„Hier können die ältesten Dinge noch existieren”

Folk-Horror in Adam Nevills Romanen „The Ritual” und „The Reddening”

Von Sebastian WeirauchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Weirauch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der englische Autor Adam LG Nevill hat seit den frühen 2000er-Jahren zahlreiche mit Preisen ausgezeichnete Werke des „supernatural horrors” veröffentlicht und sich weit über die Grenzen dieses im englischen Sprachraums so selbstverständlichen Genres hinaus einen Namen gemacht. Ins Deutsche hingegen wurde vom Autor kaum etwas übersetzt. 

Nevills Schreibstil orientiert sich an der so genannten Spannungsliteratur, aber auch an Klassikern wie Arthur Machen, Algernon Blackwood oder H.P. Lovecraft. Seine Romane und Erzählungen sind nicht den experimentellen Spielarten des Horror-Genres zuzuordnen, wie man sie bei Mark Z. Danielewski (Das Haus), H. C. Artmann (Schauerromane), Ror Wolf (Die Vorzüge der Dunkelheit. Horrorroman) oder Elfriede Jelinek (Die Kinder der Toten) finden kann. Auch ist sein Stil schnörkelloser und filmischer als jener der literarischen Fantastik deutschsprachiger Autoren wie Susanne Röckel (Der Vogelgott) oder Daniel Kehlmann (Beerholms Vorstellung). 

Der 2017 verfilmte Roman The Ritual sowie Nevills 2019 publizierter, bisher nicht ins Deutsche übersetzte Roman The Reddening sind dem Subgenre des Folk-Horrors zuzurechnen. Beide Werke formulieren das vor allem in Robin Hardys Film The Wicker Man (1973) oder der Verfilmung von Ronald Bassetts Roman Witchfinder General (1966/68) definierte Genre äußerst eigensinnig aus. Grund genug, beide Texte einer eingehenderen Betrachtung zu unterziehen. 

The Ritual (2011), dessen deutsche Fassung den Titel Im tiefen Wald trug und von Heyne eher als Thriller vermarktet wurde, erzählt von der Reise einer englischen Männergruppe, deren Mitglieder in einem schwedischen Nationalpark als Backpacker unterwegs sind. Im Verlauf der Wanderung zeigen sich die Verwerfungen und die Entfremdung zwischen den nunmehr erwachsenen Figuren, deren Konstellation von Nevill auf eine gekonnte Weise ausgeleuchtet wird. 

In der Gruppe gibt es auf den ersten Blick klare Gewinner und Verlierer: Dom ist Marketingleiter in einer Bank. Phil hat es zu einem Haus im Wimbledon und einer Ferienwohnung auf Zypern gebracht. Luke, der Protagonist, arbeitet hingegen in einem Plattenladen und hält sich in der Gruppe allein durch das Wohlwollen des vierten, unscheinbarsten Mitgliedes Hutch. Dom und Phil aber gilt Luke als „Psychopath”. Er hat mit Aggressionen zu kämpfen. Augenscheinlich ist er derjenige, der als rauer Charakter in der Wildnis überlebensfähiger ist als in der modernen kapitalistischen Gesellschaft mit ihren Statussymbolen und auf Erfolg getrimmten Lebensläufen. 

Doch The Ritual wäre kein Horrorthriller, wenn dieser Ausflug nicht in eine Katastrophe münden würde, die alle bisherigen Verhältnisse auf den Kopf stellt. Das Unglück nimmt seinen Lauf, als die vier Männer beschließen, eine Abkürzung durch den Wald zu nehmen. Ein „jungfräulicher Wald” mit „prähistorisch anmutenden Baumstämmen”, die seit dem „Ende der Eiszeit” unberührt geblieben sind. „Heutzutage”, so heißt es, „werden Wälder nicht mehr so alt. Man lässt sie nicht.” 

Ohne es zu wissen, betreten die vier Wanderer feindliches Territorium, das sie durch ihre Anwesenheit entweihen. Bald entdecken sie einen ausgeweideten Tierkadaver in einem Baum; ein erster Hinweis auf die in den Wäldern lebende Kreatur. Statt jedoch umzukehren, wollen die Männer den Wald so schnell wie möglich durchqueren. Doch die Zeit vergeht wie im Flug und sie kommen nicht schnell genug voran: „Dieser Wald hat die Menschen, die hier lebten, verrückt gemacht. Weil dieser Ort nicht dafür gedacht ist, dass hier Menschen existieren.” 

