Die Notbeatmung des Subjekts im Angesicht eines postfaktischen Zeitalters

Der Philosoph Markus Gabriel erklärt in seinem neuen Werk, warum wir Menschen und unsere Geschichten nur „Fiktionen“ sind und gerade deshalb der Anspruch auf Wirklichkeit bestehen bleibt

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die innovative Explosivität des neuen Werks des Bonner Philosophen Markus Gabriel, einst als „Shooting-Star innerhalb der deutschen Philosophie“ oder „spekulatives Wunderkind“ gefeiert, besteht im Paradoxon der Entwicklung einer „realistischen Philosophie der Fiktionalität“ bei gleichzeitiger Fundamentlegung „einer Theorie der Objektivität der Geisteswissenschaften“. Auf diese Weise bekleidet er eine Position, die sich zum einen von einem positivistischen Wissenschaftsverständnis (dem „Szientinoiden“, wie er das selbst bezeichnet), zum anderen zugleich von poststrukturalistischen Positionen absetzt.

Fiktionen werden als nicht-soziale Konstruktionen „aufgedeckt“. Auf diese Weise kommt Gabriel dialektisch zu einem neo-realistischen Verständnis von Welt, was in Behauptungen wie: „Die Welt ist keine Fiktion“ oder „Unsere mentalen Zustände gehören irreduzibel zum Wirklichen (…)“ zum Vorschein kommt. Er betont, dass diese Auffassung „in der Textur der Wirklichkeit“ gründet. Wie in vielen seiner früheren Arbeiten verbindet Gabriel auch hier (me-)ontologische Beschreibungen mit erkenntnistheoretischen Ansätzen, woraus sich wiederum ethische Folgerungen ergeben, die er in seinem fast parallel dazu erschienenen Werk Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten entschieden verfolgt. In Fiktionen zeigt er eine unhintergehbare (humane) Realität im Sinne „menschlicher Einbildungskraft“ und der „Selbstbildnisfähigkeit des Menschen“. Diese äußert sich in einer von ihm schon in früheren Werken exponierten Sinnfeldontologie (SFO), womit Gabriel bekannt geworden ist, des nach Bedeutung suchenden und Überleben wollenden „zoon politikon“.

Bereits mit dem ersten Satz dreht er eine Denkrichtung der letzten Jahrzehnte um, insbesondere des französischen Strukturalismus und der Phänomenologie in der Nachfolge Nietzsches, Husserls und Heideggers, wo es heißt: „Der Schein ist Sein“ (und eben nicht: „Das Sein ist Schein“). Diese Art von Schein drückt sich etwa in der menschlichen Imaginationsfähigkeit oder „Selbstbildungsfähigkeit“ aus: Menschen können sich nicht unmittelbar Repräsentiertes vorstellen, sondern imaginieren bzw. fiktionalisieren. In diesem Zusammenhang trifft der Autor die Unterscheidung zwischen fiktiv und fiktional.

Diese beiden Begriffe beziehen sich auf verschiedene (Nicht-)Existenzebenen, wonach sich etwa Platons Verdikt in der Politeia, dass die Dichter lügen, nicht auf die fiktive Ebene, sondern die fiktionale Ebene bezieht, also nicht darauf, was nachvollziehbar erfunden ist (fiktiv), sondern wie etwas durch unsere Wahrnehmung (hier in dem Fall die ästhetische Erfahrung) konstituiert wird. Fiktive Gegenstände (nicht wirkliche) sind nach Gabriel wie imaginäre (vorgestellte) „Unterarten fiktionaler Gegenstände“. Ihm geht es dabei in erster Linie um fiktionale Gegenstände, auf die wir uns im „Modus ihrer Abwesenheit“ beziehen können. Vielleicht könnte man es etwas vereinfachend so ausdrücken, dass es sich bei fiktiven Gegenständen eher um „nicht wirklich vorhandene Gegenstände“ handelt, während mit fiktionalen eher in einem weiteren Sinne die Modi des Vorgestellten gemeint sind.

In Bezug auf die Literatur lässt sich dies besonders gut darstellen: So nennt Gabriel das „fiktive Paris“ wie das Paris in Michel Houellebecq Karte und Gebiet, was jeweils eine andere Existenzweise bzw. Nicht-Existenzweise hat. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Gabriel geht es nicht eigentlich um eine Ästhetik bezogen auf künstlerische Werke, etwa im Sinne narratologischer Untersuchungen: Selbst dort, wo er von außer- und innerdiegetischer Welt spricht, hat er die Aisthesis im Sinne von allgemein universaler Wahrnehmung vor Augen.

