Der französische Äsop und Erneuerer einer literarischen Gattung

Zum 400. Geburtstag des Fabeldichters Jean de La Fontaine

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer kennt sie nicht aus seiner Schulzeit, die allseits bekannten Fabeln vom schlauen Fuchs, der den Storch zum Essen eingeladen hat und ihm das Mahl auf flachen Tellern serviert? Oder vom Frosch, der so groß sein will wie ein Stier und sich bläht und bläht, bis er platzt? Jene zeitlosen Tiergeschichten des französischen Schriftstellers Jean de La Fontaine, in denen uns der Spiegel vorgehalten wird? Noch heute gilt La Fontaine den Franzosen als einer der größten ihrer Klassiker und seine Fabeln zählen zum Allgemeingut. So wird sein diesjähriger 400. Geburtstag im Nachbarland mit verschiedenen Veranstaltungen, Lesungen und Ausstellungen begangen.

Jean de La Fontaine wurde am 8. Juli 1621 in Château-Thierry in der Champagne geboren. Er wuchs in einem bürgerlichen Haushalt auf, auch wenn sein Vater königlicher Beamter war, dem die Aufsicht über Wege, Forste und Gewässer oblag. In die Schule ging La Fontaine bei den Oratorianern, deren Erziehung humanistisch ausgerichtet war. Seine Schulbildung schloss er in Paris ab, wo er 1641 ein Theologiestudium aufnahm, das er aber nach zwei Jahren abbrach. Es folgten ein längerer Aufenthalt im Elternhaus und schließlich ein Jurastudium in Paris. Nach dem Abschluss verheiratete der Vater den 26jährigen Sohn mit einer vermögenden Vierzehnjährigen. Das Paar bekam zwar einen Sohn, doch die Ehe spielte im Leben La Fontaines keine sonderlich große Rolle; meist lebten er und seine Frau getrennt. 1658 erbte La Fontaine das Amt des Forst- und Wassermeisters von seinem Vater, das er aber recht widerwillig ausübte und nach zwei Jahren wieder aufgab.

Danach lebte er meistens von der Gunst und den Zuwendungen seiner wohlhabenden und hoch gestellten Förderer und Förderinnen. Zunächst verkehrte er als „Hofpoet“ am Hof des mächtigen Finanzministers und freigebigen Mäzens Nicolas Fouquet, dem er einige literarische Werke widmete (u. a. seine Elégie aux nymphes de Vaux (dt. Elegie auf die Nymphen von Vaux)). 1662 fiel Fouquet jedoch beim Sonnenkönig Ludwig XIV. in Ungnade und wurde inhaftiert. Nachdem La Fontaine zwei Bittschriften zu Fouquets Gunsten an den König verfasst hatte, geriet er ebenfalls in den Strudel der Ereignisse. Sicherheitshalber floh er nach Limoges und kehrte erst 1663 nach Paris zurück, wo ihn die Herzogin von Bouillon, die sich für Poesie interessierte, in ihr Haus aufnahm. Ein Jahr später wurde die verwitwete Herzogin von Orleans seine neue Mäzenin.

Zunächst verfasste La Fontaine zahlreiche Verserzählungen Contes et nouvelles en vers (1665), die in mehreren Bänden erschienen und ein Skandalerfolg wurden. Dabei handelte es sich zumeist um höfisch-galante Novellen, aber auch um pikant-frivole Geschichten oder derb-komische Schwänke von betrogenen Ehemännern, ihren untreuen Frauen oder lasterhaften Mönchen und Nonnen. Die Stoffe der Versdichtungen gingen größtenteils auf Boccaccio, Aretino, Rabelais und andere Renaissance-Dichter zurück. In den folgenden Jahren widmete sich La Fontaine seinem Hauptwerk, den Fabeln, die bis 1694 erschienen, in zwölf Büchern und drei Sammlungen aufgeteilt. Bereits mit der ersten Sammlung 1668, sechs Bücher mit insgesamt 124 Fabeln, hatte er einen so großen Erfolg, dass noch im gleichen Jahr eine Neuauflage erscheinen musste. Zu seinen Lebzeiten sollten noch vierzig Nachdrucke folgen.

La Fontaine griff auf antike Vorbilder zurück, vor allem auf die antiken Dichter Äsop und Phaedrus und den indischen Weisen Pilpay. Anders als ihre Fabeln waren seine Texte jedoch prägnant, leicht lesbar und mit Witz und Ironie ausgestattet, oder wie Karl Vossler in La Fontaine und sein Fabelwerk (1919) betonte: „La Fontaine verdankt dem Äsop, dem Phaedrus, dem Pilpay usw. so viel wie ein genialer Schauspieler seinem Souffleur. Es ist nicht mehr und nicht weniger als das Stichwort.“ Bereits in seiner Vorrede zur ersten Ausgabe bekannte sich La Fontaine zu seinen Vorbildern und unterrichtete das Lesepublikum über die Absicht seines Werkes: „durch einige Zutaten den Fabeln einen neuen und frischen Reiz zu geben“.