Die internen Spannungen der Gruppe wachsen. Das Essen wird knapp. Zwischen Luke und Dom kommt es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung und ihm wird endgültig klar, „dass seine Freundschaft zu den anderen drei Männern für immer beendet” ist. Hier ist Nevills Geschichte auch ein Survival-Horror: Die Werte der Zivilisation werden brüchig, zusehends ist der „Reptilienteil” des menschlichen Gehirns gefragt. 

Auf ihrem Irrweg stoßen die Vier auf die Spuren eines für den Folk-Horror typischen Kultes, der eine grausame Gottheit verehrt, die anders als bei H.P. Lovecraft nicht interstellaren Ursprungs ist und auch nicht wie bei Arthur Machen antiken Mythologien entstammt. Sie ist ein Überbleibsel prähistorischer Zeiten und eines „Megalithbau[s]” der Bronzezeit. Vorgeschichtlich, aber wie die Wesen des Cthulhu-Mythos zugleich unnatürlich. 

In einem Holzhaus, in dem die Gruppe nächtigt, entdeckt man eine Reliquie, die das ziegenartige Wesen darstellt. Und wie in einer klassischen britischen gothic novel stößt die Wanderergruppe alsbald auf eine mittelalterliche, verlassene Kirche, in deren Gemäuer sie wesentlich ältere Skelette von ermordeten Menschen findet. In dieser nur allzu symbolischen Stätte erweisen sich die Zivilisation, aber auch der christliche Monotheismus und Humanismus als zerbröselnde Fassaden. 

Die Kulthandlungen, das titelgebende Ritual, werden seit jeher für das Ungeheuer abgehalten, das der Reihe nach Hutch, Phil und dann Dom auf bestialische Weise tötet, um sie wie Tierkadaver in die Bäume zu hängen. Im Angesicht dieser Extremerfahrung tritt auch zwischen den Freunden eine verborgene Wahrheit an die Oberfläche – dies ist durchaus ein genretypisches Moment zivilisationskritischer Romantik, das bei Nevill allerdings wohl dosiert eingesetzt wird. Als nur noch Dom und Luke übrig sind, gesteht dieser ihm zu, dass man ihn für seine Eigenwilligkeit eigentlich stets bewundert habe. Und wie man erfährt, lag das Leben von Phil und Dom eigentlich schon lange in Trümmern. Ersterem drohte die Scheidung und die Pleite, letzterer musste sich um seine chronisch depressive Partnerin kümmern und rechnete täglich mit der Entlassung. 

Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Luke der einzige Überlebende ist, läuft der erste Teil des Romans unweigerlich auf die Konfrontation mit der Bestie hinaus, die dramaturgisch geschickt für nur wenige Augenblicke in Erscheinung tritt. Der zweite Teil beginnt, nachdem es Luke gelungen ist, das Wesen zu verwunden, wobei er selbst allerdings schwer verletzt wurde und in Gefangenschaft geriet. Dieser Teil ist in der von David Bruckner inszenierten Verfilmung gänzlich anders gestaltet und hat die Anhänger von Nevills Roman gespalten. 

Verwunderlich ist dies nicht: Ist der erste Teil von The Ritual atmosphärisch geschlossen um den Kontrast von Kultischem und Modernem sowie um das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Mensch und Monster herum aufgebaut, so stößt Luke im zweiten Teil auf eine eigentümliche Siedlung. Hier lebt eine letzte Anhängerin des originären Kultes, die sich später als hybrides Mischwesen von Mensch und Tier zu erkennen gibt und das Monstrum mit ihrem Gesang herbeirufen kann. 

Bei der Frau haben sich drei gefährliche, aber äußerst profane Gestalten eingenistet: Loki, Fenris und Surtr. Drei jugendliche Mitglieder einer Black-Metal-Band, die schon einige Morde an Priestern begangen haben. Nevill hat hier gut recherchiert, vor allem über die offenkundige Schnittstelle der Folk-Horror-Thematik zu den kriminellen Entwicklungen der Black-Metal-Szene in den 1990er und 2000er-Jahren.