Dabei legt er die „unhintergehbare Prämisse des Faktischen der Wirklichkeit“ zugrunde, die durch „keinen Gedanken und keine Tätigkeit zum Verschwinden gebracht werden kann“. Auf diese Weise versetzt er jeder Art von Philosophie, die Wirklichkeit auf (De-)Konstruktionen oder strukturalistische Sprachspiele zurückführen möchte, einen Seitenhieb. Dieser unserer Wirklichkeit können wir uns nicht verschließen, weshalb Gabriels Position als Neo-Realismus bezeichnet worden ist.

Darüber hinaus betont Gabriel, dass es uns Menschen als geistige Lebewesen nicht geben würde, „wenn wir unsere Überlebensbedingungen nicht dauernd reproduzierten, was bei einem sozialen Lebewesen wie dem Menschen nur durch Kooperation möglich ist“. Diese Kooperation äußert sich „in unserem Wesen, sozial zu sein“. Allerdings ist diese Natur des Sozialen selbst nicht „sozial produziert“, woraus Gabriel dann den Schluss zieht: „Wir machen uns nicht auf soziale Weisen zu sozialen Lebewesen, sondern wir sind faktisch sozial.“

Auf diese Weise stellt er sich, wie schon eingangs erwähnt, gegen eine vielfach vertretene Position, wonach alles „soziale Konstruktion“ ist, so dass zwischen Wirklichkeit und Fiktion kein Unterschied mehr besteht, woraus dann nach Gabriel irrtümlich die Folgerung eines postfaktischen Zeitalters geschlossen würde. Zugleich argumentiert er aber ebenso vehement dagegen, das Feld den empirischen Wissenschaften bzw. den Naturwissenschaften zu überlassen, ja er geht so weit zu sagen, dass der „naturwissenschaftlich-technische Fortschritt sich einer kohärenten Ontologie und Erkenntnistheorie, die einer entsprechenden Anthropologie und Philosophie des Geistes zugrunde liegt, unterzuordnen hätte“, wenn er nicht auf kurz oder lang zur vollständigen Selbstvernichtung unserer Lebensform führen soll. Insofern nimmt Gabriel eine nicht wenig ambitionierte Position zwischen diesen beiden extremen Standpunkten ein, was er zugleich als konkreten Anwendungsbereich seiner „praktischen Philosophie“ versteht.

Bereits zuvor hatte Gabriel dadurch einen Bekanntheitsgrad erreicht, dass er mit lieb gewordenen gedanklichen Positionen brach, weshalb er von John Searle, der benachbarte Positionen zu Gabriel vertritt (von dem sich Gabriel in Fiktionen dennoch absetzt), der „momentan beste Philosoph Deutschlands“ genannt wurde. Dass bei einer solchen Hochschätzung auf der anderen Seite zugleich starke Kritik an seinen Positionen geübt wird (die er im besprochenen Werk dann sogar namentlich im Zitat aufnimmt und durchaus Konzessionen macht, etwa gegen James Hill, der einen Artikel mit dem bezeichnenden Titel Markus Gabriel Against the World, geschrieben hat, später auch gegen den Öffentlichkeitsbegriff von Jürgen Habermas), weist ihn zudem als bekannte öffentliche wie kontroverse Figur aus. Die Äußerung von Sätzen wie „Die Welt gibt es nicht“ oder Gehirne können nicht denken“ (genauso wenig Computer) oder „das postfaktische Zeitalter ist verblasener Unsinn“, die implizit auch in Fiktionen auftauchen, haben diese Tendenz weiter befeuert. Worauf es ihm generell ankommt, hat Gabriel mal wie folgt beschrieben: „Die eigene Zeit von ihren Irrtümern zu heilen, auf dass man gemeinsam besser handeln kann“.

