Marcel Proust en miniature

Zum 150. Geburtstag des großen französischen Romanciers ist ein Destillat seines siebenbändigen Hauptwerkes in einer Neuausgabe erschienen

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der französische Schriftsteller Marcel Proust (1871–1922) ist vor allem durch seinen siebenbändigen Jahrhundertroman À la recherche du temps perdu (dt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) bekannt geworden. Die Bedeutung des Monumentalwerkes liegt besonders in seinem enormen Einfluss auf die Literatur des 20. Jahrhunderts. An dem Roman, erschienen zwischen 1919 und 1927, der über 4000 Seiten umfasst, arbeitete der Schriftsteller einschließlich aller Vorbereitungen nahezu zwei Jahrzehnte lang. Nach 1906 hatte er sich weitgehend in seine Pariser Wohnung zurückgezogen, die er später gegen ein fast schalldichtes Zimmer eintauschte. Hier verbrachte er Jahre damit, sich an seine vergangene Lebenszeit zu erinnern. Schwerkrank führte er einen Wettlauf mit der Zeit, um ihr sein großes Werk abzutrotzen.

Aus der Perspektive eines erinnernden Erzählers, des aufstrebenden Schriftstellers Marcel, wird das wechselhafte Schicksal der französischen Bourgeoisie und Aristokratie von den 1870er bis zu den 1920er Jahren geschildert. Neben den autobiografischen Zügen entsteht ein Gesellschaftsporträt der Belle Époque mit ihrer Eleganz und Dekadenz. Es ist jedoch keine lineare Schilderung, vielmehr wird das Erinnerungsmaterial erst während des Schaffensprozesses geordnet, sodass die zeitlichen Ebenen der verschiedenen Lebensstufen nebeneinander existieren. Eine eigentliche Handlung gibt es nicht, dagegen werden längst vergessene Gefühle, Träume, Wahrnehmungen und Erinnerungen wieder zum Leben erweckt. Durch Einbeziehung von Entwürfen und Skizzen hat sich dieses ausufernde Mammutwerk stetig weiterentwickelt. Ständig änderte, ergänzte, erweiterte und verwarf Proust Textteile; selbst in den Korrekturabzügen nahm er noch größere Veränderungen vor.

Der erste Band Du côté de chez Swann (dt. In Swans Welt), der als Privatdruck auf Kosten des Autors im Verlag Grasset erschien, fand allerdings wenig Beachtung. Für den zweiten Band À l’ombre des jeunes filles en fleurs (dt. Im Schatten junger Mädchenblüte), der 1918 im Verlagshaus von Gaston Gallimard erschien, wurde Proust 1919 mit dem angesehenen Prix Goncourt ausgezeichnet. Damit begann seine Erfolgsgeschichte. Die beiden folgenden Bände Le côté de Guermantes (1920/21, dt. Guermantes) und teilweise Sodome et Gomorrhe (1921–1923, dt. Sodom und Gomorrha) erschienen noch zu Lebzeiten. Nach dem frühen Tod des Schriftstellers veranlasste sein Bruder Robert, ein bekannter Arzt und aktiver Förderer Prousts, die Veröffentlichung der letzten drei Bände La prisonnière (1923, dt. Die Gefangene), Albertine disparue (1925, dt. Die Flüchtige) und Le temps retrouvé (1927, dt. Die wiedergefundene Zeit).

Bereits vor den Erstveröffentlichungen der Romanteile veröffentlichte Proust von 1912 bis 1923 in verschiedenen Zeitschriften Texte, die auf sein Lebenswerk vorausweisen. Häufig handelte es sich um Ausschnitte aus dem Band, dessen Erscheinen bevorstand. Mitunter war es aber auch ein größeres Kapitel, lange vor seiner Publikation im Rahmen des Romanprojektes. Es ist heute schwer nachvollziehbar, ob Proust diese Texte für den vorläufigen Abdruck gekürzt oder sie nachher, für das Buch, noch erweitert hat. Neben stilistischen Verbesserungen änderte der Autor manchmal auch Namen kurz vor der eigentlichen Drucklegung oder fügte Figuren an einer anderen Stelle ein. Ein genaues Verzeichnis der Recherche-Vorabdrucke existiert jedoch nicht.

