Kundenbindung mal anders

Jörg-Uwe Albig transferiert in „Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus“ eine Groteske in die reale Welt

Von Stefanie SteibleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Steible

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jörg-Uwe Albig hatte mit seinem Stockholm-Syndrom wohl die Intention, eine Groteske der spätkapitalistischen Wirklichkeit abzubilden. An den meisten Stellen im Buch fühlt sich der Leser jedoch mitten in der Realität, bzw. dürfte Schwierigkeiten mit der Unterscheidung zwischen ernsthafter Darstellung und Fiktion haben. Genau darin besteht das Kunststück dieses kompakten Romans, der von der ersten bis zur letzten Minute beim Thema bleibt und uns trotz seiner vermeintlichen Kürze bis tief in die Abgründe der menschlichen Seele führt, wie man es etwas pathetisch ausdrücken könnte.  

Die Auflösung des integrierten Kriminalfalles spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr weckt der Roman das Interesse daran, was Menschen alles zu ertragen vermögen und welcher psychologischen Tricks sie sich dazu bedienen.

Der Roman lebt im Wesentlichen von den drei tragenden Figuren Katrin Perger (eine Coachin), Sabine Seggle (Inhaberin des Unternehmens Human Solutions und von Katrin Perger gecoacht) sowie eines gewissen Herrn von Sendmühl (ein entführter Kunstliebhaber). Wer hier von wem entführt wurde und wer von diesen dreien letztlich das bemitleidenswerte Opfer ist, das bleibt den Lesenden teils selbst überlassen.

Die Geschichte spielt in der schwäbischen Provinz – in Glimpflingen, eine Autostunde von Stuttgart entfernt – dort, wo reiche Leute zuhause sind und Katrin Perger sich zunächst wie eine Zugereiste fühlt, als Sabine Seggle sie für einen neuen Coachingauftrag in ihrer Dienstleistungsfirma auserkoren hat. Perger hat mehrere Jahre Psychologie studiert, das Studium aber nie abgeschlossen. Doch sie ist der festen Überzeugung, dass sie mit ihrer gewonnen Berufserfahrung und einem bunten Repertoire an immer passenden Floskeln auch diesen Auftrag meistern wird. Das Geld lockt und so begibt sie sich mitten ins Herz des Unternehmens, ohne zu bemerken, wie sehr sie schon darin verstrickt ist.

Nach und nach empfindet auch sie Dinge als normal, die Außenstehende als abstrus bewerten würden. Gleiches tut Herr von Sendmühl, der in einer Hütte im Wald gefangen gehalten wird – und zwar von Human Solutions, um Geld zu erpressen. Er lebt dort unter bizarrsten, einfachen Umständen, ständig überwacht und nun auch noch im Dialog mit Katrin Perger.

Der Autor greift in dieser Konstellation die Theorie des Stockholm-Syndroms auf, erklärt sie und belegt sie anhand zahlreicher Beispiele wie der viele Jahre gefangen gehaltenen Natascha Kampusch und anderer Entführungsopfer, die sich ziemlich bald mit ihren Entführern solidarisierten und nichts Böses für sie empfinden konnten. Gleiches geschieht auch hier, nur ist ein Herr Sendmühl mit anderen Wassern gewaschen und auch die Firmenchefin scheint aus hartem Holz, das im weiteren Verlauf jedoch brechen wird. Nach und nach nehmen neue Figuren stärkere Rollen ein und Katrin Perger, die noch immer ihre Umgebung zu manipulieren meint, agiert zunehmend fremdbestimmt, ja beherrscht von diesen.

Als sie herausfindet, dass sie aufgrund des Titels ihrer Diplomarbeit Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus von der als Dienstleistungsunternehmen getarnten, auf Entführungen spezialisierten Firma angeheuert wurde, um die Kundenbindung zu den Entführungsopfern zu optimieren, meint sie noch immer, alles im Griff zu haben.

Das Buch wechselt geschickt zwischen verschiedenen sprachlichen Ebenen und entwickelt sich von der Darstellung der täglichen Abläufe und Probleme in einem Familienunternehmen zur Betrachtung des kapitalistischen Geistes in unserem Wirtschaftssystem. So stellt der Roman einige wichtige Fragen: Ist es unrelevant, womit man sein Geld verdient, solange das Geschäftsmodell funktioniert? Kann man sich aus internen Verstrickungen völlig heraushalten und sich nur auf seine Aufgabe konzentrieren? Sind Menschen in der Lage, sich für Geld oder aus anderer Motivation heraus dauerhaft zu verstellen? Was steckt in jedem von uns und wann sind wir bereit dazu, es abzurufen?

Diese Antworten kann und will der Autor nicht liefern, aber er liefert uns in jedem Fall eine lesenswerte, spannende und extravagante Geschichte. Das Besondere daran ist, dass sie sich, sobald sie Unterhaltungswert anzunehmen scheint, sofort in bitteren Ernst wandelt. Der Anspruch an die Lesenden ist dabei, genau zu erkennen, wann dieser Wechsel stattfindet.

Titelbild

Jörg-Uwe Albig: Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021.
240 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783608984163

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