Die drei modernen Kultisten sind zwar gefährlich, aber auch anmaßend und lächerlich, da sie das uralte Wesen für ihre Ideologie vereinnahmen wollen. Eine Ideologie, die zwischen White Supremacy, Antisemitismus, Schwulenhass, Satanismus und Anarchismus angesiedelt ist. Sie verfolgen den Plan, Luke dem Wesen zu opfern, obgleich sie ihn auch respektieren, weil er ja schließlich bisher überlebt hat – sie sind Verfechter eines gnadenlosen Sozialdarwinismus, wenn sie auch selbst behütete Kinder der Mittelschicht sind. Ohne hier nun alles preisgeben zu wollen: Luke erweist sich auch in dieser Lage als Überlebenskünstler und bekommt schließlich seine direkte Konfrontation mit dem Wesen, das sich als „Moder”, sprich als archaische Muttergottheit entpuppt. 

Gegen die zweite Hälfte von The Ritual lässt sich einwenden, dass Nevill atmosphärisch und dramaturgisch hinter das Niveau der ersten zurückfällt. Die drei Black-Metal-Kultisten könnte es in dieser Form tatsächlich geben. Sie sind dem Autor aber weniger plastisch gelungen als die Männergruppe des ersten Teils. Und in dem Maß, wie Nevill die Verbindung des Folk-Horrors zu gegenwärtigen Ideologien thematisiert, schwindet das Auratische des Szenarios; nicht völlig, aber doch spürbar.

Die Verfilmung unter dem gleichen Titel hält sich bis auf den zweiten Teil stark an das Szenario der Vorlage, interpretiert die Story und die Figurenkonstellation jedoch neu. Was Nevill ausspart und nur einmal vage andeutet, nämlich eine Traumatisierung seines Protagonisten Luke, steht im Film im Zentrum. Dort wird er mehrere Monate vor dem Ausflug am Ende eines gemeinsam verbrachten Abends Zeuge, wie ein weiteres Mitglied des Freundeskreises beim Besuch eines Kiosks von Räubern ermordet wird. Er selbst überlebt, aber hat dem Freund gegen die brutalen Täter nicht helfen können. Luke fühlt sich als Feigling. Die anderen werfen ihm unverhohlen vor, den Freund im Stich gelassen zu haben. 

Als Haupfigur trägt Luke Anzeichen eines Traumas. Anders als im Buch rauchen nicht alle vier Männer aus dem Freundeskreis ununterbrochen, nein, nur er tut dies, wodurch sein aufgebrachter Zustand verdeutlicht wird. Je länger die Auseinandersetzung mit der Ziegengottheit aus den Wäldern andauert, desto mehr verschwimmen städtische Umgebung und urwüchsige Natur. Im Wald tauchen Elemente des Ladens aus London mit seinen Regalen und Leuchtstoffröhren auf. Der Kampf gegen das beeindruckend inszenierte Monster erscheint als Verlängerung der Brutalität aus der Großstadt jener Nacht. Das klingt nach einem Tick zu viel, ist visuell allerdings überzeugend umgesetzt. 

Die Siedlung mit den Metal-Fans aus dem zweiten Teil des Buches ist im Film durch eine Art Wikingerdorf ersetzt worden, in dem Menschen aus einer mittelalterlich wirkenden Vergangenheit den Tod und die Zeit zum Stillstand gebracht haben, indem sie der vermeintlichen Gottheit Opfer bringen. Doch zugleich sind sie Gefangene dieses faulen Zaubers. Sie müssen arglose Fremde an das Wesen verfüttern, wenn sie nicht selbst von ihm verspeist werden wollen. 

