Experimente, Modalitäten, Metalepsen

Die Studie „Narratologie und Epistemologie“ widmet sich auf beeindruckende Weise Goethes früher Prosa

Von Dennis BorghardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dennis Borghardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht erst seit den Studien Käte Hamburgers zur Logik der Dichtung (1957), Gérard Genettes Métalepse (2004) oder Christoph Demmerlings und Ingrid Vendrell Ferrans Sammelband zu Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur (2014) zählt das Verhältnis von Erzählen und Erkennen zu einem der Kernprobleme, die an der Schnittstelle von Literaturwissenschaft und Philosophie angesiedelt sind. Nach der grundsätzlichen Möglichkeit der Wissensvermittlung durch Literatur, nach deren epistemischem Wert zu fragen, ist bereits in der Antike – selbst wenn diese keine (Teil-)Disziplin wie die moderne Narratologie kannte – in poetologischen, (natur-)philosophischen oder auch theologischen Diskursen ein weithin diskutiertes und in den späteren Epochen der europäischen Geistesgeschichte verstetigtes Sujet. Auch der umgekehrte Blickwinkel – die Frage, inwiefern Erkenntnisprozesse bereits genuine Elemente des Literarischen mit sich führen können – ist nicht nur für LiteraturwissenschaftlerInnen von einigem systematischen und historischen Interesse.

So befasst sich der in der Reihe „Studien zur deutschen Literatur“ (Bd. 219) erschienene Band Narratologie und Epistemologie. Studien zu Goethes frühen Erzählungen mit dem charakteristischen Nexus, der Goethes prosaisches Frühwerk hinsichtlich seiner Natur- und Erzählkonzepte auszeichnet. Ausgangspunkt hierfür bildet die Feststellung, dass Goethes frühe Erzählungen „deshalb unterschätzt [sind], weil verkannt wird, dass sie nicht nur Experimente der Natur, sondern vor allem auch Experimente im Erzählen darstellen, die über die Abteilungen hinweg in den literarischen Erzählungen produktiv werden.“ (12) Die ideengeschichtliche Folie zu diesem Befund wiederum bildet der Wandel des Weltbildes im späten 18. Jahrhundert – einer Zeit, in der bekanntlich eine Ausdifferenzierung der bereits durch die Aufklärung etablierten Wissenssysteme der Naturwissenschaft und -philosophie stattfand, welche die klassischen Auffassungen von der Natur (natura, essentia, ensmechanicavis, motus etc.) vor neue Herausforderungen stellte. Dass es sich dabei nicht schlichtweg um alte Dispositionen in neuem Gewand handelt, verdeutlicht etwa die Tatsache, dass Sulzers kausalmechanischen Prinzipien von Wirkung und Ursache verhafteter Naturbegriff, wie er in der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste entfaltet wird, einerseits einen Bereich strenger Gesetzmäßigkeiten eröffnet, dieser Bereich jedoch zugleich durch Erzählpraktiken regelrecht überwunden werden könne. Dies geht bisweilen so weit, dass das Wesentliche, mithin das Natürliche „vor allem in den Motivierungen auf Figurenebene“ (68) bestehen könne.

