Die „Rosenburg“ – ein Ort lange beschwiegener Kontinuitäten

Ein von Gerd J. Nettersheim und Doron Kiesel herausgegebener Sammelband diskutiert den Umgang des Bundesjustizministeriums und der deutschen Justiz mit der NS-Vergangenheit

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vergnügungssteuerpflichtig ist die Lektüre des von Gerd. J. Nettersheim und Doron Kiesel zusammengestellten Buches nicht. Das liegt nicht an den Beiträgern oder an den Beiträgen, sondern am Sujet, das darin verhandelt wird. Der Band reiht sich in die mittlerweile ansehnliche Zahl von Studien ein, die sich in zweierlei Hinsicht auf die Vorgängerinstitutionen von Bundesministerien und Bundesbehörden konzentrieren: und zwar auf deren Verhalten im Nationalsozialismus wie auf deren Umgang mit den daraus erwachsenen Hinterlassenschaften. Das gehört zur Nach- und Wirkungsgeschichte der braunen Diktatur, die 1945 zwar zusammengebrochen war und als staatliches Gebilde von der Bühne hatte abtreten müssen, aber in Gestalt ihrer Repräsentanten, der ihr hörigen Aktivisten, der Täter und Mitläufer weiterhin präsent war.

Mit der Aufgabe, das Innenleben der „Rosenburg“ zu durchleuchten, bis 1973 der Bonner Dienstsitz des Bundesjustizministeriums, wurde 2012 eine „Unabhängige Wissenschaftliche Kommission“ unter Leitung des Historikers Manfred Görtemaker und des Juristen Christoph Safferling betraut. Die Ergebnisse ihrer Forschungen sind nachzulesen in zwei 2013 und 2016 erschienenen Büchern. Diesen gesellt sich nun ein drittes hinzu, in dem das Erreichte rekapituliert und reflektiert wird, darüber hinausweisende Fragen aufgeworfen, Schlussfolgerungen gezogen und Reformvorschläge erörtert werden. Vor allem aber macht es deutlich, wie sehr das Justizministerium Wert auf Publikum legt, auf breitenwirksame Präsentation und zweckdienliche Kooperation, wie hier mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland. Man übertreibt nicht, wenn man darin ein Beispiel sieht, auch ein Plädoyer, Forschung über die akademischen Gefilde hinauszutragen, also das zu tun, was heute gern unter „public history“ rubriziert wird. Man wolle damit Neuland betreten, antwortete 1915 die Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage:

Die Öffentlichkeit soll – der politischen Dimension der NS-Aufarbeitung Rechnung tragend – auf den Weg der Aufarbeitung ‚mitgenommen‘ und zu einer kritischen Begleitung angeregt werden.

Initiator und Betreuer des Projekts war Gerd J. Nettersheim, im Ministerium damals Unterabteilungsleiter und Ministerialdirektor. Sein Bericht über die Entstehung und den Fortgang des Vorhabens trägt den Titel: Von der Last einer historischen Hypothek. In der Anfangsphase war man dort nicht müde geworden, auf den außergewöhnlichen Rang des Hauses zu verweisen. Es übertreffe, so Richard Jaeger 1965 bei seiner Amtseinführung, alle anderen Ministerien. Den Mitarbeitern hatte schon 1956 Hans-Joachim von Merkatz, einer von Jägers Vorgängern, „hohe moralische Qualität“ bescheinigt. Risse bekam das, wie wir heute wissen, geschönte und selbstgefällige Bild erst im Laufe der 1980er Jahre. Denn nun wurden mehr und mehr dunkle Flecken in den Biografien einzelner Beamter entdeckt. Nachgerade ikonischen Status erlangte Ingo Müllers streitbares, 1987 publiziertes Buch Furchtbare Juristen, das den Blick auf die „unbewältigte Vergangenheit“ des deutschen Juristenstandes lenkte. Fortan war Aussitzen nicht mehr die richtige Strategie, obwohl noch 1991 der Personalrat des Ministeriums dekretierte: „Auf der Rosenburg gab es keine Nazis.“

Den letzten Anstoß, den Bann des Schweigens zu durchbrechen und nun endlich in eigener Sache aktiv zu werden, lieferte dann beinahe zwei Jahrzehnte später die vom damaligen Außenminister Joschka Fischer angestoßene große, zugleich überaus kontrovers aufgenommene Studie über das Auswärtige Amt (Das Amt und die Vergangenheit, 2010). Der nach einigem Hin und Her an die interdisziplinär bestückte Wissenschaftlerkommission erteilte Auftrag sah vor, die „personellen und sachlichen Kontinuitäten des NS-Staates in das Regierungshandeln des Bundesministeriums der Justiz in der Nachkriegszeit der 1950er und 1960er Jahre“ zu untersuchen. Lehren für die Gegenwart zu ziehen, war dabei ausdrücklich erwünscht. Über die Beschäftigung mit der Vergangenheit sollte das Bewusstsein der Juristen „für die unveräußerlichen und unverrückbaren Werte des Rechts“ geweckt und gefestigt werden. Das war und ist gewissermaßen das zivilisatorische Minimum, das es in der Praxis zu beherzigen und zu konkretisieren gilt.

