Kalte Heimat
Die beiden Romane „Die Unschuldigen“ und „Sweetland“ des kanadischen Autors Michael Crummey lassen uns frösteln
Von Karl-Josef Müller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs gibt eine Kunst, die uns vertraut erscheint, weil wir, in welcher Form auch immer, unsere eigene Existenz in solcherart Kunstwerken wie in einem Spiegel zu erkennen glauben. Dies gilt wohl vor allen Dingen für Romane, insbesondere für zeitgenössische; deutlicher oft für Erzählwerke aus dem eigenen Land, vielleicht sogar der eigenen Region. Im Wiedererkennen der eigenen Lebensumstände liegt ein ganz besonderer Reiz: Wir sind darüber erstaunt, wie seismographisch genau sich die Komplexität dessen, was im weitesten Sinne des Wortes unser je eigenes Leben bestimmt, darstellen lässt. Begreifbar wird diese Komplexität dadurch nicht zwingend, aber indem wir in solcherart fiktive Geschichten eintreten, fühlen wir uns dort, durchaus oft auch auf beunruhigende Art und Weise, zuhause.
Michael Crummey hingegen konfrontiert die meisten seiner Leser mit einer ihnen sehr fremden und zudem unwirtlichen Lebenswelt. „Neufundland ist ein raues, vom Wetter und vom Einfluss des Atlantiks geprägtes Land. Der Labradorstrom führt im Frühsommer zahlreiche Eisberge mit sich.“ Crummey selbst ist dort beheimatet, und nach der Lektüre der hier vorgestellten beiden Bücher muss es erstaunen, wie einem Menschen ein solch kalter und rauer Ort überhaupt Heimat sein kann.
Die Unschuldigen
Heimat bedeutet diese Landschaft auch dem Geschwisterpaar Evered und Ada, elf und neun Jahre alt. Nach noch nicht einmal vier Seiten des fast 350 Seiten umfassenden Romans haben sie verloren, was Kindern doch unersetzlich zu sein scheint, unabhängig von dem Ort, an dem sie sich aufhalten – beide Eltern sowie das kleine Geschwisterchen. Dieses stirbt als erstes, es folgt die Mutter und schließlich der Vater.
All das erzählt Crummey so lapidar wie ergreifend. Die Geschichte spielt im 18. Jahrhundert und beruht auf einer wahren Begebenheit. Für die Wirkung des Erzählten ist dieser reale Hintergrund jedoch nicht entscheidend. Wohl aber der Entschluss der Kinder, die „Bucht, in der sie geboren waren“, nicht zu verlassen, anstatt nach Mockbeggar zu gehen. Sie bleiben, wo sie aufgewachsen sind, und führen das Leben fort, das ihnen ihre Eltern mehr vorgelitten als vorgelebt haben.
Über mehrere Jahre bestimmt der nackte Kampf ums Dasein ihr Leben – wie er bereits jeden Lebenstag der Eltern geprägt hatte. Die nahezu vollkommene Abgeschiedenheit von der Zivilisation trägt keine romantischen Züge. Dennoch vermittelt der Roman den Gedanken, dass dieses harte und entbehrungsreiche Leben seinen fraglosen Wert hat. Es bedeutet den Kindern das Zuhause, das ihnen wichtiger ist als die beängstigend aufscheinenden vagen Verheißungen der Zivilisation.
Mit welchen Worten lässt sich angemessen schildern, wenn Geschwisterliebe ihre vermeintlich natürlichen Grenzen überschreitet und wie konnte es überhaupt dazu kommen? Die theoretischen Überlegungen von Claude Lévi-Strauss benennen die entsprechenden Gründe ex negativo: „Das Inzestverbot sei entstanden, weil ‚die biologische Familie nicht mehr allein ist und sich mit anderen Familien verschwägern muss, um zu überleben“. Die Geschwister Evered und Ada hingegen sind allein, und nachdem Evered beim Fischen in seinem Boot durch ein plötzlich aufkommendes Unwetter um Haaresbreite dem Tod entronnen ist, tun die Geschwister, was sie schon oft getan haben: Sie wärmen ihre kalten und so verletzlichen Körper aneinander, um zu überleben. Doch mittlerweile sind sie keine Kinder mehr, Evered siebzehn und Ada fünfzehn Jahre alt. Wie schon so oft suchen sie die Nähe des anderen: „So saßen sie einige Zeit, fühlten sich bedürftig und einsam und wären am liebsten unter die Haut des anderen gekrochen.“
Literatur, wie alle Kunst, kennt keine Tabus. In ihrem Versuch, sämtliche Formen menschlicher Existenz darzustellen, geht sie ein hohes Risiko ein; insbesondere dann, wenn es ihr darum geht, sich den Grenzerfahrungen des Lebens zu nähern. Sexualität, welcher Art auch immer, glaubhaft in Szene zu setzen, ist eine wahrhaft hohe Kunst und endet nur allzu oft im Desaster der falschen Bilder. Beispielhaft hierfür erinnern wir an die Seifen-Sex-Szene in Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser:
Aber ich mochte auch ihren nassen, seifigen Körper; ich ließ mich gerne von ihr einseifen und seifte sie gerne ein, und sie lehrte mich, das nicht verschämt zu tun, sondern mit selbstverständlicher, besitzergreifender Gründlichkeit. […] Unter der Dusche wuchs die Lust wieder. Vorlesen, duschen, lieben und noch ein bißchen beieinanderliegen – das wurde das Ritual unserer Treffen.
Nach meiner Ansicht gelingt es Michael Crummey, für die Vereinigung der Geschwister die passenden Worte und Formulierungen zu finden.
Sweetland
Wie die kleine Insel vor Neufundland, so heißt auch die Hauptfigur des Romans Sweetland, Vorname Moses. In vielerlei Hinsicht ähnelt das Ambiente von Sweetland dem von Die Unschuldigen, denn in beiden Romanen lässt sich das Schicksal der geschilderten Menschen nicht trennen von einer Landschaft und Natur, die ihren Bewohnern reichlich Widerstand entgegensetzt, auch wenn der annähernd siebzigjährige Moses Sweetland als unser Zeitgenosse auf alle möglichen technisch-zivilisatorische Hilfen zurückgreifen kann, die den Geschwistern in Die Unschuldigen nicht annähernd zur Verfügung standen. Die Sommer sind auch im 20. Jahrhundert kurz und eher kalt als warm, die Winter so schneereich wie einsam.
Die Insel Sweetland soll aufgegeben werden, die Regierung lockt die noch verbliebenen wenigen Bewohner mit einer stattlichen Geldsumme. Letztlich scheint auch Moses Sweetland der Verlockung des Geldes zu erliegen und stimmt dem Angebot zu, doch nur, um anschließend seinen vermeintlichen Tod zu inszenieren und heimlich auf der Insel zu bleiben.
„Ich wollte mit Moses Sweetland und anderen Figuren mein Gefühl dafür aufs Papier bringen, wer die Neufundländer waren und wie sie ihr Leben lebten und was sie ausmacht.“ Dieser Selbstaussage des Schriftstellers können wir nur zustimmen. Entscheidend aber ist, dass Crummey dabei im positiven Sinne scheitert. Dieses positive Scheitern besteht darin, dass der Autor keine einfachen Antworten auf die Frage anbietet, was die Neufundländer an dieses kalte und karge Land bindet. Denn es ist nicht die Aufgabe der Kunst, Antworten auf unsere Fragen zu finden, sondern zu zeigen, was es bedeutet, antwortlos mit ihnen zu leben.
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