Knacks, Ruck, Aufbruch
Peter Handke gibt in „Mein Tag im anderen Land“ den Dämonen den Laufpass
Von Jörn Münkner
Peter Handke hat es noch drauf. Schräg ist seine Geschichte eines Außenseiters, aber sie trifft einen Nerv unserer Zeit: die Seelenverletzlichkeit, Erlösungshoffnung und Sozialbedürftigkeit des Menschen. Der Text ist anspielungsreich und stilistisch eine Herausforderung. Das Bändchen erinnert vom Umfang und dem Erlösungsthema an Wunschloses Unglück von 1972, in dem Handke das Leben seiner Mutter mit den wenigen Höhen und vielen Tiefen erzählte. Hier nun ein Text, der als Dämonengeschichte firmiert. Geht es um das eigene Eingemachte?
Zwei Kapitel und ein abschließendes Traumgesicht werden von einem Ich-Erzähler vorgetragen – Hauptperson, Obstgärtner und Schriftsteller in einem –, der sich in unterschiedlichen Bewusstseinszuständen befindet. Den Auftakt macht die Erinnerung an eine Phase, die er seine „Wahnperiode“ nennt und die Jahrzehnte zurückliegt. Er habe sie zwar „in Fleisch und Blut erlebt“, wisse von ihr aber „allein vom Hörensagen“. „Ohne Bewusstsein“ sei er damals gewesen, so seine Familie; wie „von „unzähligen Dämonen besessen“, meinen die anderen, die Familienfernen. Er habe in einem kleinen Zelt auf einem Friedhof gelebt, seine Schwester versorgte ihn mit dem Nötigsten. Schon vor diesem „Außer-mich-geraten-Sein“, als er noch bei klarem Verstand war, war er den Leuten nicht geheuer. Der Schwester zufolge war das Buch schuld, das er verfasst hatte, zwar zum Obstbau, aber Buch sei Buch, „etwas für unsere Region Fremdes, gar Anmaßendes, wenn nicht Behauptendes, und zwar eine falsche, gefälschte Macht.“ Wie muss sich eine Gemeinschaft, für die Autorschaft (Thema Obstbau) und Dämonie zusammengehören, erst fühlen, wenn der Dämonling noch dazu „Redekreuzzüge querlandein“ absolviert und „Beschimpfungen und Schmähreden“ nicht nur gegen die anderen, sondern auch gegen sich selbst richtet.
Bei einer besonders intensiven Raserei verdammt unser Erzähler die gesamte Schöpfung in einem Tourette-Stakkato, wird anschließend zur Sanftmut in Person, kann unversehens in einer unbekannten Sprache reden, wie mit Engelszungen, narrengleich, ein Narr in Christo? Seine Mitmenschen spüren das Außergewöhnliche und strömen zu ihm (anstatt wie früher vor ihm zu fliehen), er hat tatsächlich für diese Pilger einen Spruch parat, einen „Pfeilsatz oder Satzpfeil“ mit „dämonischem Ruck“ hervorschleudernd, orakelt er jedem „ins Gesicht, wie es um ihn bestellt sei, und was es mit ihm auf sich habe, und zwar nicht bloß jetzt, im Augenblick, sondern von Anbeginn.“ Ganz verrückt wird die Geschichte (aber nicht abwegig), als sich andere ‚Besessene‘ zu unserem Haupt-Besessenen gesellen:
Und es war, als seien wir sämtlichen […] wie ohne mögliche Wiederkehr Außersichgeratenen jeder für sich eine Institution, Teil des Weichbildes der Region, und dazu noch im Interesse der Öffentlichkeit.
