Überall ist nirgends

Wilhelm Schmid eröffnet in „Heimat finden“ ein Heimatpanoptikum

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Denn wo ist Heimat? Keiner weiß Bescheid.“ – so lautet ein Vers in einem Gedicht Rose Ausländers, das die Dichterin ihrem Landsmann Paul Celan zugeeignet hat. Ernst Bloch hingegen, der Philosoph der Utopien und der Hoffnung, beschließt sein epochales Werk Das Prinzip Hoffnung mit den seitdem berühmt gewordenen Sätzen:

Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.

Wilhelm Schmid, landauf-landab durch seine Bücher zur Lebenskunst und zu sinnverwandten Themen (Gelassenheit, Liebe, Glück, Schenken, Berührung) berühmt geworden, unternimmt in seinem neuesten Buch den Versuch, zwischen den beiden Polen Ausländers und Blochs zu vermitteln.

Heimat finden. Vom Leben in einer ungewissen Welt – ist das Buch überschrieben. Wer mit Schmids Buch „Heimat finden“ will, wird darin mehr als fündig: „Momentheimat“, „Dauerheimat“, „Herkunftsheimat“, „Wahlheimat“, „Arbeitsheimat“, „Selbstheimat“, „Beziehungsheimat“, „Kernheimat“, „soziale Heimat“, „Liebesheimat“, „Freundesheimat“, „periphere Heimaten“, „geistige Heimat“, „Mietheimat“, „Sommerheimat“, „Herbstheimat“, „Leidensheimat“, „Heimatverein“, „Sehnsuchtsheimat“ , „Wunschheimat“, „Bücherheimat“, „digitale Heimat“, „Meinungsheimat“ usw. sind nur einige der Wortkombinationen, die jeweils Möglichkeiten einer Beheimatung aufzeigen wollen. Das Buch wird damit zur Beliebigkeitsheimat unzähliger Facetten, Episoden, Geschichten und Ansichten aus dem Alltag eines philosophierenden Zeitgenossen, der sich, seine Gewohnheiten, sein Umfeld in nah und fern, seine Vorlieben und die Umwelt daraufhin abklopft, was alles irgendwie als Heimat angesehen werden könnte.

Das erste Kapitel des Buchs gibt daher das Programm vor: „Heimat ist überall, wo Beziehung ist“: Die Begriffsbestimmung, die daraufhin erfolgt, variiert die für eine Heimat aus der Sicht Schmids notwendigen Zutaten. Sie sei eine „Wirklichkeit, auf die gebaut und vertraut werden kann“, „Heimat verspricht Wärme […] weckt Hoffnung auf Vertrautheit und Geborgenheit, auf eine Fülle von Sinn“ und sie sei das, „was nicht egal ist“. Es gäbe keinen Mangel an Heimat, stellt Schmid an einer Stelle fest, denn ob die eigene Wohnung, das Dorf, die Stadt, die Region oder das Land: „wo die eigene Geschichte ihren Lauf nimmt“, sei eben alles als Heimat anzusehen. Diagnostisch konstatiert Schmid, dass die Not unserer Zeit darin bestehe, eine Sehnsucht nach Heimat zu haben, die er als „Basislager“ des Lebens versteht, denn niemand könne „in völliger Fremdheit leben“ und alle bräuchten eine innere Heimat „auch in äußerer Heimatlosigkeit“. Dezidiert wendet sich Schmid hierbei gegen eine rückwärtsgewandte Vereinnahmung des Heimatbegriffs durch die politische Rechte und bekundet: „Heimat hat eine große Zukunft vor sich, aber nicht mit dem Modell der Vergangenheit“.

Schmids Heimatmodell ist das der Offenheit: anything goes, wenn der Zeitgenosse über die richtige Perspektive und den passenden Blick dafür verfügt, in jeder Lage und jedem Moment die Chance, eine Heimat zu entdecken, wahrzunehmen: „Heimat ist in vielen Umgebungen und Landschaften möglich“. Schmids Vorgehensweise ist hierbei die des Flaneurs, der etwa im zweiten Kapitel durch die Jahreszeiten und die Natur wandert, um in der jeweiligen Konstellation „Momentheimaten“ zu entdecken. Sie nur ausfindig zu machen, reicht jedoch nicht aus, so Schmid. Er betont vielmehr die Notwendigkeit eines Diskurses und der geistigen Bewegung: was missfällt, müsse angegangen und debattiert werden, wendet er sich gegen die Cancel Culture. Als Gegenpart zu den gewachsenen Landschaften, den jahreszeitlich geprägten Umwelten und Stimmungen eignen sich, so Schmid, auch Heimaten in Klanglandschaften (Musik), visuellen Sehnsuchtsorten (Malerei), Geisteslandschaften (Bücher) und den neuesten Techniklandschaften (Handy, Internet, digitale Medien). Die zur eigenen Person passenden politischen Landschaften böten eine „Meinungsheimat“ an.

