Aufbruch ins ewige Eis

In „Die Eroberung der Pole“ unternehmen der Autor Jesús Marchamalo und der Comiczeichner Augustín Comotto eine außergewöhnliche Reise in die Geschichte der Polarexpeditionen

Von Marieluise LabryRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marieluise Labry

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer schon mal in Oslo war, kam sicherlich nicht umhin, auf der Halbinsel Bygdøy neben dem Wikinger-Museum und dem Kon-Tiki Museum – die Norweger hatten schon immer einen Hang dazu, die unmöglichsten Expeditionen zu unternehmen –, auch das Fram-Museum zu besuchen. Neben zahlreichen Ausstellungsstücken von Polarfahrten kann man dort auch Nansens berühmtes Polarschiff „Fram“ erkunden. Die Faszination an den gefährlichen und langjährigen Polarexpeditionen wird dort fassbar, wenn man in den verschiedenen Räumen und Kabinen steht und sich vorstellt, dass draußen nur klirrende Kälte, Schnee und monatelange Dunkelheit herrschen. Mittlerweile sind Polarexpeditionen zwar noch genauso faszinierend, aber weitaus weniger gefährlich dank moderner Ausrüstung und gut gerüsteten Schiffen, wie der „Polarstern“, die sich 2019 für ein Jahr im Packeis der Arktis einfrieren ließ. Wo heute der Klimawandel untersucht wird, wurde im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert noch unbekanntes Terrain erkundet mit dem großen Ziel, den nördlichsten beziehungsweise südlichsten Punkt der Erde zu erreichen.

Der bahoe Verlag mit Sitz in Wien veröffentlichte im Mai 2021 ein Buch, das sich den Eroberungen der Pole widmet. In einer Übersetzung aus dem Spanischen von Manfred Gmeiner erzählen der Autor Jesús Marchamalo und der Comiczeichner Augustín Comotto die Geschichte jener Männer, die unermüdlich daran arbeiteten, die Pole zu erreichen. Namen wie Amundsen und Nansen bringt man schnell mit Nord- und Südpol in Verbindung, doch die genauen Details zu den Expeditionen, die nicht jeder Expeditor überlebt hat, sind schon unbekannter.

In diesem Buch, Die Eroberung der Pole, das das Herz eines jeden mit bibliophilen Neigungen hochschlagen lässt, finden sich zahlreiche Illustrationen, die die Texte visuell verstärken. In kurzen und spannenden Kapiteln werden die verschiedenen Forscher und deren Expeditionen vorgestellt. Nach einigen Kapiteln finden sich auf Doppelseiten Übersichten zu Flora und Fauna der Arktis und Antarktis. Auch mehrere aufklappbare Seiten mit detaillierten Karten der Routen und Grundrissen der Schiffe verstärken das Gefühl, mitten in einer Polarexpedition zu sein. Es werden ausführlich die Ausrüstung und Forschungsinstrumente beschrieben, aber auch die Schwierigkeiten und teilweise lebensbedrohlichen Situationen auf den Routen mit Hundeschlitten und Skiern durch das Eis. Auch kleinere, teilweise erfolglose Expeditionen werden aufgeführt, was einem verdeutlicht, welches Polarfieber Anfang des 20. Jahrhunderts geherrscht haben muss.

Angefangen mit Nansens Expeditionen in die Arktis und seiner Route durch Grönland auf Skiern werden seine verschiedenen Expeditionen beschrieben. Auch der Bau und die Ausstattung der „Fram“, die ein sicheres Polarschiff werden sollte, das sich im Eis einfrieren und dann in Richtung Nordpol treiben lassen sollte, werden eindrücklich erzählt. Die Fram fror zwar erfolgreich und auch für die Mannschaft an Bord sicher vor Kälte und anderen Gefahren im Eis ein, erreichte aber nicht allein durch die Drift den Nordpol. Nansen beschloss, mit Johanson die letzten 800 Kilometer zum Nordpol auf Skiern zurückzulegen. Die beiden erreichten den Nordpol nicht ganz, kamen aber so weit wie noch keiner zuvor. Es ist unvorstellbar, welche Widrigkeiten die beiden auf sich genommen haben, um zehn Monate in der Arktis zu überleben. Mit eindrücklichen Bildern und beeindruckenden Porträts ist man gefesselt von diesen Geschichten.

Auch Amundsens Weg als erster durch die Nordwestpassage und seine Expedition zum Südpol, die zu einem Wettrennen mit dem Engländer Scott wurde, werden erzählt. Amundsen schaffte es mit seiner Crew als erster, den Südpol zu erreichen. Nur 35 Tage später kam auch Scott mit seiner Crew an. Tragischerweise überlebte kein einziges Mitglied der englischen Expedition den Marsch zurück zum Schiff. Während Amundsen bereits seinen Welterfolg feierte, erreichte ihn die traurige Nachricht von Scotts Tod und machte ihm deutlich, dass neben einer genausten und fehlerfreien Planung auch Glück darüber entscheidet, ob man lebend zurückkehrt. Viele ließen ihr Leben bei dem Versuch, die letzten unbekannten Flecken auf der Erde zu erreichen.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs endete das Polarfieber und der Nationalheld Nansen wurde zum Botschafter für Norwegen in London. Nach 1918 war er Hochkommissar für Kriegsgefangene beim Völkerbund. Er setzte sich für die Millionen Staatenlosen und Kriegsgefangenen ein und verhalf mit dem Nansen-Pass vielen Staatenlosen und Geflüchteten einen legalen Status und rettete damit das Leben vieler, die nach dem Krieg ihre Existenz und Heimat verloren haben. 1922 erhielt er für sein humanitäres Engagement den Friedensnobelpreis. 1930 starb er im Alter von 68 Jahren in der Nähe von Oslo. Sein Grab befindet sich im Garten seines Wohnsitzes, wo heute das Nansen Institute seinen Sitz hat. Wie der Autor und der Zeichner des Buches Nansens Grab 2018 besuchten, wird am Ende des Buches berichtet und schlägt die Brücke zurück in die Gegenwart. Man nimmt dem Autor und dem Zeichner eine Verbundenheit und ein authentisches Interesse ab, das sich in den Texten und Bildern widerspiegelt.

Das Buch, mit seinen stimmungsvollen Illustrationen, ist nicht nur für Erwachsene ein Vergnügen zum Lesen, Gucken und Fühlen (das hochwertige Papier und der schöne Einband lassen einen dieses Buch einfach gern in die Hand nehmen), sondern auch für Schulkinder. Es ist ein ideales Buch zum Vorlesen und gemeinsamen Entdecken einer Zeit, in der weder Nansen noch Amundsen sich hätten vorstellen können, welche katastrophalen Folgen das Schmelzen des „ewigen Eises“ für die Arktis, Antarktis und den Rest der Welt haben sollten.

Titelbild

Jesús Marchamalo / Agustín Comotto: Die Eroberung der Pole. Nansen, Amundsen und die Fram.
bahoe books, Wien 2021.
154 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783903290518

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