Luke wird Zeuge, wie die Bewohner Dom dem Monster opfern, das sich zuvor listenreich seines Geistes bemächtigt und ihm vorgegaukelt hat, seine Ehefrau zu sein. Ihn hingegen will man aufnehmen, was im Film anders als im Buch nicht als Wertschätzung für sein Überleben erscheint, sondern wie die Wiederholung einer Traumatisierung. Der untoten Dorfgemeinschaft beizutreten und sich zum Diener des Wesens zu machen, wäre wohl das Pendant zu einer toxischen Abhängigkeitsbeziehung und ein Verharren in der eigenen, bis in die Ewigkeit ausgedehnten Ohnmacht. Die Unsterblichkeit würde durch einen Mangel an Lebendigkeit erkauft sein, ähnlich wie beim Phänomen des Vampirismus. 

Das Wesen scheint Lukes Schwäche von Anfang an gewittert zu haben. Er aber bleibt stark und kann entkommen. Dabei brennt er das Dorf mit den darin wohnenden Gestalten nieder. Es kommt zu einem Kampf mit der Kreatur, deren verdrehte Physiognomie die natürlichen Proportionen pervertiert. Luke kann sie nicht besiegen, ihr aber entwischen, denn der Waldrand und der anbrechende Tag bilden für sie eine magische Grenze, die unüberschreitbar bleibt.

Der Film The Ritual intensiviert trotz ein paar Längen den Spannungsbogen des Buches. Nahe am Zeitgeist wird der Horror als Traumaerzählung verstanden und das Folk-Element des wahnhaften Kultes als toxisches Gefüge – und bekanntermaßen suchen sich Sekten und Kulte tatsächlich versehrte Menschen, um sie von sich abhängig zu machen und zu manipulieren. Luke ist damit nicht nur ein „Survivor” im Sinn des Survival-Horror-Genres, sondern auch im Kontext des Traumadiskurses. 

Man kann sich des Eindrucks allerdings nicht erwehren, dass diese Verknüpfung schon in Nevills Buch mitschwingt, wenngleich sie dort anthropologischer, ja kollektiver gefasst wird. Dass im Buch mit dem ideologiekritischen Blick auf den Black-Metal ein reflektierend-analytisches Moment obsiegt, hat dazu etwas typisch britisches, wie auch Nevills Sprache trocken, präzise und nur in wenigen Passagen überfrachtet oder gar blumig wirkt. Einige Abschnitte von The Ritual lesen sich sogar recht poetisch, manche wechseln von der auktorialen Erzählweise in eine suggestive Du-Anrede, die aus einem archaischen Bewusstseinszustand heraus gehalten wird. 

Nevills 2019 publizierter und noch nicht ins Deutsche übersetzte Roman The Reddening knüpft motivisch an viele Momente von The Ritual an, ist aber in seiner Geschlossenheit das literarisch womöglich gelungenere Werk, zumal es Nevill gelingt, eine dichte Atmosphäre auf englischem Boden zu erzeugen und noch dazu vom Werdegang zweier recht unterschiedlicher Frauen zu erzählen. 

Alles beginnt in Brickburgh, wo prähistorische Höhlen entdeckt werden und noch etwas anderes: „Over five thousand individual animal and human bones, interred together.” Die Höhle war in früheren Zeiten eine „sustained butchery” und die „teeth marks on most of the examined bones are unmistakably human”. Einst hausten hier Kannibalen, die auch Frauen und Kinder umbrachten. Ein Kommentator vergleicht dies mit den „war crimes” der United Nations. In diesen Höhlen hat auch die titelgebende Farbe ihren Ursprung, ein rotes Pigment aus Eisenoxid, mit dem die Leichname einst bemalt wurden. 

Auch ohne The Ritual zu kennen, kann man sich also denken, worauf der reißerische Slogan auf dem Buchrücken hinauslaufen wird: „One million years of evolution didn’t change our nature”. Die beiden weiblichen Hauptfiguren Kat und Helene geraten im Verlauf der Handlung in den Bann einer prähistorischen Kraft, die einen brutalen Kult um sich versammelt hat, der Brickburgh längst unter seine Kontrolle gebracht hat. 

Anders als in den seit jeher verbreiteten Satanisten- und Ritualmordlegenden, die zuletzt von Extremisten und Verschwörungsgläubigen wie QAnon verbreitet wurden, ist der Kult in The Reddening eine recht konkrete und in den lokalen Drogenhandel verstrickte Organisation, die in dieser Form tatsächlich existieren könnte. 