Doch kann eine Heimat auch zerstört werden und verloren gehen, so dass der Einzelne (oder auch Millionen) gezwungen sei(en), seine (ihre) „Herkunftsheimat“ für eine „Wahl-“ oder „Ankunftsheimat“ zu tauschen. Damit der neue Ort, die neue Landschaft zur (neuen) Heimat werde, sei jedoch auch die Bereitschaft der bereits Beheimateten notwendig, die Heimatsucher aufzunehmen und ihnen Platz in der neuen Heimat zu machen.

Räume, Landschaften, Orte und Regionen, Land(leben) und Stadt(leben): diesen Konkretisierungen der Heimat widmet der Autor die Kapitel vier und fünf. Das Leben auf dem Land, das zumeist als der Ort der Kindheit wahrgenommen wird und in der Erinnerung jener lebt, die, wie Schmid, von dort in die Stadt hinauszogen, ist für viele Städter „Ausflugsheimat“. „Das Gehen erschließt Heimat“ – zumindest für die Wanderer. Schmid bemerkt jedoch auch den Trend der Stadtflucht und die Sehnsucht vieler geplagter Menschen, die als laut und stickig empfundene Stadtluft gegen eine als idyllisch wahrgenommene Landluft zu tauschen. Doch gäbe es andererseits eben auch eine „urbane Lebenskunst“, der jene frönten, die die Anonymität, das Tempo und den Rhythmus der Stadt als ihre persönliche Heimat ansähen.

Zur Heimat muss man demnach unterwegs sein und sobald man meint, angekommen zu sein, solle man stets bereit sein, von Neuem aufzubrechen. Es ist das Fluide und Diverse postmoderner Lebensentwürfe („digitale Nomaden“), das es Schmid angetan hat. Dies führt mitunter zu skurrilen, butterweichen Polentasätzen, deren Geltung nach wenigen Seiten wieder aufgehoben wird: „Heimat ist das warme Gefühl, angekommen zu sein, bei wem oder was auch immer“ – heißt es im sechsten Kapitel. Den Schlusspunkt auf den Gedanken setzt sodann einer der Folgesätze auf: „Heimat ist, wenn der Abschied schwerfällt“. Diese Sätze finden sich jedoch in einem Kapitel, dessen Überschrift „Unterwegssein in Raum und Zeit“ heißt. Folgerichtig spricht Schmid von der „Unterwegsheimat“, ja, er postuliert das Unterwegssein als „Modus des Menschseins“. Demnach ist Heimat plötzlich nicht mehr jenes zitierte und unbestimmte „warme Gefühl“, angekommen zu sein, wovon eben noch die Rede war, denn „Heimat ist nicht mehr, wo der Anker geworfen, sondern wo er gelichtet wird“.

Im letzten Kapitel schließlich klopft Schmid das Andere in seinen unterschiedlichen Formen auf seine Möglichkeiten ab, Heimat zu sein: die Phantasie, die Utopie und die Transzendenz, sprich: Religion, kommen zur Sprache. Denn die Welt sei eben (entgegen Wittgensteins berühmtem Spruch) nicht nur das, was der Fall ist, sondern auch das, was der Fall sein könnte: In Museen, den utopischen (und dystopischen) Vorstellungen sowie auch den Formen religiösen Erlebens, äußerten sich eben weitere Formen der Heimat bzw. von Heimaten. Dabei bezieht sich Schmid an einer Stelle tatsächlich auf Ernst Bloch, wenn er dessen Frühwerk, den Geist der Utopie, würdigt. Blochs Prinzip der Hoffnung kann jedoch mit der zitierten Schlussformulierung, die eine Kritik des menschlichen Daseins von linker Seite her darstellt, kein Bezugspunkt für Schmid sein. Denn Schmids Bemühungen, „Heimat zu finden“, sind durch die grenzenlose Offenheit des vorgelegten Ansatzes, die das individuelle Leben als eine unendliche Zahl von stets offenstehenden Möglichkeiten und Entwürfen begreift, mit einer Philosophie á la Bloch völlig unkompatibel. Wenn Möglichkeiten, Entwürfe und die unendliche Zahl möglicher und wohl gleichwertiger Heimaten so stark betont werden, scheint der Blick auf Notwendigkeiten und Verantwortung verstellt zu sein. 

Es sind wohl vor allem die Chancen individueller Beheimatung an unterschiedlichen Orten und nach eigenem Belieben, die Schmid vorschweben, so dass Gesellschaft, Gemeinschaft und Vergemeinschaftung in seinem Buch viel zu kurz kommen. Dabei unterstreicht der Autor v.a. am Anfang des Buchs, dass Heimat auch die Herstellung von Beziehungen zu Anderen bedeute. Indem aber diese Beziehungen über weite Strecken des Buchs in den Hintergrund rücken, entsteht insgesamt ein Bild von austauschbaren Beliebigkeitsheimaten moderner Individuen – ein Entwurf, der zumindest den Rezensenten nicht zu überzeugen vermochte. Und so muss er auch nach der Lektüre dieses Buchs zu Rose Ausländers Vers zurückkehren: „Denn wo ist Heimat? Keiner weiß Bescheid.“

Titelbild

Wilhelm Schmid: Heimat finden. Vom Leben in einer ungewissen Welt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
478 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429785

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