Mit ‚reifer Vernunft‘ über ‚reines Gefühl‘
Sophie Mereaus Debütroman „Das Blüthenalter der Empfindung“
Von Günter Helmes
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit der „Romane und Erzählungen, Essays und Berichte“ versammelnden Reihe Die Anderen Klassiker geht es dem Hannoverschen Wehrhahn-Verlag der eigenen Aussage nach „um Entdeckungen, Wiederentdeckungen in ihrer Zeit bekannter Autorinnen und Autoren des 16. bis 20. Jahrhunderts.“ Bislang sind Texte von AutorInnen sehr unterschiedlichen Bekanntheitsgrades und gewiss auch unterschiedlicher Bedeutung erschienen – nicht alle würde man wohl im strengen Wortsinn als Klassiker bezeichnen –, darunter erfreulicher Weise auch solche von Amalie Berg (d. i. Johanna Caroline Amalia Ludecus; 1755–1827), Sibylla Schwarz (1621–1638) und Johanna Charlotte Unzer (1725–1782).
Nun ist mit dem Erzählerstling Das Blüthenalter der Empfindung der jung verstorbenen, in zweiter, turbulenter Ehe mit Clemens Brentano verheirateten und als Schriftstellerin nach ihrem Tod rasch vergessenen Frühromantikerin Sophie Mereau (1770–1806) ein gerade einmal 80 Seiten langer Roman neu aufgelegt worden, der ganz zu Recht für sich beanspruchen kann, als Klassiker kanonisiert und, sofern die Themen ‚Emanzipation bzw. Frauenfrage und Liebes- bzw. Partnerschafts- bzw. Ehekonzepte‘ lauten, in einem Atemzug beispielsweise mit Friedrich Schlegels später erschienenen Roman Lucinde (1799) genannt zu werden. Präsentiert wird der 1794 anonym bei Justus Perthes in Gotha erschienene Roman erfreulicherweise in unveränderter Orthographie und Interpunktion – er wurde nur um „wenige offensichtliche Druckfehler“ bereinigt.
Der Roman ein Klassiker? Schon Friedrich Nicolai hat in einer dem Text hier nachgestellten Rezension aus dem Jahre 1795 auf unübersehbare Schwächen des Romans hingewiesen, u. a. auf „manches Unwahrscheinliche“ und „zu häufige und lange Reflexionen“. Er hat aber im selben Atemzug auch auf das „feine Raisonnement, und den reinen, edlen und bildreichen Styl“ hingewiesen und hervorgehoben, dass „wir […] viel abschreiben“ müssten, „wenn wir alle Stellen anführen wollten, welche uns ungemein gefallen haben.“
Vorzüge dieser Art stellt auch der Herausgeber des Bandes Carl Philipp Roth in seinem instruktiven Nachwort heraus, das sich insbesondere auf Forschungsarbeiten von Dagmar von Gersdorff und Katharina von Hammerstein beruft. Zuzustimmen ist dem Herausgeber bzw. seinen Gewährsfrauen darin, dass Mereau mit ihrem Roman „Verbindungen nicht nur zu liberalen Partnerschafts- und frühromantischen Liebeskonzepten, sondern auch zu politisch-philosophisch-rechtlichen Diskursen“ herstellt, dergestalt, dass sie auf innovative Weise „die Frauenfrage zum Politikum“ erhebt und sie „‚mit der umfassenden Thematik der Befreiung des Individuums von drückender hierarchischer Herrschaft‘“ (von Hammerstein) verknüpft. „Erstmalig“, so der Herausgeber darüber hinaus, mache er darauf aufmerksam, dass der als solcher schon 1990 von Uta Treder bemerkte „Bruch mit weiblichen (Schreib-)Konventionen erst im Laufe des Romans, nicht direkt von Beginn an geschieht.“ Das aber ist die Frage.