Die Studie lässt zur Erläuterung dieser Verschränkungen nun gegenüber dem Naturbegriff den Erkenntnisbegriff in den Vordergrund treten: In Goethes Frühwerk ist demgemäß in doppelter Hinsicht eine geschichtlich spannungsreiche Konstellation nachzuverfolgen, deren eine Spielart – wie gleich zu Beginn zu Recht konstatiert wird – anzeigt, dass „in Poetik, Ästhetik und Philosophie […] Narratologie und Epistemologie eine Einheit bilden“ (1), deren zweite, vielleicht noch reizvollere Spielart indes zum Ziel hat, „naturwissenschaftliche und literarische Erzählungen im Hinblick auf ihre Erzählformen miteinander [zu] [vergleichen]“ (2). So sehr also auch durch die spätaufklärerischen Diskurse die Differenzierungen von Wissenssystemen verstetigt und vorangetrieben wurden, so sehr trägt Meixners Studie den Anspruch vor, über diese „Abteilungen“ hinweg ein möglichst konsistentes Bild von der Positionierung Goethes zur „Ordnung der Natur“ wie zur „Ordnung der Literatur“ (2) zu entwerfen. Anders gewendet, legt die Studie dar, dass Goethes Texte genau dann innovativ werden, wenn sie an die „Grenzen ihrer Abteilungen“ (14) stoßen. Einer ihrer wesentlichen Fluchtpunkte besteht daher darin, liminale Betrachtungen einzelner Erzählverfahren zum umfassenderen Bild einer Poetologie zu vereinen und im Wechselspiel von Erzähl- und Naturtheorie beschreibbar zu machen. Das untersuchte Corpus enthält mit Granit I und II, Arianne an Wetty, Die Leiden des jungen Werthers, Wilhelm Meisters Lehrjahren, der Metamorphose der Pflanzen oder den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten Werke (bzw. im Fall von Arianne an Wetty: Werkfragmente), die sich nach Grad und Art ihrer Kanonisierungen stark unterscheiden, woraus nicht zuletzt ein neuer Blick auf Goethes Frühwerk – abseits heutiger bildungsbürgerlicher Demarkationen – entsteht.

Was bedeutet der gewählte Ansatz für die Narratologie? Die Studie geht dieser Frage, in ihrem theoretischen Zuschnitt wesentlich auf Genette, v.a. in kritischer Auseinandersetzung, rekurrierend, auf verschiedenen Ebenen sowie in mehreren Schritten nach: Die erfreulich klare Strukturierung nach „Ort“ (117–196), „Folge“ (197–296) und „Modus“ (297–367) bildet die Kategorien ab, nach denen das Untersuchungsfeld dann systematisch aufgespannt wird; die Paradigmen wiederum enthalten neben ihrer Genette’schen Grundierung auch historisch-naturwissenschaftliche Implikationen, wie sich etwa an den Ausführungen zu Goethes Optik und den damit verbundenen „Modi der Natur“ (297–332) ablesen lässt; die Farbenlehre wird demzufolge in Goethes optischen Schriften im selben Maße, wie sie als Naturphänomen beschrieben wird, wesentlich auf narrative Muster zurückgeführt, wie Meixner in einer genauen rhetorischen Analyse des Versuchs als Vermittler von Objekt und Subjekt sowie der Beiträge zur Optik nachweist. Die Darstellungsart der Studie nutzt dabei bevorzugt selbst geometrische Termini; es ist ziemlich viel von Parallelen, Punkten, Integralen, Figuren und überhaupt Formen die Rede, nach denen sich die Poetik Goethes im geschilderten Sinn skizzieren lässt, woraus sich eine recht taxonomische, von den Kriterien der Klarheit und Vereindeutigung geleitete Diktion ergibt. Dennoch täte man der Studie Unrecht, würde man ihren Ansatz rein ‚formalistisch‘ nennen, bilden doch epistemische Verstehensprozesse auch methodisch den primären Leitfaden für die Behandlung der Phänomene von Naturalisierung und Renaturalisierung, die wiederum im Paradigma der Produktivität, einem integralen Bestandteil der goetheschen Symbolik, konvergieren – oder, wie Meixner an einer Stelle prägnant zusammenfasst: „Goethes naturphilosophische und naturwissenschaftliche Anfänge bieten eine narrative Stimmenfindung, die epistemologisch grundiert ist.“ (145)

Was heißt diese „Stimmenfindung“ umgekehrt für die Naturphilosophie respektive -wissenschaft? So sehr die Naturbetrachtung im späten 18. Jahrhundert eine möglichst lückenlose Beschreibung und Erklärung anstrebt, so sehr muss sie Lakunen in ihren experimentellen Prämissen und Schlussfolgerungen hinnehmen. Die Natur lässt sich nie als ‚Ganze‘ erfassen (im Gegensatz zum alten aristotelischen ὅλον/hólon-Anspruch an Fiktionen), nicht jedes Gesetz auf einen konsistenten, geschweige ‚logisch‘ zu bezeichnenden Nenner bringen. Die Erkenntnistheorie müsse demzufolge „Darstellungstheorie – ja Erzähltheorie – in ihr Argument […] integrieren“ (68). Somit sind naturgemäße Erkenntnisprozesse auf Techniken des Erzählens angewiesen, um Lücken und Inkonsistenzen in ihren eigenen Systemen zu überbrücken. Das heißt gleichwohl nicht, sie mit Beliebigem zu ‚füllen‘; vielmehr gewinnt die Verschränkung narrativer Reihungen neues Gewicht; ihr Sammelplatz an der Schnittstelle von Rhetorik und Erzählverfahren ist, wie Meixner herausarbeitet, die Metalepse. Mit ihr lassen sich die Sphären von Erzählung und Erkenntnis auf einen vorläufigen  Nenner bringen, insofern sie sich „ein fundamentales Prinzip des erzählenden Textes zunutze [macht], das Kohäsion über Wiederholung generiert und so verschiedene Rahmen bildet“ (98) – wodurch die Metalepse vice versa auch zu einem Prinzip der Naturphilosophie wird.

