Kulissen des Kapitalismus

In seinem zweiten Roman „Ein schreckliches Land“ ergründet Keith Gessen die geschundene russische Seele

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keith Gessen wurde selbst 1975 in Russland geboren und wuchs dann in den USA auf. Später gründete er zusammen mit Benjamin Kunkel die avancierte Literaturzeitschrift n+1 und veröffentlichte 2009 seinen Debutroman All die traurigen jungen Dichter, in dem er mit Witz und Wehmut von einer männlichen Generation X zwischen Baum und Borke erzählt. Über zehn Jahre hat Keith Gessen, der heute Journalismus an der Columbia-Universität lehrt, sich nun für seinen zweiten Roman Zeit gelassen, mit dem er zu seinen Wurzeln zurückkehrt.

Sein Protagonist Andrew zieht im Spätsommer 2009 nach Moskau, um sich um seine zunehmend gebrechliche Großmutter zu kümmern. Das hatte bisher sein Bruder getan, der aber aus Russland verschwinden musste, weil er mit seinen Geschäften der russischen Oligarchie in die Quere kam. Andrew kommt dieser Wechsel in seinem Leben gerade recht, da seine akademische Karriere mit den Fächern Russische Geschichte und Literatur nicht vorankommt und es mit der Liebe gerade auch nicht so klappt.

Andrew trifft auf ein Land, dass von einem enthemmten Kapitalismus und einer „Diktatur des Marktes“ sowie von autoritären und jede Opposition im Keim erstickenden Strukturen gekennzeichnet ist: „Das also war der Putinsche Deal: Ihr gebt eure Freiheit auf, ich mache euch reich.“ In Moskau, dessen Innenstadt schon weitgehend gentrifiziert ist, hängt eine unterschwellige Gewalt in der Luft und die postsowjetische Verbrecherkaste ist jetzt in feinen Anzügen und protzigen SUVs unterwegs. Immer wieder ist Andrew, der sich mit schlecht bezahlten digitalen Lehraufträgen an seiner Heimat-Uni über Wasser hält, entsetzt über die astronomischen Preise in den Moskauer Innenstadt-Cafes und Restaurants und lernt nur langsam die sozialen Codes der Stadt kennen. Ungeahnt schwierig ist es beispielsweise, in eine der unzähligen Eishockeymannschaften in Moskau aufgenommen zu werden, und bei seinem ersten Online-Dating mit einer umwerfenden Frau erfährt er erstaunt von einer obligatorisch zu bezahlenden „Reinigungsgebühr“. Fassungslos ist er, als er eines Abends in harmloser Begleitung einer Frau grundlos von deren Freund mit einer Pistole niedergeschlagen wird: „Es war ein schreckliches Land, und ich war nicht dafür geschaffen.“

Schließlich kommt Andrew mit einer oppositionellen sozialistischen Gruppe, den „Oktobristen“, in Kontakt und lernt dabei auch Yulia kennen und lieben. Nachdem er anfangs dort nur Stoff für einen wissenschaftlichen Artikel gesammelt hatte, identifiziert er sich zunehmend mit den Zielen der Gruppe und tritt ihr bei. Hier lernt er ein anderes Moskau kennen, eines der billigen Buchhandlungen, Cafés und Restaurants, aber auch der anarchistischen Splittergruppen und faschistischen Schlägertrupps. Und er befreundet sich mit Sergej, einer tolstoihaften Figur, die „alles aufgab, um einzig dem Diktat seines Gewissens verpflichtet durch die Welt zu ziehen“. Doch dann gerät die Gruppe ins Visier des russischen Geheimdienstes und Andrew macht einen fatalen Fehler.

Ein schreckliches Land ist nicht nur ein Roman über die aktuelle Situation in Moskau, sondern auch ein berührendes Kammerspiel zwischen Andrew und seiner dementen Großmutter, einer ehemaligen Geschichtsprofessorin. Hier geht die Reise auch immer wieder in die Vergangenheit und im Detail schildert Andrew den Alltag mit seiner Großmutter mit all seinen nervenden, überfordernden, aber auch glücklichen kleinen Momenten. Doch schließlich muss Andrew sich auch eingestehen: „Mein Versagen als Akademiker machte mich nicht zu einem besseren Enkel.“

Keith Gessen erzählt seinen Roman in einer schlichten, an den russischen Realismus des 19. Jahrhunderts angelehnten Prosa. Schnell fühlt man sich ganz nahe bei seinem Protagonisten, der in einer prekären Existenzsituation ganz und gar unprätentiös, mit leichtem Witz und ehrlich bis zur Selbstentblößung auftritt. Über die fast 500 Seiten hinweg hat dieser Roman aber auch Längen und nimmt durch journalistisch-referierende Passagen zuweilen eine Hybrid-Form an. Nichtsdestoweniger ist Ein schreckliches Land eine beeindruckende Meditation über das heutige Russland und über die moralischen Verstrickungen eines in die fremde ferne Heimat Zurückkehrenden.

Titelbild

Keith Gessen: Ein schreckliches Land.
Aus dem [Englischen] von [Jan Karsten].
CulturBooks, Hamburg 2021.
456 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783959881517

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