Zeitlose Tragödie in Nigeria

In dem Roman „Der Tod des Vivek Oji“ erzählt Akwaeke Emezi vor dem Hintergrund der nigerianischen Kultur eine feinfühlige, moderne Tragödie um queere Identitäten.

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gleich zu Beginn von Akwaeke Emezis Roman Der Tod des Vivvek Oji trifft es den Leser wie ein Faustschlag. Das Buch beginnt damit, dass eine Mutter eines Nachmittags auf der Veranda ihres Hauses ihren toten Sohn findet. Wie ein Paket hat jemand Viveks leblosen Körper mit eingeschlagenem Schädel, nackt und in bunten Stoff gewickelt, vor der Haustür abgelegt. Die verzweifelte Mutter versucht daraufhin herauszufinden, warum ihr einziges Kind eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Ist er den Unruhen, die auf dem Markt der kleinen Stadt im Süden Nigerias ausgebrochen sind, zum Opfer gefallen? Doch wer hat ihn dann nach Hause gebracht – und wieso nackt? Diese Fragen gehen ihr nicht mehr aus dem Sinn, und sie möchte wissen, ob sie etwas hätte tun können, um seinen Tod zu verhindern.

Vivek, dessen Geburt vom zeitgleichen Tod der Großmutter überschattet wurde, ist schon von früher Kindheit an eher ein Außenseiter. Er leidet unter seltsamen Anfällen, die ihn plötzlich überkommen, und ist außerdem eher schüchtern und in sich gekehrt. Während die Mutter mit Fürsorge und Hätschelei reagiert, hofft der Vater, dass der Militärdienst aus ihm einen richtigen Mann machen wird. Beiden gemeinsam ist, dass ihnen Vivek mit seinem Verhalten vollkommen fremd ist. Er ist ihnen peinlich und sie versuchen, ihn den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechend zu formen. Dies will aber einfach nicht gelingen, so etwa schläft er lieber auf einem Baum als in seinem Zimmer und weigert sich konsequent, seine Haare schneiden zu lassen. Alle Versuche, ihn zu „kurieren“ – bei denen er sogar in der Freikirche seiner Tante einem gewaltsamen Exorzismus ausgesetzt wird – fruchten nicht. Er zieht sich nur noch mehr zurück.

Verständnis und Zuneigung findet Vivek allein bei seinem Vertrauten, dem Cousin Osita, und vier Schulfreundinnen, die er von klein auf kennt. Ebenso wie seine indischstämmige Mutter sind auch deren Mütter „Niger Wives“, also Frauen aus dem Ausland, die mit nigerianischen Männern verheiratet sind. Ebenso eint sie alle die Tatsache, dass sie und ihre Ehepartner nur noch nebeneinander her leben, wenn nicht gar Schlimmeres droht, wie etwa der Einzug einer Zweitfrau ins gemeinsame Heim, weil die einen Stammhalter geboren hat…

Akwaeke Emezi zeichnet die Eltern als in den Zwängen von Traditionen, gesellschaftlichen Erwartungen und religiösem Eifer verhaftet. So versuchen die Figuren dieser Generation vor allem, den äußerlichen Schein zu wahren. Sie haben nie gelernt, ihre wahren Bedürfnisse und Träume zu formulieren oder gar danach zu leben. Ganz anders wird die junge Generation von Vivek und seinen FreundInnen dargestellt. Sie sehnen sich nach einem freien Leben, in dem sie ihre Identität und ihre Sexualität ausleben können, ohne sich verstecken zu müssen. Das ist aber im Vielvölkerstaat Nigeria, wo in 12 Landesteilen die Scharia herrscht, ein Tabu.

Auch im Süden des Landes ist Homosexualität öffentlich geächtet und wer geoutet wird, läuft Gefahr, von einer aufgebrachten Menge gelyncht zu werden. Um diese Gefahr wissen die jungen Leute, weshalb auch die Freundinnen Juju und Elisabeth nur im Geheimen ein Liebespaar sein können.

Doch Vivek möchte mit diesem Leben hinter einer Fassade brechen, er möchte zeigen wer er ist und wie er fühlt – bis hin zu seinem tragischen Ende. Wie dies in Wahrheit aussah, weiß nur einer der Protagonisten des Romans, sodass man beim Lesen bis zur Auflösung auf den letzten Seiten mitfiebert, was letztendlich tatsächlich geschehen ist und warum Vivek sterben musste.

Mitreißend aus den Blickwinkeln der verschiedenen Protagonisten erzählt, entwickelt Akwaeke Emezi eine tiefgründige Story, die vom Ende her aufgerollt wird. Dabei wird zwar der politisch-kulturelle Hintergrund Nigerias durchaus beleuchtet und wirkt mit in die Handlung hinein, dennoch könnte die Geschichte um queere Identitäten – wie jede wirkliche Tragödie – auch überall sonst auf der Welt spielen. Stilistisch präzise und feinfühlig, erweckt Akwaeke Emezi vielschichtige Charaktere zum Leben, die den Lesenden bis zum Ende in den Bann der Geschichte ziehen – und am Ende der Lektüre einen langen Nachhall hinterlassen.

Titelbild

Akwaeke Emezi: Der Tod des Vivek Oji.
Aus dem Englischen von Anabelle Assaf.
Eichborn Verlag, Köln 2021.
271 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783847900672

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