Vorbemerkungen zur Juli-Ausgabe von literaturkritik.de

In der vorliegenden Ausgabe widmet sich der Schwerpunkt von Literaturkritik.de einem zunehmend populären Genre, das erst seit gut zehn Jahren als solches definiert ist, auch wenn es schon seit langer Zeit auf die eine oder andere Weise existiert: Folk Horror.

Heute ist Folk Horror ein breit gestreutes Subgenre der Horrorliteratur sowie des Horrorfilms und die akademischen Publikationen, die sich mit ihm beschäftigen, mehren sich beständig. Dies liegt mit einiger Sicherheit auch darin begründet, dass es sich bei Folk Horror um ein Genre handelt, das zum einen kulturhistorisch von großem Interesse ist, das sich zum anderen aber auch mit den großen Debatten unserer Gegenwart beschäftigt: dem Konflikt zwischen der Globalisierung auf der einen und einem erstarkenden Nationalismus, der einen deutlichen Fokus auf das Lokale legt, auf der anderen Seite. Der Roman Geisterwand von Sarah Moss zeigt das auf beeindruckende Weise. Dazu kommen die Themen Ökologie, Xenophobie und die Sehnsucht nach dem, was Zigmunt Bauman so treffend als die „Rückkehr zum Stammesfeuer“ bezeichnet hat, also ein zunehmender Drang in einer durchrationalisierten und digitalisierten Welt, die Fesseln der Anonymität abzulegen und wieder Teil einer, möglicherweise hermetischen, Gemeinschaft zu werden.

Denn genau davon handeln die sich oft ähnelnden, jedoch auf verschiedene Weise ausgespielten Narrative des Folk Horror: vom Aufeinanderprallen der modernen Welt mit isolierten, archaischen Gemeinschaften, die einen eigenen, mit modernen, christlichen Gesellschaften nicht kompatiblen moralischen Kompass besitzen. Dieser äußert sich in heidnischen Ritualen, der Beschwörung der Natur und ihrer vorchristlichen Gottheiten – beim Vater des Folk Horror, dem walisischen Schriftsteller Arthur Machen ist dies etwa der „Große Gott Pan“ – und dem rituellen Opfer, bei dem es sich (es ist ja immerhin ein Horrorgenre) meist um ein finales Menschenopfer handelt.

Die Spannung entsteht aus der Ambivalenz der Erzählhaltung und einer stets mitschwingenden Sympathie für die archaischen Kulte und ihrer Vertreter, die, und das macht den Unterschied zu anderen Horrorgenres aus, oft nicht als „böse“ dargestellt werden, sondern lediglich als nach einem moralischen Kodex agierend, der von dem der rationalen, aufgeklärten, globalisierten Welt abweicht. Dies eröffnet ein Spannungsfeld, das die Integration diverser zeitgenössischer Diskurse ermöglicht, die vom wiederaufkeimenden extremen Nationalismus bis hin zur Mysogynie reichen – so etwa in den zahlreichen Folk Horror-Narrativen, die sich mit der Hexenverfolgung beschäftigen. 

Nicht nur darüber haben wir mit dem angesehenen britischen Historiker Ronald Hutton gesprochen, einem der wichtigsten Forscher auf dem Gebiet des britischen Paganismus sowie der Hexenverfolgung. Da das Genre jedoch oft zu sehr auf Großbritannien bezogen wird, sprachen wir in unserem Podcast zudem mit der argentinischen Schriftstellerin Mariana Enriquez, einer der wichtigsten Stimmen der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur, über das, was sie als argentinische Variante des Folk Horror ansieht – und ihrer Ansicht nach hochpolitisch ist. Außerdem porträtiert Sebastian Weirauch den Autor Adam Nevill, einen der bekanntesten zeitgenössischen Vertreter des Folk Horror. Und schließlich haben wir uns dem gerade im Elfenbein-Verlag neu edierten Werk Arthur Machens gewidmet.

Dazu kommt die gewohnt breite Auswahl an Rezensionen zur Literatur, der Wissenschaft und verschiedenen Sachbuchbereichen.

Wir wünschen eine spannende Sommerlektüre!