Hieraus ergibt sich ein semantisch eher weit gefächerter Begriff von Erkenntnis, der nicht allein auf epistemisch abgeschlossene Größen rekurriert, sondern die Dynamik bzw. die Entstehung von Wissen sowie die Bedingungen, unter denen Wissen allererst ermöglicht wird, in die Betrachtungen elementar mit einbezieht. In diesem Zusammenhang wären noch etwas ausführlichere Einlassungen zu Baumgarten möglich gewesen, die über die wenigen Seiten (72–78) hinausgehen, in denen vor allem die Zentralchiffre des felix aestheticus für das Thema aufbereitet wird. Sinnliche Erkenntnis, als Analogisierung der superioren und inferioren Seelenvermögen aufgefasst, die nicht zuletzt in einer – von Baumgarten in der Aesthetica (§1) selbst so benannten – gnoseologia zu begreifen sind, lassen die mechanistische wie antimechanistische Disposition hervortreten, die Baumgartens Ästhetik naturphilosophisch eingegeben ist. Ein dezidiert erkennendes – und nicht ‚bloß‘ wissendes – Moment scheint hier bereits in der Wortwurzel ‚γνο/gno‘ (γιγνώσκειν/gignóskein: ‚erkennen‘) auf. Aber auch ohne derartige Erwägungen zieht Meixner aus seinen Einlassungen zum felix aestheticus den überzeugenden Schluss, dass mit der wissensbasierten Sublimierung der Erzählerposition zugleich auch ein ästhetisches Erfordernis deutlich wird, insofern „[w]ir […] also Fiktionen [brauchen], um unseren eingeschränkten Erfahrungshorizont zu erweitern; ihre Legitimation ist epistemologisch.“ (74)

Die Studie leistet einen höchst substantiellen Beitrag sowohl in Hinsicht auf die von ihr behandelten Primärtexte als auch auf die in ihr zur Geltung gebrachten (Inter-)Diskurse und ideengeschichtlichen Konzepte. Im Resultat rückt sie die Poetik des frühen Goethe gleichsam in ein neues Licht. Hinzu kommt ein beträchtlicher Wert, der darin besteht, einen Fundus an Konzepten für künftige Forschungsbemühungen bereitzustellen und leitende Fragen nach dem Verhältnis von historischer Narratologie (in der Studie vor allem über Blanckenburg und Engel kontextualisiert) und Epistemologie anhand einer konkreten diskursgeschichtlichen Gemengelage sowie anhand eines der wirkmächtigsten Autoren überhaupt zu stellen. Denn gerade mit Blick auf Goethes Symbolbegriff, in dem Naturanschauung und Naturgesetz eine wesensgemäße Einheit bilden sollen und der für das 19. Jahrhundert zumindest als Negativfolie eine wichtige Instanz – insbesondere, wie Moritz Baßler in jüngerer Zeit herausgestellt hat, für die Semiotik des poetischen Realismus – darstellt, lässt sich der Gegenstand von Meixners Studie in der Linie einer größeren historischen Auseinandersetzung mit Erzähltechnik, Wissenstheorie und Semiotik verorten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sebastian Meixner: Narratologie und Epistemologie. Studien zu Goethes frühen Erzählungen.
Studien zur deutschen Literatur 219.
De Gruyter, Berlin 2019.
416 Seiten, 99,95€ EUR.
ISBN-13: 9783110583090

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