Der geistige Verfall

Letizia Dieckmann beleuchtet mit „Vergessen erzählen“ Demenznarrative der Gegenwartsliteratur

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im deutschsprachigen Raum ist Arno Geigers Der alte König in seinem Exil (2011) einer der bekanntesten Texte über Demenz. In der autobiographischen Erzählung schildert der Sohn den geistigen Verfall seines Vaters. Die Literaturwissenschaftlerin Letizia Dieckmann klassifiziert in ihrer Dissertation Vergessen erzählen. Demenzdarstellungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Geigers Text als Schlüsseltext im gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Demenzdiskurs. Ein Blick in die derzeitige Forschungslage zeigt, dass sich auffallend viele Beiträge in Sammelbänden mit Der alte König in seinem Exil befassen, dieser Text aber auch Untersuchungsgegenstand etwa in Christina Dehlers Monographie Vergessene Erinnerungen. die Auseinandersetzung mit Alzheimer-Demenz in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur am Beispiel von Martin Suters „Small World“ im Vergleich mit Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“ (2012) ist. Dieckmann erweitert nun den Blick auf weitere Demenznarrative, die weit vor der intensiveren literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung verfasst worden sind, wie zum Beispiel Max Frischs Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän (1979). Heterogene Textsorten wie zum Beispiel Romane, Autofiktionen oder Briefsammlungen sind Teil des Korpus. Doch handelt es sich dabei nicht ausschließlich um deutschsprachige Literatur, wie der Titel der Studie zunächst vermuten lässt. Dieckmann berücksichtigt auch zentrale internationale Demenztextem etwa John Bayles prominentes Narrativ Elegy for Iris (1998), das in der deutschsprachigen Literarturwissenschaft bisweilen nur wenig Beachtung gefunden hat.

Unterteilt sind die Textanalysen in drei größere Analyseblöcke, orientiert an thematisch-chronologischen Aspekten: „Das demente Ich“, „Demente Eltern“ und „Demente Partner“. Die Gliederung trägt der Tatsache Rechnung, dass alle untersuchten Texte eine autodiegetische Erzählinstanz aufweisen, unabhängig davon, ob sie aus einer Angehörigenperspektive geschildert werden oder dem „dementen Ich“ eine Stimme verliehen wird. Hier stellt sich „die Frage, auf welche Weise die Krankheit aus Sicht eines Betroffenen erzählt werden kann, wenn dieser bereits unter den Symptomen des Sprachverlusts und der -verwirrung leidet“. Insbesondere der erste Untersuchungsblock liefert hier fundierte Antworten, indem Dieckmann sich mit experimentellen Erzählverfahren befasst.

Ein Beispiel für ein solches Erzählverfahren liegt mit Frischs Der Mensch erscheint im Holozän vor. Vor dem Hintergrund des medizinischen Wissenstandes um demenzielle Erkrankungen in den 1970er Jahren überzeugt Dieckmann mit ihrer Lesart, Frischs Erzählung als Demenznarrativ zu interpretieren. Dabei hebt die Autorin die kryptischen Zeilen, Collagetechniken und die Typographie des Textes hervor, um eine demenzielle Erkrankung des Protagonisten Geiser zu plausibilisieren: „Die zunehmende Zergliederung des Satzspiegels lässt den stockenden Denkprozess und die voranschreitende Krankheit, die Geiser zu ignorieren sucht, auf typographischer Ebene erkennen.“

Ein „dementes Ich“ steht auch im Zentrum des niederländischen Romans Hersenschimmen (1984) des Autoren J. Bernlef. Der Text wurde 1986 mit dem Titel Hirngespinste ins Deutsche übersetzt und thematisiert – anders als Frischs Erzählung – explizit eine Alzheimererkrankung. Auffällig ist etwa eine „immer brüchiger werdende Erzählweise“ des dementen Ich-Erzählers, die sich in der „Fragmentarisierung des Druckbildes“ niederschlägt. Je weiter die Krankheit voranschreitet, umso mehr schwindet das „Erinnerungs- und Kommunikationsvermögen des dementen Fokalisators“.

