Vielleicht sind wir alle verrückt

Johannes Anyuru gelingt mit „Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken“ ein beklemmendes Zeugnis der gegenwärtigen Angst

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angst geht um in den Städten Europas. Die einen fürchten sich davor, dass sie auf offener Straße einer Messerattacke zum Opfer fallen – was sich unlängst wieder zugetragen hat. Die anderen argwöhnen, dass sie als Muslime, Person of Color oder Flüchtling pauschal verdächtigt und ausgegrenzt werden. Von dieser zweifachen Angst handelt der Roman Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken. Sein schwedischer Autor Johannes Anyuru ist bekennender, liberaler Muslim, wie er sagt. Seine Mutter ist Schwedin und sein Vater in Uganda geboren. Von letzterem erzählte 2015 sein erster Roman Ein Sturm wehte vom Paradiese her. Anyuru kennt aus eigener Erfahrung die disparaten Gefühle zwischen Zugehörigkeit und Ausgrenzung, jene doppelte Angst als Muslim und als schwedischer Bürger.

Der neue Roman setzt am 17. Februar ein, „eine gute Stunde vor dem Terroranschlag auf den Comicladen Hondos“. Die Diskussion mit dem Karikaturisten Göran Loberg wird von einem Dschihad-Kommando gestürmt. Was danach geschieht, ist so düster wie verworren. Es werden Menschen gefesselt, Schüsse fallen, vor dem Laden blinken nervös die Blaulichter der Polizei. Eine junge Frau, die Teil des Kommandos ist, hält alles mit dem Smartphone fest und streamt es live ins Internet – doch kurz vor dem überraschenden Showdown bricht sie die Aufzeichnung ab. Während ihre beiden Gefährten bei der Aktion umkommen, überlebt sie und wird nach ihrer Gefangennahme in einer psychiatrischen Klinik interniert. Hier erhält sie zwei Jahre später Besuch vom Erzähler des Buches. Ihn, den Schriftsteller, treibt das dumpfe Gefühl um, über den Vorgang schreiben zu müssen. Bei seinen wiederholten Besuchen händigt ihm die junge Frau kapitelweise einen Text aus, der erklären soll, wie sie zur Attentäterin geworden ist. Parallel dazu macht sich der Erzähler daran, alles verfügbare Material zu durchforschen, speziell den besagten Videofilm, und Kontakt mit Angehörigen und Überlebenden der Geiselnahme aufzunehmen. Bericht, Aussagen und Beobachtungen fügen sich nach und nach zum unentwirrbaren Knäuel einer sich doppelt verschlingenden Angst.

Die Ursache für diese Angst hat reale Hintergründe. In den Vororten der schwedischen Städte, etwa im fiktiven Göteborger Hochhausviertel Kaningården, das in der Übersetzung Kaninchensiedlung heißt, werden Segregation, Gewalt und Hass sichtbar, wie sie auch in der Erzählung der jungen Frau innewohnen. Was im psychiatrischen Jargon Schizophrenie heißt, erzeugt bei ihr eine Geschichte, die den Erzähler aller Unlogik zum Trotz fasziniert. Die junge Frau kommt nach eigener Aussage aus einer nicht allzu fernen Zukunft, in der sich die Schwedenfreunde (die Ritterherzen) einen Kreuzzug gegen alles Fremde, Islamische, Jüdische auf die Fahne geschrieben haben. Sie bestrafen jede Zuwiderhandlung gegen die schwedische Lebensart mit Deportation in die zum Lager umfunktionierte Kaninchensiedlung. Die junge Frau ist davon betroffen und leidet in diesem Lager ein Martyrium, aus dem ihre Seele schließlich zurück in die Gegenwart des Buches befreit wird, damit sie verhindere, was sie in der Zukunft erlebt haben würde. Könnte das, was sie mit einer seltsamen Zeitschlaufe erklärt, tatsächlich geschehen? Der Erzähler zweifelt daran, zugleich beschleichen ihn unwillkürlich mulmige Ahnungen. Gibt es für ihn, den gläubigen Muslim, ein künftiges Leben in Schweden? Tatsächlich beginnt er, Pläne zu schmieden, um mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter nach Kanada auszuwandern. Doch am Ende wird er bleiben.