Die Zahlen sprechen eine unmissverständliche Sprache. Mittlerweile wissen wir zwar manches über die Kontinuitäten, welche die vermeintliche „Stunde Null“ nicht nur überdauerten, sondern auch prägten. Auf sie noch einmal in gebündelter Form gestoßen zu werden, löst nach wie vor ein gewisses Maß an Beklemmung aus. Im höheren Dienst des Justizministeriums belief sich 1950 die Quote ehemaliger NSDAP-Mitglieder auf ca. 40 Prozent, die des gehobenen Dienstes auf beinahe 45 Prozent, das heißt fast die Hälfte der Beamten war auf diese oder jene Weise mit dem NS-Regime verbandelt gewesen. Dass es 1949 beim Aufbau des Ministeriums nicht ausreichend qualifiziertes, unbelastetes Personal gegeben haben soll, mutet eigenartig an. Augenscheinlich hatte man danach nicht oder nicht gründlich genug gesucht. An Aufklärung, gar an Verfolgung nationalsozialistischen Unrechts, das Juristen zu verantworten hatten, herrschte weithin Desinteresse. Im Gegenteil, eine Zentrale Rechtsschutzstelle, die bis 1953 im Justizministerium ressortierte, warnte deutsche Kriegsverbrecher im Ausland, wenn Ermittlungen und Strafverfolgung drohten. Urteile des Volksgerichtshofes und der Standgerichte, die gerade in der Schlussphase des Krieges gewütet hatten, wurden pauschal erst 2009 aufgehoben, die Rehabilitierung der Justizopfer wurde verschleppt. Kaum ein Richter oder Staatsanwalt wurde wegen Unrechtsurteilen zur Rechenschaft gezogen: alles ein Indiz dafür, wie sehr man bestrebt war, „einen Schleier des Schweigens über das Vergangene zu legen“, so Manfed Görtemaker. Und weiter: Auch die politisch belasteten Juristen konnten „ihre Laufbahn nach der Gründung der Bundesrepublik mehr oder weniger nahtlos fortsetzen“.

Erstaunlich war, dass sich der Aufbau des Ministeriums unter der Ägide des Freidemokraten Thomas Dehler und seines Staatssekretärs, des Christdemokraten Walter Strauß, vollzog. Erstaunlich deshalb, weil beide alles andere als Sympathisanten der braunen Diktatur, sondern im Gegenteil Repressionen ausgesetzt gewesen waren: jener hatte eine jüdische Ehefrau, dieser entstammte einem jüdischen Elternhaus und war in Berlin nur mit Mühe davongekommen. Beider Kriterien für die Rekrutierung ihres Personals waren „fachliche Kompetenz“ und „ministerielle Erfahrung“. Im Vordergrund stand die „Arbeitsfähigkeit des Ministeriums“, nicht die Tätigkeit im Nationalsozialismus. Ohne die früheren NS-Beamten wäre die reibungslose und funktionsgerechte Arbeit des Ministeriums nicht gewährleistet gewesen, betonte Strauß im Oktober 1957. Dahinter verbarg sich die Überzeugung, dass Juristen, gleichgültig unter welcher Ordnung, allzeit fungibel seien, oder in der Formulierung Görtemakers, dass deren „handwerklichen Fähigkeiten […] rasch an die jeweiligen politischen Gegebenheiten und Wünsche angepasst werden“, Juristen demnach als Diener beliebiger Strukturen und Systeme, losgelöst von überindividuellen, überzeitlich gültigen Werten und Normen, ihre Pflichten erfüllen könnten.