Zum 150. Geburtstag des Schriftstellers ist im Manesse Verlag (im Rahmen der Manesse Bibliothek) eine Auswahl von neunzehn Texten erschienen. Es handelt sich dabei um eine durchgesehene Neuausgabe der dtv-Taschenbuchausgabe aus dem Jahr 1996 in einer Übersetzung von Christina Viragh und Hanno Helbling. Die ersten Vorstufen oder Vorabdrucke – meist zu Du côté de chez Swann – hatte Proust in Le Figaro veröffentlicht; nach dem Ende des Ersten Weltkriegs fast ausschließlich in der Literaturzeitschrift Nouvelle Revue française.

Die Texte sind gewissermaßen ein Destillat des Gesamtwerkes, manche sind sogar wichtige Bausteine des nachfolgenden Romanteils. Eindrucksvoll spiegeln sie Prousts Arbeitsweise wider. Einige Prosastücke besitzen darüber hinaus eine kleine geschlossene Form, die für sich allein stehen kann. Der Leser wird immer wieder Varianten zur späteren Romanfassung entdecken. Als Hilfestellung wird am Ende der Neuausgabe auf die entsprechenden Abschnitte (mit Seitenangabe) in den Bänden von À la recherche du temps perdu hingewiesen.

In ihrem Nachwort betont die Herausgeberin Christina Viragh Prousts „Kontrastprogramm“, in dem dramatische Augenblicke genauso intensiv geschildert werden wie Nebensächlichkeiten. So sei Prousts Werk ein „Auf-die-Dinge-Zeigen“, ein wortgewaltiger Kommentar. Ob es sich um eine Reise mit seiner Mutter handelt oder um ein Schattenmuster auf dem Balkon – alles wird intensiv erzählerisch ausgeschöpft. Oft sind es mikroskopische Analysen aus der Distanz. Für Proust-Kenner sind die Vorabdrucke eine außergewöhnliche Ergänzung und für Proust-Neulinge ein willkommener Einstieg in À la recherche du temps perdu.

Auf zwei weitere Neuerscheinungen zum Proust-Jubiläum sei noch hingewiesen. In den letzten Jahren wurden in Archiven und im Nachlass seines Verlegers zahlreiche frühe Erzählungen Prousts entdeckt, die (bis auf eine Ausnahme) bisher noch keine Veröffentlichung erfahren haben. Proust hatte sie stets unter Verschluss gehalten. In allen diesen Texten geht es um eine homoerotische Gefühlswelt. Vielleicht ein Grund, warum Proust sie geheim gehalten hat. 2019 wurden sie erstmals in dem Materialband Le Mystérieux Correspondant et autres nouvelles inédites. Suivi de „Aux sources de la Recherche du temps perdu” publiziert. Auf literaturkritik.de hat der Proust-Kenner Bernd-Jürgen Fischer diese französischsprachige Ausgabe ausführlich vorgestellt und rezensiert. Nun liegen die frühen Erzählungen Prousts unter dem Titel Der geheimnisvolle Briefschreiber in deutscher Übersetzung als Print-Ausgabe und Hörbuch vor.

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Marcel Proust: Der gewendete Tag. ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘ in den Vorabdrucken.
Aus dem Französischen von Hanno Helbling und Christina Viragh.
Manesse Verlag, München 2021.
697 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783717525301

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

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Marcel Proust: Der geheimnisvolle Briefschreiber. frühe Erzählungen.
Aus dem Französischen von Bernd Schwibs.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
174 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429723

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Marcel Proust: Der geheimnisvolle Briefschreiber. Ungekürzte Lesung mit Cedric Cavatore.
Der Hörverlag, München 2021.
1 CD, 22,86 EUR.
ISBN-13: 9783844541830

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