Die bunte Welt der Fabeltiere erscheint dabei als Spiegelbild der Gesellschaft, indem La Fontaine den Tieren menschliche Verhaltensweisen verlieh; daneben bevölkern aber auch Naturgewalten, Götter oder Menschen die Fabeln – vom Trunkenbold bis zum Testamentsausleger –, die ebenfalls mit bestimmten Charakterzügen ausgestattet wurden. Es sind einzigartige Milieubilder der hierarchischen Gesellschaft der absoluten Monarchie in Frankreich. Die Fabeln waren aber keinesfalls als Kinderliteratur gedacht. La Fontaine war kein Pädagoge. Dieses Missverständnis rührt wohl daher, dass sie (bis heute) vielfach pädagogisch genutzt werden. Sie sind vielmehr sprachliche Kunstwerke, in denen sich La Fontaine sprachlich-metrische Freiheiten (u. a. Verse unterschiedlicher Länge) oder die Verwendung volkstümlicher und mundartlicher Ausdrücke leistete. Die kleinen dramatischen Erzählungen sind häufig mit Dialogen und einer abschließenden Lektion versehen. Ohne erhobenen Zeigefinger verzichtete La Fontaine jedoch häufig auf die moralische Bewertung oder überließ sie dem Lesepublikum. Er selbst sah in der Fabel „une ample comédie à cent actes divers“ (dt. „eine umfangreiche Komödie mit hundert verschiedenen Akten, deren Schauplatz das Universum ist“).

Die ersten Fabelbücher waren noch weitgehend der didaktischen Fabeltradition verhaftet und nahmen vorrangig menschliche Schwächen wie Eitelkeit, Neid oder Habgier aufs Korn, z. B. in der bekannten Fabel Der Rabe und der Fuchs:

Im Schnabel einen Käse haltend, hockt
Auf einem Baumast Meister Rabe.
Von dieses Käses Duft herbeigelockt,
Spricht Meister Fuchs, der schlaue Knabe:
„Ah! Herr von Rabe, guten Tag!
Wie nett ihr seid und von wie feinem Schlag!
Entspricht dem glänzenden Gefieder
Nun auch der Wohlklang eurer Lieder,
Dann seid der Phönix ihr in diesem Waldrevier.“
Dem Raben hüpft das Herz vor Lust. Der Stimme Zier
Zu künden, tut mit stolzem Sinn
Er weit den Schnabel auf; da – fällt der Käse hin.
Der Fuchs nimmt ihn und spricht: „Mein Freundchen, denkt an mich!
Ein jeder Schmeichler mästet sich
Vom Fette des, der willig auf ihn hört.
Die Lehr ist zweifellos wohl – einen Käse wert!“
Der Rabe, scham- und reuevoll,
Schwört – etwas spät –, dass niemand ihn mehr fangen soll.

Mit hinterlistigen Schmeicheleien – ohne eine Aufforderung zum Gesange – gelingt es dem schlauen Fuchs, dem eitlen Raben den Käse zu entlocken. Dieser wähnt sich als Nachtigall und muss sich am Ende seine eigene Torheit eingestehen. Doch selbst der trickreiche Fuchs ist nicht gegen eine List gefeit, wie die „Gegenfabel“ mit dem Storch beweist. In Der Löwe und die Mücke hat der Übermütige das Nachsehen. Der arme Leu wird von zahllosen Mückenstichen regelrecht gepiesackt, dass er sich vor Wut und Schmerzen fast selbst zerfleischt. Am Ende jedoch wird der triumphierende Quälgeist selbst Opfer einer Spinne.

Die Fabeln der zweiten Sammlung (1678) sind meist länger, dichterisch aufwändiger ausgeschmückt und erinnern mit ihren Motiven häufig an die Erzählungen aus Tausendundeine Nacht. Daneben trat vor allem in den sogenannten „Löwenfabeln“ die Gesellschaftskritik deutlicher zutage. In verhüllter Form sprach La Fontaine hier die Willkür und die Kriegspolitik des Königs, Rechtsverletzungen oder die Ohnmacht der Schwachen an. Bereits im ersten Fabelbuch findet sich in Kalb, Ziege, Schaf und Leu als Handelscumpanei solch eine versteckte Anklage:

Kalb, Zieg‘ und Schaf im Bund mit einem stolzen Leu‘n,
Als Gründer bildeten in grauer Vorzeit Tagen
Genossenschaftlich sie einen Handelsverein,
Gewinn sowie Verlust zu gleichem Teil zu tragen.
Auf dem Gebiet der Geiß fing einst ein Hirsch sich ein.
Zu den Genossen schickt die biedre Zieg‘ in Eile;
Sie kommen, und der Leu, indem er um sich blickt,
Spricht: „Wir sind vier, drum geht die Beut‘ auch in vier Teile.“
Zerlegend drauf den Hirsch nach Jägerart geschickt,
Nimmt er das erste Stück für sich, und mit Behagen
Spricht er: „Das kommt mir zu, weil ich, euch zum Gewinn,
Als Leu der Tiere König bin;
Dagegen ist wohl nichts zu sagen!
Von Rechtes wegen fällt mir zu das zweite Stück;
Dies Recht, des Stärkern Recht heißt’s in der Politik.
Als Tapferstem wird mir das dritte wohl gebühren!
Wagt einer jetzt von euch das vierte zu berühren,
So würg‘ ich ihn im Augenblick.“