Die erste Protagonistin, Kat, ist eine örtliche Lifestyle-Journalistin, die noch ganz gezeichnet ist von der toxischen Beziehung zu ihrem Ex-Freund Graham. Helene dagegen ist eine alleinerziehende Mutter, deren Bruder sich sechs Jahre vor dem Einsetzen der Handlung das Leben genommen haben soll. Sie beide zieht es auf je unterschiedliche Weise in das heruntergekommene Brickburgh, das sich nur durch die Strahlkraft der archäologischen Funde finanziell über Wasser halten kann – wobei die örtliche Presse die eher unangenehmen Details der Ausgrabungsstätte seit jeher tilgt wie sie auch zahlreiche Vermisstenfälle und Suizide in der Gegend herunterspielt. 

Helene entdeckt eine Tonbandaufzeichnung ihres verstorbenen Bruders, der als eine Art unzeitgemäßer Hippie für Portale wie „GaiaCries, a website for investigators of the earth’s ambient soundtracks” Naturlaute aufnahm. Darunter befindet sich eine verstörende Aufzeichnung aus der Nähe einer Ausgrabungsstätte mit einem seltsamen Geschrei: „An animal imitating a child?” Helene, die an Lincolns Selbstmord immer schon zweifelte, will mehr herausfinden. 

Kat wiederum soll jemandem aus dem Team der Entdecker der archaischen Kultstätte, Matt Hull, interviewen und findet ihn in einem paranoiden Zustand vor. Hull glaubt sich verfolgt, rote Handabdrücke finden sich an seiner Tür. Die Journalistin ist bereit ihm zu glauben, weil die rote Farbe und ihre Präsenz längst auch in ihre Albträume gesickert ist. 

The Reddening entfaltet hier eine synästhetische Ebene zwischen den unmenschlichen Klängen der vorzeitlichen Kreaturen und der roten Färbung. Damit wird auch ästhetisch ein moderner, eher rationaler Weltzugang aufgelöst und durch einen primitiveren, ja intuitiveren ersetzt, in dem Wahrnehmungsgrenzen verschwimmen. 

Nevills Roman folgt zu großen Teilen den beiden Frauenfiguren. Zwischendurch wird man als Leser allerdings auch Zeuge von Morden, die der Kult begeht. Er erscheint als rotbemalte, steinzeitliche Rotte, die ihre Opfer mit brutalster physischer Gewalt umbringt: „They hammered at her boyfried. He’d fallen and the red people had quickly formed a circle to smash their rocks into his body […]. Dunk. Thud. Dunk. Thud.”. Dieser Kult erinnert mehr an den selbst von den angeblichen „Wilden“ ausgegrenzten Stamm von Kannibalen in S. Craig Zahlers Bone Tomahawk (2015), als an das neu-heidnische Völkchen aus Wicker Man.

Alle Spuren und Hinweise führen schließlich zu Tony Willows, einem abgehalfterten Ex-Hippie, dessen Band „Witchfinder Apprentice” in früheren Zeiten als die „Black Sabbath of British folk rock” galten. Willows’ Name ist womöglich auch eine Anspielung auf Algernon Blackwoods einschlägige Erzählung The Willows (1907), wie seine Band an Ronald Bassetts Roman erinnert. 

Wie in The Ritual wird eine Verbindung zwischen Folk-Elementen und ihrer Verwurzelung in musikalischen Subkulturen gezogen − nur bemüht Nevill dieses Mal nicht den Black Metal, er geht vielmehr zurück zur Quelle; zu den Folk-Hippies und dem Folk-Rock der 1970er-Jahre, deren düstere Pendants in wahnhaften Sekten wie Charles Mansons The Family oder der Process Church of the Final Judgment zu suchen sind.  

Mit Willows’ Kult ist nicht zu spaßen: Als Kats neuer Freund Steve dem Gelände zu nahe kommt, nimmt man ihn und anschließend sie gefangen. Sie wird Zeuge, wie Steve vor ihren Augen abgeschlachtet, verspeist und undefinierbaren Kreaturen zum Fraß vorgeworfen wird. Anschließend soll sie Helene, mit der sie kurz zuvor Kontakt aufnahm, in eine Falle locken. Der Kult nimmt auch sie gefangen und will sie ins Meer werfen, damit alles wie ein Unfall aussieht. 