Wie nähert man sich nun aber am besten dem neuen Werk Gabriels, worin er mit dem Titel bereits die Stoßrichtung vorgibt: Fiktionen markieren nach Gabriel entgegen dem Alltagsverständnis einen ontologischen Zwischenzustand; sie bedeuten „mentale Ereignisse in den Zwischenräumen unserer Bezugnahme auf Gegenstände in Szenen unseres Lebens“.  Damit unternimmt Gabriel den Versuch – das ist bereits Teil seiner Hauptthese und macht die Innovationskraft seines Werks aus – das arg geschundene oder zum Teil destruierte Subjekt zu retten, das aber in seiner Imaginationskraft und mit seiner ästhetischen Erfahrung Welt konstituiert und gerade deshalb, in seinem Bezug zur Realität – realitätsstabilisierend bleibt. Kernintention ist dabei der Satz: „Die sowohl naturalistische als auch postmoderne Selbstbeschädigung des Subjekts muss überwunden werden“ (im Original kursiv gedruckt, Ergänzung SW). Nach Gabriel existiert eine Form von Realität, an der es kein Vorbeikommen geben kann. Diese erschließt sich dem Menschen im Sinne seiner „humanistischen Unhintergehbarkeitsthese“ aber nur in den „Fiktionen eines Bewusstseins“, was fast klassisch kantianisch gedacht ist: Die Wirklichkeit an sich ist dem Menschen nicht zugänglich. Die Quelle der Fiktion liegt im Geist, im Bewusstsein, in der Intentionalität, Subjektivität o. ä. Die durch unsere Wahrnehmung und deren Zutun erscheinenden Dinge mögen etwas Fiktionales sein, die Wahrnehmung an sich ist selbst wirklich, auch wenn ihr ein Moment der Illusion innewohnt, welches Gabriel fiktiv nennt.

Dabei wird hinsichtlich der Selbstbildnisfunktion des Menschen die ästhetische Erfahrung zentral. Hier könnte man an Schillers Briefe zur Ästhetischen Erziehung denken, wenngleich Gabriel über den Bildungsprozess hinausdenkt. Dennoch bringt er, vielleicht seiner Freundschaft mit Daniel Kehlmann geschuldet, von dem er ein Zitat seinem Werk voranstellt, zur Veranschaulichung seiner philosophischen Thesen viele Beispiele von dramatis personae aus der Literatur wie Faust, Gretchen, Anna Karenina, Macbeth, Jed Martin (aus Houellebecqs Karte und Gebiet), weshalb bestimmte Passagen gerade für den literarisch interessierten Leser von Bedeutung sein könnten. Es wäre darüber hinaus in Anlehnung an Gadamer auf die Konzeption des Menschen als hermeneutischem Wesen sowie auf die Unterscheidung von Deutung und Interpretation zu verweisen, wonach Kunstwerke im „Modus der Interpretation/Rezeption existieren“, während Deutung die „theoretisch wissenschaftlich artikulierte Analyse einer gegebenen Partitur“ bedeutet.

Zusammengefasst könnte man Gabriels Thesen dialektisch so ausdrücken: Da wir als Menschen egal, was wir machen, nur in Fiktionen denken und handeln können, bedeutet dies keinesfalls, dass die Realität damit „erledigt“ wäre, ganz im Gegenteil: Wir können zwar nur in Fiktionen leben, aber genau das ist schon Grund genug dafür, dass es Realitäten gibt. Denn der Mensch ist ein Sinn stiftendes Wesen und benutzt seine Imaginationskraft aufgrund von ästhetischer Erfahrung zur Konstituierung einer Wirklichkeit, die aber nicht konstruiert, sondern sozial konstituiert ist. Diese „humanistische Unhintergehbarheitsthese“ bedeutet den Anteil des Bewusstseins an der Wirklichkeit.

Was das Werk Gabriels im doppelten Sinne des Wortes lesenswert macht, ist, dass er sehr präzise versucht mit dieser Begrifflichkeit zu operieren. Wenn dem Band in manchen Rezensionen auch der Vorwurf gemacht wird, sich trotz oder gerade wegen der stringenten Sprache zu sehr an ein Fachpublikum zu wenden, so hilft doch die Gegenüberstellung bestimmter Begriffe sehr, um den Impetus von Gabriels Denken transparent werden zu lassen.

Trotz der Einwände gegen Form und Darstellung oder Umfang des Werks sind sich aber alle Kritiker relativ einig darin, dass die Leserschaft, was den Erkenntniswert betrifft, voll auf ihre Kosten kommt. Zugleich wird man bei der Lektüre nicht irgendwo im luftleeren Raum stehen gelassen, sondern auf so etwas wie den heutigen Zeitgeist verwiesen, wenn man denn diesen Begriff akzeptieren will. Gabriel plädiert für ein neues geisteswissenschaftliches Engagement im Sinne eines „Endes der Bescheidenheit“ der Geisteswissenschaften. Er gibt der Philosophie zugleich einen Handlungsauftrag, um das sich in Agonie befindliche Subjekt zu retten sowie durch ein größeres begriffliches Differenzierungsvermögen, die Welt „vor dem Gespenst des Postfaktischen zu retten.“ 

Titelbild

Markus Gabriel: Fiktionen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
600 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587485

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