Platon und das Paradies

Im Debütroman „Aus einer Zeit“ von Maximilian Zech liegt Göttingen in Griechenland und einem Arzt kommen seine Ex-Freundin Maja, Magdeburg und Marenholtz wie ein Traum vor

Von Andreas UrbanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Urban

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der Ich-Erzähler dieses Romans, Dr. Matthias Bode, im Laufe der Handlung zu einem Stundenbuch greift, ist auch ohne Erläuterung klar, dass es sich um das Werk von Rilke handeln muss. Zu eindeutig sind die Hinweise, zu klassisch, konservativ und platonisch sind die Themen dieses beeindruckenden Debütromans, der zwischen Tod und Leben, Freiheit und dem Gefühl existenziellen Gefangenseins angesiedelt ist. Auch eine tiefe Einsamkeitserfahrung und dass mit dem Schönen das Schreckliche beginne – diese Rilke-Themen sind an der genannten Stelle längst herausgearbeitet.

Matthias Bode, Mitte dreißig und aufgewachsen in der Nähe von Magdeburg, arbeitet als Arzt für innere Medizin in einer Privatklinik in Göttingen. Hier studierte er bereits und blieb anschließend hängen. Seit 14 Jahren kennt er die niedersächsische Universitätsstadt wie seine Westentasche. Im beruflichen Alltag sieht er sich zwar mit Krankheit, Heilung und Tod konfrontiert. Privat hingegen herrscht Eintönigkeit. „Tagein, tagaus“.

Stillstand kennzeichnet sein Leben. Und ein Zug zur Resignation. In den Sommermonaten erblickt er bereits die Zeichen des kommenden Herbstes. Sitzt er in einer Badewanne und genießt die wohltuende Wärme des Wassers, kreisen seine Gedanken darum, dass sich dieses schon bald abkühlen wird. Kurz: Für Bode ist das Glas immer halb leer.

Bei seinen Spaziergängen durch Göttingen gewinnt er einen schwermütigen Blick für schöne Architektur (deren Fehlen er an vielen Ecken beklagt). Überlagert wird diese Schwermut von Erinnerungen an seine ehemalige Freundin Maja aus gemeinsamen Studientagen. Maja, in die er sich – wie er ihr im Laufe des Romans schreibt – „verliebte, weil du deine beste Freundin Katharina […] nicht Kathi, sondern Käthe nanntest, weil du statt ‚flirten‘ ‚schäkern‘ sagtest“. Der Ich-Erzähler selbst verwendet im Roman bevorzugt Wörter wie „Musikant“ für „Musiker“, „Einkaufsladen“ für „Supermarkt“ oder „Geist“, wo man vielleicht „Kopf“ oder „Hirn“ sagen würde. „Altklug“ ist wiederum das Wort, mit dem Maja seine Bedachtheit beschreibt, mit der er sich manchmal selbst im Weg steht.

Bodes Lebensmotto lautet: „Das Leben ist ein Traum“. Und da das erste Kapitel Der letzte Abend heißt, das Schlusskapitel Der erste Morgen, liegt es nahe, die Romanhandlung mit einem nächtlichen Traum in Analogie zu setzen. Zu Beginn berichtet Bode, wie ihm sein Vater früher von Platons Höhlengleichnis erzählte, von jener antiken Geschichte über das Verhältnis von Wirklichkeit und Idee und deren Erkenntnis. Ein Schattenspiel ganz ähnlicher Art bekommt Bode in seiner Göttinger Wohnung jeden Tag frei Haus geliefert: An der Wand seines Schlafzimmers zeichnen sich die Bewegungen der Menschen auf der Straße ab, wodurch er sich mitten in Platons Höhle versetzt sieht.

Erinnerungen, dieses für Platon erkenntnistheoretisch aufgeladene Wort, Sehnsüchte und die Verlorenheit in seine Träumereien – all dies kennzeichnet Bode, all dies bildet seine innere Bewegung. Deswegen nimmt es nicht wunder, dass der Titel Aus einer Zeit vage an den Märchenanfang „Es war einmal“ erinnert. Als es Bode an einer Stelle unfreiwillig nach Bamberg verschlägt, beschließt er spontan, eine Weile dort zu bleiben, denn die „Gegend wirkt, als sei sie den Illustrationen eines Märchenbuchs […] entsprungen“ – ganz seine Welt also.