Diese Fabeln, stets ein Spagat zwischen Kritik und Loyalität, stellten eine maskierte Satire dar, die sich gegen den Absolutismus und den Hofstaat von Ludwig XIV. richtete. Trotz der zeitgenössischen Brisanz war La Fontaine kein politischer Dichter oder gar ein „heimlicher Widerstandskämpfer“ (wie Jürgen von Stackelberg verneint); als Edelmann im Dienst verschiedener Mäzeninnen (ab 1673 Madame de La Sablière, die einen geistreichen Salon in Paris führte) war er vielmehr auf die Gunst der Herrschenden angewiesen. So widmete er seine Werke (meist mit angefügten Lobliedern) dem Umkreis von Ludwig XIV., zu dem er aber niemals Zugang hatte und der seine Aufnahme in die Académie française, zu der es schließlich 1683 kam, immer wieder hinausgezögert hatte. Als 1675 seine Nouveaux Contes erschienen, fanden entrüstete Kritiker und Moralapostel beim König Gehör und der Auswahlband wurde verboten. La Fontaine musste sich sogar vor der Académie française entschuldigen. Freunde, die nach England ausgewandert waren, versuchten, ihn zu überzeugen, sich in London niederzulassen. Doch 1692 erkrankte La Fontaine schwer; drei Jahre später, am 13. April 1695, starb er in Paris und wurde auf dem Friedhof der Saints-Innocents beigesetzt.

La Fontaine war ein Erneuerer der Fabel, indem er der Gattung eine neue Vielfalt eröffnete. In der bereits erwähnten Vorrede sprach er die Hoffnung aus: „Vielleicht erweckt meine Arbeit in anderen die Lust, das Unternehmen weiter fortzuführen“. Dieser Lust kamen im 18. Jahrhundert Christian Fürchtegott Gellert, Gotthold Ephraim Lessing oder der Russe Iwan Andrejewitsch Krylow nach, als das lehrhafte Genre mit seinen moralischen und sozialkritischen Unterweisungen den poetischen Intentionen der Aufklärung entsprach. Im 20. Jahrhundert waren es u. a. Bertolt Brecht, Rudolf Kirsten, Wolfdietrich Schnurre oder Helmut Arntzen, die mit ihren Fabeln die Schwächen der modernen Gesellschaft aufzeigten.

Zum 400. Geburtstag von La Fontaine hat der Anaconda Verlag seine Sämtlichen Fabeln herausgebracht – darunter auch solche, die vom Autor nicht in seine zwölf Bücher aufgenommen bzw. nicht veröffentlicht wurden. Ein Gewinn, denn in den letzten Jahren erschienen zumeist nur ausgewählte Fabeln nach pädagogischen Gesichtspunkten. Die Übersetzung (einschließlich der Vorrede) stammt von Ernst Dohm (1819–1883) und Carl Gustav Fabricius (1788–1864). Ausgestattet ist die Ausgabe mit den Illustrationen des französischen Lithographen Jean-Jacques Grandville (1803–1847), der 1837 zu den Fabeln La Fontaines 300 Illustrationen und Vignetten schuf. Mit diesen karikaturistischen Zeichnungen, später auch mit den Illustrationen des französischen Graphikers Gustave Doré (1832–1883), wurden La Fontaines Fabeln im 19. Jahrhundert bekannt und kommerziell erfolgreich.

Die Neuerscheinung Jean de La Fontaine – Von Tieren und Menschen dagegen kommt in der Form einer unkonventionellen kleinen Enzyklopädie daher. In 182 informativen Texten werden die vielen Facetten von La Fontaines Leben und Werk vorgestellt; ergänzt mit Kurzbiografien seines Umfeldes sowie kompakten Analysen von Fachleuten und Berichten von Zeitzeugen. Mit einigen Fragestellungen wie „Was ist eine Fabel?“ oder „Wovon sprechen die Fabeln?“ richtet sich die Neuerscheinung auch an jugendliche LeserInnen. Themenschwerpunkte beleuchten weiterhin das Frauenbild oder das literarische Leben im 17. Jahrhundert. Statistische Angaben geben Auskunft, welche Tiere in den Fabeln am häufigsten vorkommen oder wer nach La Fontaines Tod seinen Platz (Sessel Nr. 24) in der Académie française eingenommen hat – bis heute 18 Nachfolger. Zahlreiche Illustrationen, Gemälde, Plakate und Fotos sowie unterschiedliche Schriftarten der Textbausteine erhöhen den Lektürespaß.

Titelbild

Martine Pichard: Jean de La Fontaine – Von Tieren und Menschen.
Aus dem Französischen von Ursula Schüttler-Rudolph.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2021.
128 Seiten , 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783487086361

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Titelbild

Jean de La Fontaine: Sämtliche Fabeln.
Aus dem Französischen von Ernst Dohm und Gustav Fabricius.
Anaconda Verlag, Köln 2021.
625 Seiten, 7,95 EUR.
ISBN-13: 9783730609712

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