Von Dingen des Lebens und der Kunst

Mit „Der Zauberlehrling“ erscheint der vierte Band an Neuausgaben von Marta Karlweis

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahren bemüht sich der kleine Wiener Verlag „Das vergessene Buch“ des Literaturwissenschaftlers Albert C. Eibl erfolgreich darum, u. a. die zu ihrer Zeit weithin beachteten, doch durch den Nationalsozialismus und die Nachkriegsgermanistik in Vergessenheit gebrachten deutsch-jüdischen Schriftstellerinnen Else Jerusalem (Der heilige Skarabäus), Maria Lazar (Die Vergiftung, Leben verboten!, Die Eingeborenen von Maria Blut) und Marta Karlweis (Ein österreichischer Don Juan, Das Gastmahl auf Dubrowitza, Schwindel) durch Neuausgaben ihrer Werke wieder ins literarhistorische Bewusstsein zu integrieren. Zahlreiche positive, teils enthusiastische Rezensionen in Österreich und Deutschland auch im großen Feuilleton sollten dazu beigetragen haben, dem selbst gesetzten Ziel des Verlags zu entsprechen: Zu Unrecht vergessene Bücher insbesondere der Zwischenkriegszeit einem heutigen Lesepublikum nicht nur wieder zugänglich zu machen, sondern auch schmackhaft.

Der jetzt vorgelegte, wie alle Karlweis-Bände von Johann Sonnleitner besorgte und ebenso ausführlich wie informativ (Kontext, Leben, Werkgeschichte, Einzeltexte, Rezeption) benachwortete Band Der Zauberlehrling vereinigt die drei „bislang bekannten Erzählungen und Novellen“ der Autorin aus über zwanzig Jahren: die auch den Band-Titel abgebende und mit gut 140 Seiten umfangreichste Erzählung Der Zauberlehrling (Süddeutsche Monatshefte, 1912) sowie die beiden über die Figur der verwitweten Generalin Gabriele von Pachofen miteinander verbundenen, mit knapp 60 bzw. 13 Seiten deutlich kürzeren Novellen Die Uhr auf dem Fenstersims (Neue Freie Presse, 1925) und Die Geschichte einer kärntnerischen Baronin (ebd., 1935). Möglicherweise sind die beiden zuletzt genannten Texte Teile eines nicht zustande gekommenen Romanprojekts mit der resoluten Generalin im Zentrum, deren Nachname offensichtlich auf Johann Jakob Bachofen anspielt, dessen Werk Das Mutterrecht (1861) als Ursprung moderner Theorien zum Matriarchat gilt – nicht von ungefähr arbeiten in ihrem „Weiberstaat“, einem Gut in Dürnstein in der Wachau, ausschließlich Frauen.

Der Zauberlehring, bei dessen Erscheinen in Fortsetzungen Marta Karlweis gerade einmal 23 Jahre alt war, verhandelt Prototypen der Gegenwart um 1900 und akute gesellschaftliche und weltanschauliche Problemstellungen dieser Zeit. Protagonist des Romans ist der im 30. Lebensjahr stehende Georg Hübner. Er ist ein von Bohèmekreisen und vom Establishment, von jungen und von älteren Leuten gleichermaßen wertgeschätzter Dichter und Erzähler von hoher Fabulierkraft. Rein menschlich bzw. persönlich ist es allerdings um Hübner, diesen einer zeitgenössischen Rezension von Vinzenz Chiavacci nach „neurasthenische[n] Stürmer“ mit „großen Plänen und unbezähmbaren Begierden“, weniger gut bestellt, führt er doch, wie ein mit ihm bekannter Maler ihm schonungslos attestiert, eine „Lebenskomödie“, die über Beziehungs- und Bindungsunfähigkeit, über Einsamkeit, Orientierungsmangel und Leere hinwegtäuschen soll.

Um den so an einem sinnerfüllten Leben stets posierend vorbeischrammenden Hübner herum sind eine ganze Anzahl weiterer Figuren positioniert, die im systemischen Sinne zu verstehen sind. Darunter befinden sich auch zwei alte, mit Hübner in verwandtschaftlichen Beziehungen stehende Herren, resignierte Liberale, deren Lebensenttäuschung sich in der radikalen Ablehnung der jungen Generation Luft verschafft. Dieser jungen Generation von „ungestümem Wollen und unzureichendem Können“ (Vinzenz Chiavacci) – u. a. eine Reihe von Künstlern und jungen Frauen – gilt aber die besondere Aufmerksamkeit der diesbezüglich selbst schonungslosen Erzählung, in der Erotik und Liebeshändel und damit einhergehende Konflikte und Kämpfe selbstverständlich einen herausgehobenen Platz haben. Auf einem Kostümfest erzählt der vielsagend als Werther verkleidete Hübner schließlich auf Aufforderung der Hausherrin das „Märchen von der Stille“, das recht eigentlich ein um ihn selbst und seine Zerrissenheit kreisendes Anti-Märchen ist – und erleidet damit Schiffbruch auf der ganzen Linie.