Viele, die mein Buch gelesen haben, finden, dass es sich verzweifelt und finster anfühlt, sagte Johannes Anyuru in einem Interview, doch gerade in dieser Geste des Bleibens liege etwas Hoffnungsvolles, weil sie an seine Leser glaubt. Sein Buch ist nach dem Attentat auf Charlie Hebdo 2015 entstanden und im Original 2017 erschienen. Es wurde in Schweden rege diskutiert und mit dem renommierten August-Preis und dem Per-Olov-Enquist-Preis ausgezeichnet.

Anyuru kennt die Verunsicherung und die schwelende Angst, von denen er erzählt. Er wuchs in einer städtischen Problemzone in Växjö auf. „Ich trage selbst mein Leben lang ein Gefühl der Heimatlosigkeit mit mir, das daher rührt, dass mein Vater von woanders herkommt.“ Dieses Gefühl teilt sein Erzähler mit ihm, der die Kaninchensiedlung bestens kennt. Gerade deshalb vermag er sich immer weniger von den verstörenden Berichten der jungen Frau abzugrenzen. Sie schildert mit anschaulicher Genauigkeit, wie Schweden – und dieses Schweden könnte leicht auch anderswo liegen – in ein faschistoides Regime abdriftet, in dem Rechtgläubige eigene Bürgergesetze vorschreiben und ausmerzen, wer ihnen zuwider handelt. Wahrheit oder Wahnsinn? „Vielleicht sind ja alle Flüchtlinge verrückt“, sagt die Mutter von einem der Attentäter. In ihrer Trauer, in ihren Tränen, die dem Buch den Titel verliehen haben, wohnt die Angst vor Ausgrenzung inne.

Die einprägsame Zukunftsvision sei eher „ein Alptraum als ein rationales Bild“, meinte Anyuru. In seinem Roman gelingt es ihm, seine Leser und Leserinnen mit der Beklommenheit und vibrierenden Unwirklichkeit, von der die junge Frau berichtet, anzustecken. Das Buch ist dabei aber nie effekthaschend, es wahrt eine Zurückhaltung, wo es in die brutalen Details geht, indem es diese in der halluzinierenden Doppelbödigkeit der Erzählung aufhebt. Doch könnte sein, was die junge Frau in der Zukunft erlebt hat? Wohin taucht sie ab, wenn ihr Blick für Momente stumpf wird? Wer ist sie überhaupt? Der Erzähler sucht Antworten darauf und spürt immer stärker, dass seine Absicht, über das Attentat zu schreiben, mehr mit ihm selbst als mit den medial längst ausgeschlachteten Tatsachen zu tun hat. In den Fokus rückt für ihn ein zweiter Ort, der so rätselhaft wie gespenstisch ist. Angeblich soll die junge Frau früher als verdächtigte Islamistin in ein jordanisches Lager verschleppt worden sein, wo man sie gefoltert und einer Gehirnwäsche unterzogen habe.

Mit gutem Gespür belässt Johannes Anyuru vieles im schwelenden Zustand der Mutmaßung. Darin liegt die Kraft seines Romans. Das Gefühl der Angst unterwandert unaufdringlich die Lektüre, so dass am Ende die kurze Geste des „Wir blieben“ wie eine Befreiung wirkt. Der Glaube des Erzählers, dass seine kleine Tochter in Schweden eine Zukunft hat, bekräftigt die Hoffnung auch für die Lesenden, dass die böse Vision der jungen Frau abgewendet werden kann. Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken reflektiert auf ebenso verschlungene wie luzide Weise, wie Angst und Hass, Foltergefängnisse und Messerattacken sich in einem Teufelskreis gegenseitig aufladen, wenn wir uns nicht auf Menschlichkeit, Respekt und Nüchternheit besinnen. Die Sensation des Attentats wird zum Kristallisationskern einer Angst, die die ausgegrenzten Fremden ebenso berührt wie die sich bedroht fühlende Gesellschaft. Doch diese Angst kann nur den Scharfmachern an den gesellschaftlichen Rändern nützen. Wird ihnen nicht vehement widersprochen, werden wir noch alle verrückt.

Titelbild

Johannes Anyuru: Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken.
Aus dem Schwedischen von Paul Berf.
Luchterhand Literaturverlag, München 2021.
336 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875699

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