Zu seinen größten Wünschen gehört – die Metaphorik des Todes ist nicht zu übersehen – der Schlaf: „Ich will nur schlafen, einfach schlafen“. Nur im Träumen fühle er sich „frei von Pflichten“, nur hier glaubt er, das Schöne ungetrübt wahrnehmen zu können. Träume heben Schätze, bewahren etwas, meint er. Die konservative Denkrichtung, in die sich Bode bewegt, wird durch ein aufschlussreiches Gespräch mit einem Herrn Ranke, dem Alter Ego von Bode, unterstrichen – geführt mit tragischer Komik in der Unterwelt einer Kellerkneipe.

Ein Leitmotiv dieses Romans besteht in Richtungsentscheidungen. Dieses Motiv wird mit dem Großvater Bodes eingeführt, der eines Tages vor sein Haus in der Magdeburger Region trat und sich fragte, in welche Richtung er gehen wolle: nach links oder nach rechts? Am Ende seines stolzen Fußmarsches erreichte er Berlin.

Als Bode einen Friedhof verlässt, ist er sich – ähnlich wie sein Großvater Jahrzehnte zuvor – unschlüssig, welche Richtung er wählen solle: „Ich blicke nach links, ich blicke nach rechts. Und ich denke mir: Immer nach Hause! Immer nach Hause.“ Neben der konkreten Bedeutung wird die Symbolebene, im Leben permanent nach Hause zu gehen, also auf den Tod zuzugehen, zum interpretatorischen Ziel seiner Spaziergänge und seines Unterwegsseins. In Situationen wie diesen tauchen sie in aller Deutlichkeit auf, die Hinweise auf den Rückgang in das erstursächliche, metaphysische Prinzip, aus dem für Platon (und später Plotin) alles Seiende kommt.

Der Roman Aus einer Zeit ist so aufgebaut, dass sich in den ersten zwei Dritteln Kapitel mit Patientengeschichten in der Klinik mit Kapiteln aus Bodes Privatleben in Göttingen verschränken. Im letzten Drittel des Buches wandelt sich diese zweisträngige Erzählweise elegant zur partiellen Roadstory. Wie den Träumen schreibt Bode auch seinen jetzt beginnenden Fahrten mit dem Auto eine Fluchtmöglichkeit vor dem Alltag und ein hohes Maß an Freiheit zu.

Die Fahrten werden zum Ausbruch aus der Platon‘schen Höhle. ‚Auto und Anamnesis‘ könnte die philosophische Headline hierfür lauten. Gleichzeitig gewinnt in diesem Teil der Geschichte die christliche Ikonografie zunehmend an Bedeutung. Spannend liest sich die Szene, in der Bode bei seiner Reise auf einen Pastor trifft und sich im Gespräch mit ihm des eigenen, ewigen Stillstands bewusst wird. Nunc stans, das ewige Jetzt als bedeutungsvoller Kontrast zum Unterwegssein.

Gegen Ende des Romans greift Zech erneut die Links-rechts-Dichotomie auf: Bode ist gerade in Göttingen, als ein Aufmarsch von Rechten und eine Gegendemo von Linken stattfinden. Dass Bode zwischen beide Lager hindurchgeht und sprichwörtlich seinen eigenen Weg in der Mitte findet, wird zur – recht dialektischen – Lösungsfigur dieses Romans.

Es ist seine Heimatstadt Marenholtz bei Magdeburg, in der Bode schlussendlich landet. Im Haus seiner Eltern (und seiner Kindheit) leben längst fremde Leute. Hier lässt Zech auf Symbolebene beziehungsweise in den Kategorien des Traumes den biblischen Sündenapfel und die Vertreibung aus dem Paradies eine Rolle spielen. Schließlich wird es jedoch das Motiv des Nichtbewegens sein, das diesen – das Wortspiel sei erlaubt – bewegenden Roman beschließt.

Es gibt zwei herausragende Momente in diesem Buch – und dabei handelt es sich jeweils um Todesfälle. Einmal im Beruflichen, einmal im Privaten. Zech hat diese beiden Szenen so stark umgesetzt und wundervoll geschildert, dass einem der Atem stockt. Überhaupt findet der Autor eine gelungene Mischung aus nostalgieverliebter Ernsthaftigkeit und zeitgenössischer Lässigkeit für den Erzählton seiner Geschichte. Es ist eine Liebesgeschichte – über die Liebe zur Wirklichkeit, zur Wahrheit dahinter und zum Schleier, den die Sprache über beide legt.

Titelbild

Maximilian Zech: Aus einer Zeit.
BUCHER GmbH & Co KG, Hohenems 2021.
256 Seiten, 21,80 EUR.
ISBN-13: 9783990185803

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