Schaut man sich nämlich das „Ein paar Worte über das Folgende“ betitelte und mit „Die Verfasserin“ unterzeichnete Vorwort Sophie Mereaus zum Roman an, stellt man fest, dass schon hier die grundsätzliche, angeblich auf geschlechterspezifischer Befähigung bzw. Nichtbefähigung beruhende thematische Trennung zwischen männlichem und weiblichem Schreiben – „reifer[e] Vernunft“ hier und „reine[s] Gefühl[]“ dort – geschickt unterlaufen wird. Zwar verfolgt die Verfasserin mit ihrem Roman nur die Absicht, „die Aeußerungen eines reinen Gefühls […] darzustellen“ – „Die höhern Forderungen einer reifen Vernunft zu entwikkeln, das lag nicht in meinem Plane.“ Zuvor aber hat sie mit einem mehrfach verwendeten, auf ‚den Menschen‘ zielenden und Frauen einschließenden „wir“ und „uns“ unmissverständlich klar gemacht, dass all das, was Männern an Entwicklung zugesprochen wird, für Frauen gleichermaßen gilt, dass sie selbst also auch über die Entwicklung „reife[r] Vernunft“ hätte schreiben können und dürfen:
Der helle Stral der Vernunft wekt uns aus dem lieblichen Schlummer [der Jugend], wir fühlen, daß uns ein höheres Gesez vonnöthen ist, und das Bedürfniß, nach deutlichbestimmten Gründen zu handeln, regt sich immer lauter und lauter in uns.
Kann es da noch überraschen, wenn es am Romanende aus dem Mund des Ich-Erzählers Albert über seine große Liebe Nanette freimütig heißt:
Ihr Geist hatte eine Reife, die der meinige erst noch unter Kämpfen zu erringen strebte, und sie hatte in ihrer Selbstbildung viele Schritte vor mir voraus gethan. Hier lernte ich fühlen und verstehen, was wahre Größe und Selbstständigkeit ist, und was sie vermag. […] Mit den Waffen der Vernunft hatte sie mit ihrem Schmerz [über den Tod ihres jüngeren Bruders Lorenzo, den Albert bewundert] gerungen, und ihn nicht verdrängt, aber gebändigt.
Wie bereits angedeutet, erzählt der Roman, den man bis zu einem gewissen Grad dem Bildungsroman zurechnen und dessen Protagonisten man „mit Einschränkungen“ als einen „literarischen Vorreiter“ (Carl Philipp Roth) von Goethes Wilhelm Meister bezeichnen könnte – Albert strebt nach „Vervollkommung“, nach einem Ausgleich zwischen den „Eingebungen des Gefühls“ und der „Stimme der Vernunft“ –, die Liebesgeschichte zwischen Albert und Nanette. Diese Liebesgeschichte wird ihn, der sich bislang in der provinziellen „Heimath“ „innigst an die stillen Freuden eines eingeschränkten Wirkkungskreises […] gewöhnt“ hatte, „wo unsere Kräfte nur geübt, nicht angespannt werden“, zu einem Individuum im emphatischen Sinne werden lassen. Und er wird in dieser Liebesbeziehung sukzessive eine Frau kennen lernen, die ihm zumindest als Inkarnation idealer Weiblichkeit, im Grunde genommen aber idealen Menschseins („höchste Stufe menschlicher Veredlung“) gelten wird:
[N]ie hab ich, selbst wo ich mit der strengsten Unpartheilichkeit zu prüfen strebte, ein ihr gleiches finden können! – Diese tief aus dem Herzen hervorquellende Heiterkeit, dies unerreichbare Talent Freude zu fühlen und fühlen zu lassen, die holde Malerei ihrer Phantasie, die hohe Wahrheit ihres Geistes, bei so viel feiner Bildung, dieser rein durchdachte Widerwille gegen alle Ungerechtigkeit, verbunden mit einer so himmlischen Gestalt! – alle Gefühle vereinigten sich, mich auf den höchsten Gipfel menschlicher Glückseligkeit empor zu heben.
Diese dank der „glükliche[n] Mischung ihrer Säfte“ und der „innige[n] Harmonie“ von „Denk- und Empfindungsweise“ vergötterte Nanette lernt der „Schweizer“ (!) Albert, der als noch unerfahrener junger Mann von seinem rechtschaffenen, doch unselbstständigen Vater („Was andre lehren, übte er“) nach aufklärerischer Manier auf Reisen geschickt worden ist, um „Einseitigkeit“ zu verlieren, „Kenntnisse [zu] vervielfältigen“, „Begriffe [zu] berichtigen“ und der „Urtheilskraft eine freiere und festere Richtung [zu] geben“, in Genua kennen. Weitere Orte der verschlungenen, teilweise kolportagehaften und immer wieder von räsonierenden Einschüben unterbrochenen Handlung sind Paris, die „Schweizer Alpenrepublik“ sowie, prospektiv, Amerika als Fluchtort: „Dort wohnt ein freies Volk, dort freut der Genius der Menschheit sich wieder seiner Rechte“.