Beide Protagonistinnen erweisen sich aber wie Luke in The Ritual als Überlebenskünstler. Helene kann von Bord fliehen und überlebt gegen jede Wahrscheinlichkeit eine Marathon-Schwimmpartie, wobei ihr der Gedanke an die Rückkehr zur eigenen Tochter Kraft verleiht. Kat schafft es hingegen, endlich wütend zu werden und ihre Bewacher zu töten oder für alle Zeit zu verkrüppeln, wodurch sie selbst in den Bann der roten Farbe gerät. Obwohl sie sich anschließend an die örtliche Polizei wendet, die mit dem Übel unter einer Decke steckt, bringt man sie wieder auf das Gelände des Kultes zurück und auch Helene, welche ehrbarere Polizisten dorthin führen sollte, ist hier gegen ihren Willen angekommen. 

Dass der Kult in den Höhlen prähistorische Kreaturen entdeckt hat, denen er Opfer bringt, deutet sich im Roman bis dahin durch zahlreiche Indizien an, wobei nicht ganz deutlich wird, welche Gabe die Kultisten im Gegenzug von den Wesen erhalten. Abermals handelt es sich um eine Muttergottheit und um ihre Kinder, die bei den Anhängern zu Fruchtbarkeit und wohl auch zum Wachstum unterirdischer Drogenplantagen beitragen. Im Unterschied zu Lovecrafts kanonischer Farben-Erzählung Die Farbe aus dem All (1927) bleibt die kausale Verbindung zwischen den übernatürlichen roten Sedimenten aus den Höhlen und dem Kult allerdings vage.1

Das titelgebende Reddening ist also abermals ein Ritual. Der Kult huldigt einer archaischen wie zyklischen Weltordnung: „The past is red. The earth is red. The sky is red […]. Behind is red. Forward ist red. The Queen is risen and she is red”. Die rote Farbe markiert eine zivilisatorische Regression, in der auch die Grenzen von Mensch und Tier verschwimmen. Die Muttergottheit „The black mother and her white pup”, „jackal-headed things”, machen mit den auf das Gelände eindringenden Polizisten kurzen Prozess. Und es zeigt sich, dass auch der Kult längst die Kontrolle über diese Wesen verloren hat. 

Zum Ende hin werden der greise Willows und seine Familie selbst Opfer der Anhänger ihres Kultes, der die Erstürmung der Farm übersteht und nun gänzlich im Untergrund verschwindet. Was wirklich geschah, erscheint in der örtlichen Presse als Auswuchs von Drogenkriminalität. Auch von den prähistorischen Kreaturen fehlt jede Spur. Helene kann in ihr altes Leben und zu ihrer Tochter Valda zurückkehren. Kat überlebt, „but there were many rumours about her mental health and she’d been transferred to an institution somewhere up north”. Was obsiegt ist der Schrecken der roten Farbe, der nicht vergessen werden kann: „We´re all monsters here. We´re all red now”. Das archaische Prinzip der Gewalt behält die Oberhand, auch wenn es zur Verteidigung eingesetzt wird. Es ist ein Fluch. Wie das rote Pigment, das man nicht mehr so einfach abwaschen kann, hat man es einmal berührt. 

Was in beiden Romanen ist aber nun das Charakteristische des Nevillschen Folk-Horrors? Auf der literarischen Ebene kann man den Versuch des Autors erkennen, eine ritualistisch-dionysische Mythologie zu etablieren, was durchaus an Arthur Machen, Algernon Blackwood oder H.P. Lovecraft erinnert. Das historisch-wissenschaftliche Gebiet, aus dem Nevill seine Kreaturen hervorgehen lässt, ist das der frühen Erdgeschichte, der Prähistorie. Wobei sowohl die schakalartigen Wesen aus The Reddening als auch das Ziegenwesen aus The Ritual beide Überbleibsel einer älteren Ordnung darstellen und Menschen auf eine toxische, womöglich telepathische Weise manipulieren können. Beide Kreaturen nutzen anthropologische Schwächen des Menschen aus; seine archaischen Ängste und seine vorrationale Verbundenheit mit der Welt. 