Nun also, Jahrzehnte später (wie schon erwähnt) und „ganz bei Sinnen, vernünftiger, und das will nun sagen, friedlicher nicht möglich“, verschafft sich unser Protagonist im Aufschreiben Klarheit über diesen Spuk, rekapituliert auch das allerletzte Aufbäumen im Wahn, das Getobe, totales Geschrei, genauer „Inschreie, in einem fort, ohne ein Absetzen.“
Das zweite, änigmatische Kapitel schließt an das inwendige Toben an, doch erleben wir den Dämonling nun weinend, „vollkommen lautlos, um Hilfe.“ Auf einmal kann er aussprechen, was ihn bedrängt, „das Schreckliche ist ja nicht die Finsternis, vielmehr das viele Licht drinnen in mir. Wie böse ist es, dieses Licht“. Es folgt eine Szene, die jene Episode aus dem Markusevangelium (Mk 5, 1–20) nachstellt, in der Jesus mit seinen Jüngern ans Ufer des Sees Genezareth kommt und einem Besessenen die Dämonen austreibt. Der Erzähler und seine Schwester befinden sich ebenfalls an einem See, aus dem Männer ein Fischerboot ziehen, in ihrer Mitte ein Mann mit Augen wie Sonden. Als dieser sich aus der Gruppe löst und auf den Besessenen zutritt, verlassen ihn „im Nu“ die Dämonen. Der „Gute Zuschauer“, so wird er genannt, wirkt dieses Wunder, erscheint ganz und gar menschlich, verständnisvoll. So spektakulär aber zunächst die Szene, so fadenscheinig ihre Übernatürlichkeit, die flugs verpufft und ins Komische kippt. Der Besessene stürzt auf die Knie, springt auf, schon steht er dem wundersamen Fremden gegenüber, der ihn wie einen alten Bekannten begrüßt und von der Schwester als ihr Liebster vorgestellt wird. Der von seinen Dämonen Befreite möge „dalli-dalli, hinüber ins Land hinterm See“ und dort „in der Dekapolis“ (nota bene das Zehnstädtegebiet in der Episode im Markusevangelium) von seiner Erfahrung berichten. Ein „aluminiumleichtes“ Boot liegt im Schilf bereit, der Erlöste ist sich selbst Fährmann, der Außenbordmotor auf der „teichglatten“ Pfütze ganz unnötig, rudern geht mühelos, fast zieht ihn das andere Land zu sich heran.
Drüben wird dem Gesandten kurzzeitig ein blickloses, dafür kosmisches Sehen zuteil, der Tag im anderen Land gebiert frische Daseinsfreude, wird für ihn „der erste mit freiem Herzen und gelösten Sinnen“. Doch hält er auch Prüfungen parat: Wird der ehemalige Dämonling nicht mehr dem Wahn verfallen, nicht mehr wütend, nicht mehr asozial sein, im Frieden mit sich und seinen Mitmenschen leben? Ist dieser erste Tag der Freiheit, ist dieses andere Land womöglich Trug und Schimäre? Wenn schon, was zählt ist das konkrete Empfinden unseres Besuchers, dessen „vielleicht angeborene Ungeduld – ‚Urdämon Ungeduld?‘ aus dem Spiel war, und damit auch die Nothelferin Geduld. Sie tat mir nicht mehr not.“ Der Befreite kann sein, wer er ist, ohne Maske. Den Auftrag des „Guten Zuschauers“ zu berichten, erfüllt er nicht, stattdessen hört er sich die Geschichten der ihm Begegnenden an, geht „mehr und mehr Nicht-Geradeaus“, und beendet den Tag „nach allen den Jahren als Allein-Esser“ mit anderen beim Nachtmahl an einem gemeinsamen Tisch, „eine kleine Gesellschaft waren wir, fremd einer dem andern, und doch, auf eine Weise die Fremdheit stillbewahrend, eines Sinnes.“
Dem Stoff Sinn abringen. Handkes erstes Post-Nobelpreisbuch ist vieldeutig, hastige Lektüre hinterlässt Ratlosigkeit. Stilistisch muss man sich an die von unzähligen Kommata zerhackte Syntax gewöhnen, während wunderbare Wortschöpfungen den Bleisatz bunt tupfen. Das produzierte Stakkato passt trefflich zur ruckaffinen, stoßatmigen Suada des Besessenen, während der manierierte Duktus nach der Ankunft im anderen Land fließgeschmeidiger wird. Der Erlöste muss ins virtuelle Anderswo, um seine Befreiung zu vertiefen. Dort sind scharfes Sehen und Festlegen aufgehoben, kein Hunger setzt matt und Namen sind bedeutungslos, „und solche Namenlosigkeit war mir eine Erleichterung; war Teil meiner Befreiung, und das erst hieß Leben.“ Hinzu kommen eigenverantwortliche Saumseligkeit und der Sinn für Kollektivität. Das dämonenfreie Leben braucht den Ruck durchs gewohnte Leben und den Abwurf alter Lasten; auf Handke gemünzt, Schluss mit dem Drama des Berühmtseins? Vielleicht. Wenn die „eine Geschichte, die ich [es spricht der Erzähler, und ist das Alter Ego Handkes?] noch keinem erzählt habe“, den richtigen Moment brauchte, um erzählt, ja offenbart zu werden, dann ist der Moment mit diesem Buch gekommen.
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