Strauß charakterisierte seine Personalpolitik als „glückliche Mischung“ von Partei- und Nichtparteigenossen, „von Verfolgten und Mitläufern.“ Was dieses, auf Ausgleich bedachte Konzept hieß, beleuchtet Markus Apostolow am Beispiel von vier Abteilungsleitern. Gerrit Hamann wendet sich anschließend einem besonders unappetitlichen Fall zu, der wie unter einem Brennglas veranschaulicht, wie sich das Ministerium in der Frage der Kriegsverbrecher verhielt. Gemeint ist Max Merten, ein promovierter Einserjurist und NSDAP-Mitglied, der im Juli 1938 in das Reichsjustizministerium eintrat, wo er seinen Part bei der „nationalsozialistischen Rechtserneuerung“ spielte, an der Formulierung von Gesetzen mitwirkte und diese dann im Organ des „Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes“, dem ‚Deutschen Recht‘, anwendungsbezogen kommentierte. 1942 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, entging dem Fronteinsatz jedoch durch Versetzung an die Militärverwaltung in Thessaloniki. Dort wurde er alsbald zu einer beherrschenden Figur, die sich durch tatkräftige Beteiligung an der Drangsalierung und Deportation der zahlreichen ortsansässigen jüdischen Bevölkerung profilierte. Merten war, so das Urteil Hamanns, „der mit Abstand am schwersten NS-belastete Mitarbeiter“ im Bundesjustizministerium. Eingestellt worden war er auf Empfehlung eines Kollegen, mit dem er bereits früher zusammengearbeitet hatte. Nachforschungen über seine Vergangenheit hatte man unterlassen und sich stattdessen mit einer Selbstaussage und einem „massiv geschönten Lebenslauf“ begnügt. Den Mangel an Unrechtsbewusstein teilte Merten mit vielen anderen, aber dass das Ministerium sich noch für ihn engagierte, als er in Griechenland als Kriegsverbrecher angeklagt wurde, ist ebenso bemerkenswert wie die Intensität, mit der ihn die Kanzlei Gustav Heinemann und Dieter Posser gegen Gotteslohn verteidigte, dabei eine „regelrechte Kampagne“ inszenierend.

Schatten fallen nicht allein auf das Justizministerium, auch das Parlament und die höchsten Gerichte zeichneten sich nicht durch Aufklärungswillen aus. Der Bundestag hielt eisern am Rückwirkungsverbot fest mit der Konsequenz, dass strafbares Verhalten am „deutschen Recht der Tatzeit“, also an NS-Gesetzen, gemessen wurde. Damit entschied man sich, wie Boris Burghardt hervorhebt, gegen das Modell der Nürnberger Prozesse, wonach die Gesetze des nationalsozialistischen Staates für die Ahndung von NS-Verbrechen prinzipiell „unbeachtlich“, stattdessen die Normen des Völkerrechts maßgeblich seien. Der Untätigkeit des Gesetzgebers entsprachen Urteile des Bundesgerichtshofes, die dafür sorgten, dass „kein Richter wegen der tausendfachen Justizverbrechen“ im Dritten Reich zur Rechenschaft gezogen wurde. Was hier Bettina Limperg, die Präsidentin des Bundesgerichtshofes, resümiert, findet Bestätigung in der Analyse von Werner Renz, der den Blick auf „NS-Prozesse in Geschichte und Gegenwart“ lenkt. Auch sein Befund ist niederschmetternd. Denn von den „200.000 bis 250.000 Holocaust-Tätern“ blieben die meisten unbehelligt, nur gegen eine vergleichsweise geringe Zahl ist überhaupt Anklage erhoben worden. Die Verhängung angemessener Freiheitsstrafen war Ausnahme, nicht jedoch Regel.

Von der Resonanz des Rosenburg-Projekts zeugen etliche Veranstaltungen. Einige der dort gehaltenen Ansprachen sind in diesem Band abgedruckt. Das wohlmeinende „Nie wieder“ ist eine ihrer Grundmelodien. „Wer die Zukunft gestalten möchte, muss seine Vergangenheit kennen“, erklärt die amtierende Justizministerin Christine Lambrecht. Dem wird kaum jemand widersprechen. Wie sich diese Maxime im Alltag von Richtern, Staatsanwälten und Anwälten implementieren lässt, wird sich weisen. 

Mit einer gewissen Dringlichkeit wären Änderungen in den Prüfungsordnungen in Angriff zu nehmen. Markus Heintzen, Professor für Staatsrecht und Steuerrecht an der Freien Universität Berlin, plädiert dafür, das „Berufsethos von Juristen“ im Studium wie im Referendariat zu berücksichtigen. Nicht zuletzt das „Justizunrecht des 20. Jahrhunderts“ sollte, wie Lena Foljanty vorschlägt, „Gegenstand der juristischen Ausbildung“ werden und nicht als funktionsloser Wurmfortsatz dahinvegetieren. Das liefe auf eine gesellschaftswissenschaftlich und historisch informierte Juristenschaft hinaus. Derlei Ziele hatten indes schon die Modellversuche des einphasigen Jurastudiums proklamiert, auch in den Reformdiskussionen der 60er und 70er wurde das thematisiert. Nachhaltige Konsequenzen sind daraus offenbar nicht erwachsen. Bis heute gebe es, sagt Foljanty, weder eine systematische „Beschäftigung mit Berufsbildern“ noch eine ausreichende „Reflexion des Handwerkszeugs“, mithin der „juristischen Methoden“. Hier Abhilfe zu schaffen, dürfte Aufgabe der kommenden Jahre sein. Justizministerium und Bundeskabinett haben zu erkennen gegeben, dass sie auf diesem Weg voranschreiten wollen. Wir sind gespannt.

Titelbild

Doron Kiesel (Hg.) / Gerd J. Nettersheim: Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit. Bewertungen und Perspektiven.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2021.
400 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-13: 9783525352182

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