Die Monster werden aber auch zum Spiegelbild der versteckten oder rationalisierten Gewalt in der Zivilisation. Und sie beuten die Sehnsüchte des modernen Menschen aus – solche nach Zusammenhalt, ritualistischer Sinnlichkeit und nach etwas Höherem, dem man sich bedingungslos verschreiben kann. Dies entspricht dem Genre: „Kurz gesagt: Es geht im Folk Horror um ein Verhältnis zur Vergangenheit, um die Grausamkeiten verklemmter Nostalgiker:innen sowie die Barbarei, der unsere gesamte Gesellschaft entspringt.”2 Dass die Wesen vorchristlichen Muttergottheiten ähneln, macht sie zur idealen Projektionsfläche für diejenigen, die an eine beseelte und behütende Natur glauben wollen; die sie verehrenden Kulte beziehen sich in The Ritual wie auch in The Reddening auf vergessene regionale Überlieferungen jenseits der großen Geschichtsschreibung.

Folk Horror holt […] verdrängte Vorgeschichten ethnischer oder wie auch immer sortierter Gruppen ans Tageslicht. Der britische Horror mag dabei als Ersatz für einen genuin deutschen Folk Horror herhalten, den es schon deshalb nicht geben kann, weil die verdrängte Schuld hier eben doch um einiges manifester ist, als irgendwo sonst auf der Welt. Eigentlich ist sie nicht mal richtig verdrängt […].3

Wer wie Kulte, Sekten und Wahnideologien den nostalgischen Pfad einschlägt, fällt in einen archaischen, ja traumatischen Zustand der Deformation und Abhängigkeit zurück. Dieser fordert bei Nevill zuerst die Menschlichkeit, dann das eigene Leben. Die Überreste der Folk-Kulte, wie die hybride Frau in The Ritual, siechen dahin und haben sich vor der Zivilisation in die letzten verbleibenden Refugien zurückgezogen. Diejenigen aber, die sie heute noch anbeten, wirken bei Nevill lächerlich, wenn nicht kriminell oder psychisch krank. Es sind aber zugleich auch Rebellen, die gescheitert sind. 

Das Element des Ritualhaften, die Regression ist bei dem englischen Autor Teil einer zivilisationskritischen, nüchternen Romantik. Denn über Umwege finden auch die Protagonisten, die sich gegen die Kulte und deren vermeintliche Götter bewähren müssen, durchaus zu einer Form von Wahrheit, die sie in der zivilisierten Welt niemals hätten finden können. Etwa auf den letzten Seiten von The Reddening, wenn Kat in ihrer Zelle ihren Lippenstift aufträgt, sich damit im Sinn des titelgebenden Rituals bemalt, nur um dann aus dem Fenster in eine Welt zu blicken, die ihr „so open and so wild” erscheint. Auch Luke glaubt sich im Roman The Ritual am Ende von seltsamen Wesen im Unterholz verfolgt – ob eingebildet oder nicht, etwas Magisches begleitet ihn aus der Wildnis in die Zivilisation zurück. 

Sind dies nun die für den Horrorfilm typischen Hinweise darauf, dass es noch nicht vorbei ist und eine Fortsetzung jederzeit möglich wäre? Sind die Menschen dazu verdammt, die Gewaltzusammenhänge ihrer Entwicklung und ihrer Geschichte zu wiederholen? Oder stellen diese Rudimente und Rituale nicht auch Möglichkeiten dar, dem, was ansonsten so monströs und kultisch geriete, einen Platz im alltäglichen Leben zu geben? Romantische Sekten, Kulte und Subkulturen sind jedenfalls kein Phänomen der 1970er- oder 1990er-Jahre, sie entsprechen heutigen Befindlichkeiten: „Vielleicht bekommt Folk Horror sogar neuen Schwung, weil sich inzwischen auch die gehobene Mittelschicht auf in die Natur gemacht hat”.4 

