Schachspieler stammt von Friedrich Dürrenmatt. Wie oft bei diesem Schweizer Autor geht es um kriminelle Menschen, die als Richter oder Staatsanwalt dazu berufen wären, die Gesellschaft vor Verbrechen zu schützen. Gewissenlose Gewalttätigkeit gegen nahestehende Menschen, die wie Schachfiguren behandelt werden, hinterlässt einen beklemmenden Eindruck.

Entspannter liest man die Satire Schachmatt des Amerikaners Art Buchwald, in der Schachweltmeister Bobby Fischer dem US-Präsidenten Nixon bei einem Telefonat mit so unverschämten Forderungen zusetzt, dass die CIA den Befehl erhält, das Flugzeug mit Fischer nach Kuba zu entführen.

Samuel Becketts Text Endons Offensive ist ein Auszug aus dem Roman Murphy und enthält Annotationen aus einer surrealen Schachpartie im Irrenhaus. Jedoch lohnt es nicht, die parodistische Auseinandersetzung zwischen einem Aufseher und einem Insassen nachzuspielen.

Der von zwei berühmten sowjetischen Satirikern erfundene Hochstapler Ostap Bender, diesmal angeblicher Schachgroßmeister, verspricht den Bewohnern einer Kleinstadt das Blaue vom Himmel samt Flughafen und Hauptstadtstatus, wenn sie ihn bei der Organisation von Schachturnieren unterstützen. Immerhin streicht er 20 Rubel „für die ersten Telegramme“ ein (Ilja Ilf & Jewgeni Petrow: Der interplanetare Schachkongress).

Ebenfalls Annotationen finden sich im Text Leben à la Taubenhaus, einem Auszug aus Wie Wanja Meister wurde von Emanuel Lasker. Dieser Autor war der zweite Schachweltmeister und behauptete den Titel 27 Jahre lang – Weltrekord! Und wie lebt man nach der Art von Taubenhaus? Indem man in Paris jeden Abend Schach spielt, meist um einen Franc pro Partie, und in tiefer Armut endet. 

Auch jeder weitere Beitrag verspricht eine originelle Sicht auf das Schachspiel: Schwelender Hass und Neid unter befreundeten Schachspielern mit plötzlich ausbrechendem Antisemitismus (Kurt Guggenheim: Applies Tod). Ein Schachclub als Treffpunkt gegen die Einsamkeit für philosophierende und politisierende Migranten (Jean-Michel Guenassia: Kiebitz möglich). Schachpartien auf Notizzetteln als Möglichkeit für den Sohn, die Zuwendung des abweisenden Vaters zu gewinnen (Thomas Glavinic: Eine Nachtpartie). Schach als bezwungene Sucht, die beim Lesen eines Textes von Nabokov über die Mühsal und Glückseligkeit beim Entwurf eines Schachproblems wiederkehrt (Ernst Strouhal: In der Nabokovfalle). Eine mehr als 18 Jahre lange Schachlaufbahn mit frühen Erfolgen und später Flucht in einen Kurort (Vladimir Nabokov: Lushins Verteidigung). Zurücknahme eines unmenschlichen Spieleinsatzes durch Karl den Großen bei einer Schachpartie im Aachen des Jahres 782 (Katherine Neville: Das Montglane-Spiel). Überraschende Eröffnungskenntnisse eines jungen ehemaligen Schachmeisters, der nervlich außerstande ist, gegen einen Menschen anzutreten (Paolo Maurensig: Die Lüneburg-Variante). Die aufreibende Wirkung einer „Hängepartie“, also eines bei Turnieren jahrelang üblichen vertagten Schachspiels, mit nächtlicher Analyse und Grübelei (Arturo Pérez-Reverte: Die Hängepartie).

Turnierschach und Simultanschach (einer gegen viele) kommen in der Anthologie vor, das vor der Übermittlung per Email und der Analyse per Computer gepflegte Fernschach per Post nicht. Vielleicht finden sich in einer Neuauflage auch „Fernschachdramen“, wie ein Weltmeister in dieser Disziplin, Dr. Fritz Baumbach aus der DDR, sein Buch nannte. Eine Geschichte könnte „Schachmedaille für eine Staatsleiche“ heißen: Die 1990 untergegangene DDR gewann 1995 die Bronzemedaille bei der 10. Fernschacholympiade. Ein anderer Text würde dem Titel „Auf die Dame kommt es an“ gerecht – falls es denn eine Christel von der Post war, die dem Fernschachspieler bei der Briefkastenleerung seine Postkarte mit einem verfehlten Schachzug zurückgab, so dass er ihn korrigieren konnte und zu Meisterehren kam.

Titelbild

Richard Forster / Ulla Steffan (Hg.): Auf die Dame kommt es an. Schachgeschichten.
Unionsverlag, Zürich 2021.
192 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783293209213

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