In Die Uhr auf dem Fenstersims ist es der tatkräftigen Mitwirkung der Generalin von Pachofen zu verdanken, dass ihre 25 Jahre alte, von „Natur“ „reine[e] und gut[e]“ Nichte Luisa Joris ihre Eheprobleme – „Einen Augenblick staunte sie ihr Schicksal an, das sich vor ihr türmte wie ein unbekannter Berg in finsterer Nacht.“ – lösen und sich mit ihrem auf Andere wie eine „Wachspuppe“ wirkenden Ehemann aus noblen bürgerlichen Kreisen aussöhnen kann. Auch hier spielt Erotik eine besondere Rolle, hat Luises ihr gegenüber in mancherlei Hinsicht rücksichtsloser, als Bankier stets auf- und berechnender, dabei auch kunstsinniger Mann doch eine Geliebte, während sie selbst nach einiger Zeit und gegen Novellenende eine kurze, stürmische Affäre mit einem Maler namens Sebald hat. Der wiederum ist eine auratische, als Mensch allerdings gescheiterte Figur, die sich in hohem Maße kritisch sieht, ja sogar hasst. Sebald stellt sich selbst mit den „Augen eines leidenden, um Hilfe schreienden Tieres“ dar, das „teuflische Kenntnis jenes Gewirks von Überlegenheit und Schwäche, Güte und Grausamkeit“ hat, das sein Wesen ausmacht.

Geschichte einer kärntnerischen Baronin spielt „unmittelbar nach dem Verfall des alten Reiches“. Auf ihrem Landgut hat die Generalin Pachofen zahlreiche Freunde versammelt, alte und junge, um den „über alles Maß erregten“, durch eine „ungeheure Kluft“ voneinander geschiedenen „Gemüter[n]“ und Generationen Raum für Sammlung und Klärung zu geben. Als die Situation trotz spielerischer Gegenmaßnahmen zu eskalieren droht, erzählt die Generalin den Versammelten eine dramatische, zugleich von krankhaftem Hass, erfüllter wie unerfüllter Liebe, brüchigem Bemühen und prekärem Glauben handelnde Geschichte mit einer jungen Frau namens Gisela von Trautenberg im Zentrum, die zu einer „Märtyrerin“ wird. Die als Abschreckung gemeinte bzw. zu Besinnung und Mäßigung aufrufende Geschichte soll belegen, dass „die Beziehungen von Mensch zu Mensch […] so voll Gefahr [sind], daß alle Welterschütterungen im Grunde dasselbe sind, als ob zwei Augenpaare einander in Haß begegnen.“

Es zeigt sich, dass sich alle drei Erzähltexte durch eine wache, auf unverstellte ‚Wahrheit‘ zielende Zeitgenossenschaft auszeichnen. Diese Zeitgenossenschaft zielt vor allem auf Konflikte, seien es solche weltanschaulicher, generationeller, erotischer und/oder intrapersoneller Art. Und sie fragt danach, wie es zeitgenössisch um das Künstlertum bestellt ist und was Kunst, zumal Literatur, in gesellschaftlicher Perspektive zu leisten vermag. Wie in den bereits vorgelegten Romanen von Marta Karlweis erweist sich die Autorin auch in den jetzt vorgelegten Erzähltexten als eine scharfsichtige Beobachterin und Analytikerin, die grundsätzlich über die Gabe verfügt, ihr ‚Sehen‘ ebenso präzise wie eigenständig, ja teilweise geradezu verblüffend neuartig zum Ausdruck zu bringen. Aufs Ganze gesehen erreichen diese Erzähltexte zwar nicht ganz jene ästhetische Höhe, die beispielsweise Schwindel oder Ein österreichischer Don Juan auszeichnet, doch wären auch diesem Band – bei anderen Bänden ist das schon der Fall – weitere Auflagen und damit viele Leser und Leserinnen zu wünschen.

Für solche möglichen weiteren Auflagen (und weitere Bände) sollte allerdings bedacht werden, ob an der zweifelhaften Praxis festgehalten werden soll, die Zeichensetzung zwar einerseits „behutsam“ zu aktualisieren, „ohne sie aber den heutigen Gepflogenheiten völlig anzupassen“. Warum überhaupt aktualisieren? Und es sollte in der ansonsten sorgfältigen Edition der unglückliche Satz des Nachworts „Georg unterbricht diese Erzählung einige Male unterbrochen“ korrigiert werden.

Titelbild

Marta Karlweis: Der Zauberlehrling. Novellen.
Mit einem Nachwort zu Leben und Werk von Prof. Johann Sonnleitner.
Das vergessene Buch – DVB Verlag, Wien 2021.
270 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783903244023

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