Die Rituale bei Nevill verweisen wie in vielen Horrorfilmen und -büchern auf ein Erbe der menschlichen Natur, das nach einer Auseinandersetzung verlangt, weil man es nicht ausschlagen kann; zumindest nicht, ohne seine unkontrollierte Wucherung unter den Oberflächen der Zivilisation in Kauf zu nehmen. Die Quelle jener Sehnsucht, die vor allem der Folk-Horror bedient, lässt sich abschließend mit einigen Gedanken H.P. Lovecrafts im Anschluss an seine Besprechung der Werke Algernons und Machens in Die Literatur der Angst. Zur Geschichte der Phantastik (1927) erfassen:

Denjenigen, die an Spekulationen […] Gefallen finden, bietet die Literatur des übernatürlichen Grauens ein interessantes Betätigungsfeld. Ist sie nämlich einerseits dem Druck einer immer höher schlagenden Welle von schwerfälligem Realismus, zynischer Schnodderigkeit und blasierter Illusionslosigkeit ausgesetzt, so wird sie doch andererseits durch eine parallel verlaufende, zunehmend stärker werdende mystische Strömung gefördert, die sowohl als matte Reaktion von Okkultisten und religiösen Fundamentalisten auf materialistische Entdeckungen entstanden ist, als auch dadurch, daß die erweiterten Horizonte und die durchbrochenen Schranken, die uns die moderne Wissenschaft mit ihrer interatomaren Chemie, ihrer fortschreitenden Astrophysik, ihren Relativitätslehren und ihren tiefgehenden Untersuchungen zur Biologie und zum menschlichen Denken beschert hat, unser Staunen und unsere Phantasie stimuliert haben.5

Anmerkungen:

1Vgl. Lovecraft, H.P.: The Best of H.P. Lovecraft. Frankfurt am Main 1996. Auch Ambrose Bierce’ klassische Erzählung Das verfluchte Ding ist letztlich eine Farbenhorrorgeschichte: „[E]s gibt Farben, die wir nicht sehen können. Und so wahr mir Gott helfe, das verfluchte Ding ist von solch einer Farbe.” Zitiert nach: Bierce, Ambrose: Das Spukhaus. Gespenstergeschichten. Dritte Auflage. Frankfurt am Main 1980. S. 102.

2Koopmann, Jan-Paul: Damals im Geisterhaus. Über Folk-Horror. In: Metamorphosen. Magazin für Literatur und Kultur. Müller-Schwefe, Moritz/ Watzka, Michael (Hg.). 18. Jahrgang. Nummer 56, Neue Folge 26 (Thema: Horror), Februar/Mai 2020. S. 26-29, hier: S. 28.

3Ebd. Wie wäre es, wenn man „Folk” über seine allgemeine englische Bedeutung als „Leute” hinausgehend einzudeutschen versuchte? Volksmusik jedenfalls weckt gänzlich andere Assoziationen als Folk-Musik. Und wie klänge als adäquate Genreneugründung „Volkshorror” oder gar „völkischer Horror”?

4Ebd., S. 29.

5Lovecraft, H.P.: Die Literatur der Angst. Zur Geschichte der Phantastik. Frankfurt am Main 1995. S. 137.

Auswahlbibliografie: 

Blackwood, Algernon: The Willows. Cabin John (Maryland) 2003. 

Lovecraft, H. P.: Die Literatur der Angst. Zur Geschichte der Phantastik. Frankfurt am Main 1995. 

Lovecraft, H. P.: The Best of H.P. Lovecraft. Frankfurt am Main 1996. 

Koopmann, Jan-Paul: Damals im Geisterhaus. Über Folk-Horror. In: Metamorphosen. Magazin für Literatur und Kultur. Müller-Schwefe, Moritz/ Watzka, Michael (Hg.). 18. Jahrgang. Nummer 56, Neue Folge 26 (Thema: Horror), Februar/Mai 2020. S. 26-29.

Titelbild

Adam Nevill: Im tiefen Wald. Roman.
Aus dem Englischen von Ronald Gutberlet.
Heyne Verlag, München 2011.
480 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783453528826

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Titelbild

Adam Nevill: The Reddening.
Ritual Limited, Devon 2019.
314 Seiten, 19,10 EUR.
ISBN-13: 9781916094116

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Kein Bild

David Bruckner: The Ritual. DVD.
Entertainment One, Toronto 2017.
94 Minuten, 5,08 EUR.

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