Dieses Fluchtortes bedarf es, weil sich Albert am Ende seines erzählten Erfahrungs- und Entwicklungsgangs von einer „Bitterkeit gegen die verschrobnen Verhältnisse der Gesellschaft“, ja einem „unwiderstehliche[n] Mißbehagen an meiner bürgerlichen Lage übermannt[]“ sieht – nicht durch Vernunft, sondern letztendlich durch Willkür begründete Hierarchien, intrigante Machtkartelle (verkörpert u. a. durch Nanettes älteren Bruder, einen „selbstsüchtige[n], abgestumpfte[n] Weltmann“), die „unersättliche Neugierde des Haufens“ und religiöse bzw. kirchliche-rechtliche Vorurteile drohen seine und Nanettes Existenz zu zerstören: „Mir graute vor den gesetzlichen Formen, die so vieler Ungerechtigkeit den Weg offen lassen – ich dürstete nach einem freiern lebendigern Genuß meiner Existenz.“ Und: „Warum fanden so wenig Nationen das Geheimniß, das Glük des Einzeln im Wohl des Ganzen zu begründen?“
Im Verlauf der teils abenteuerlichen Romanhandlung, die als solche unterm Strich eher belanglos ist und von daher hier nicht nachgezeichnet werden soll, werden immer wieder eine ganze Reihe von Stichwörtern, Relationen und Konzeptionen traditionell-aufklärerischer („kränkelnde“, „seelenlos[e]“ Vernunft) und insbesondere romantisch-innovativer Art angesprochen und diskutiert, die an zentrale Diskurse am Ausgang des 18. Jahrhunderts mit dem Jena Schillers, Herders, Friedrich und August Wilhelm Schlegels, Tiecks und Jean Pauls als intellektueller Hochburg anknüpfen: Glück(seligkeit), Freiheit, Liebe, Menschenliebe, Treue, Uneigennützigkeit und Harmonie, Sinne, Einbildungskraft, („warmes inniges“) Gefühl, Herz, Enthusiasmus, Verstand und („kalte, ruhige“) Vernunft, Buchgelehrsamkeit und Selbsterziehung, Physiognomie und Seele, des Menschen (unterschiedliches) ‚Wesen‘ im Spannungsfeld von Natur, Geselligkeit und Gesellschaft, Kindheit und Erwachsensein, Zufall und Schicksal, Vita contemplativa und Vita activa, Diplomatie („Klugheit“) und Wahrheit, Schein und Sein, „Pflicht und Neigung“, Französische Revolution, Gegenwart und Utopie, Realität und Idealität, positives Recht und Gerechtigkeit, Sprache und Empfindung, Ernst und Heiterkeit, Freitod. Und es werden über Nanette bzw. deren Beziehung mit Albert im Umfeld des Themas „Liebe und Ehe“ emanzipatorische Forderungen formuliert, deren Strahlkraft bis heute reicht. Sätze wie „Sie verlangte gleiche Rechte mit dem Manne, den sie lieben wollte […]. Ohne Achtung wollte sie nicht lieben“ oder „Unser Bund besteht durch eigne Kraft. Nicht die zerbrechlichen Stüzzen von priesterlichem Segen, von bürgerlicher Ehre, von kränkelnder Gewissenhaftigkeit halten ihn. Wir selbst sind uns Bürge für uns selbst“ bestätigen Nicolais eingangs vorgetragene Beobachtung, dass es erfreulicher Weise sehr viel zu zitieren gäbe.
Noch erfreulicher wäre es allerdings, wenn Sophie Mereaus Debütroman durch die nun vorliegende Edition wieder zahlreiche Leser und Leserinnen finden würde. Sollten zum Lesen des Romans bislang gelieferte Zitate nicht ausreichend animiert haben, tun dies vielleicht die zwei beschließenden, die „das einzige wahre Glük des Lebens“ im Auge haben: Einmal ist die Rede vom „schönen, erquikkenden Zusammenklange aller Forderungen der Vernunft und des Herzens“, zum anderen davon, dass „Natur und Vernunft unsre Götter“ sind bzw. sein sollten.
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