Den Auftakt zum Analyseblock „Demente Eltern“ macht die Untersuchung zu Tilman Jens’ autobiographischen Text Demenz. Abschied von meinem Vater (2009), der in der Forschung bislang wenig Beachtung gefunden hat. Dieckmann führt dies auf den inhaltlichen Fokus zurück. So „scheint der Text weniger als Demenzdarstellung angelegt zu sein, als in der Traditionslinie literarischer Väterbücher und -auseinandersetzungen zu stehen“. Dieser Befund überrascht angesichts der immensen Aufmerksamkeit, die diesem Text im überregionalen Feuilleton zuteilgeworden ist. Die literaturkritischen Stimmen räumen ethische Bedenken ein, wird der bekannte Rhetorikprofessor doch zum einen in seiner Demenz so schonungslos dargestellt, dass im Feuilleton von einem „Denkmalsturz“ beziehungsweise einem symbolischen Vatermord die Rede ist. Zum anderen stellt Jens das Bekanntwerden der NSDAP-Mitgliedschaft seines Vaters in kausalen Zusammenhang mit dem Ausbruch der Demenzerkrankung. „Indem Jens’ Demenzdarstellung die Krankheit mit moralischen Verfehlungen und persönlichem Schuldempfinden in Zusammenhang bringt, unterläuft der Text jedoch seinen eigenen Anspruch.“, so das abschließende Urteil der Literaturwissenschaftlerin. Ein ergänzendes Kapitel über Jens’ Apologie Vatermord. Wider einen Generalverdacht (2010), die nur am Rande erwähnt wird, wäre wünschenswert gewesen. Obgleich es sich dabei nicht um ein Demenznarrativ handelt, so bietet der Text doch einen aufschlussreichen Blick in die gesamte Kontroverse um die Darstellung des dementen Walter Jens.

Mit der Familie Jens gibt es jedoch im Analysepart „Demente Partner“ ein Wiedersehen. Darin unterzieht Dieckmann die Briefsammlung Langsames Entschwinden (2016) von Inge Jens, der Ehefrau von Walter, einer Untersuchung. Auffällig ist, dass Vorwort und Briefe weder die NSDAP-Mitgliedschaft des Rhetorikprofessors noch Tilman Jens’ Darstellungsweise thematisieren; vielmehr handele es sich bei der Briefsammlung, strukturiert in Vorwort, Hauptteil und Schlussteil, gar um eine „bewusste Abgrenzung“ gegenüber Demenz. Abschied von meinem Vater. Der Schwerpunkt liegt auf der jahrelangen Entwicklung der Erkrankung. Entsprechend umfassend ist die erzählte Zeit von fast acht Jahren. Inge Jens reflektiert Fragen nach dem Umgang mit Demenzkranken und Fragen der Pflege, die Appellcharakter aufweisen. So kommt Dieckmann zu dem Schluss, dass es sich bei der Briefsammlung um engagierte Literatur handelt.

Obgleich Der alte König in seinem Exil (2011) eine ähnliche Ausgangslage wie Tilman Jens’ Demenz. Abschied von meinem Vater aufweist, erhält Geiger „gänzlich andere Reaktionen in der deutschsprachigen Medienlandschaft“. Die positive Resonanz sei Dieckmann zufolge den „ethischen Kriterien, wie Einfühlungsvermögen, Pietät und Tiefgründigkeit“ geschuldet. Auf eine umfassende Vergleichsanalyse verzichtet Dieckmann jedoch. Dabei böten vor allem die unterschiedlichen Darstellungsweisen der Väter von Jens und Geiger fruchtbare Vergleichsaspekte: Berühmter Vater vs. unbekannter Vater; exzentrisch vs. intrinsisch. Stattdessen widmet die Literaturwissenschaftlerin Geigers Text eine vielschichtige Analyse, indem sie etwa die dynamische Darstellungsweise fokussiert: „Das zu Anfang stark verlustbetonte Krankheits- und Altersbild wandelt sich in eine zunehmend positiv besetzte Darstellung, die den unversehrten Charakter und die Würde des Vaters betont und gleichzeitig dessen neuentdeckten, nahezu literarischen Qualitäten herausstreicht.“ Überdies diskutiert die Autorin die umstrittene Gattungseinordnung und arbeitet expressionistische und romantische Einflüsse sowie intertextuelle Verweise überzeugend heraus.

Gerade da sich das Thema Demenz auch über die Literatur hinaus – etwa in oscarprämierten Kinofilmen mit hochgkarätiger Schauspielbesetzung wie Still Alice (2014) mit Julianne Moore oder The Father (2020) mit Anthony Hopkins – großer Beliebtheit erfreut, ist hier eine wachsende kulturwissenschaftliche Forschung zu erwarten. Dieckmanns Monographie stellt einen wichtigen, kompakten und für künftige Studien anschlussfähigen Beitrag innerhalb des literaturwissenschaftlichen Demenzdiskurses dar.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Letizia Dieckmann: Vergessen erzählen. Demenzdarstellungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Transcript Verlag, Bielefeld 2021.
260 Seiten, 39 EUR.
ISBN-13: 9783837654363

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