Die Erfahrung des Fremden
Warum das richtige Buch fast so viel wert ist wie eine Reise
Von Mario Wiesmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseViele Menschen zählen Reisen zu ihren liebsten Erinnerungen. Auf Reisen begegnen wir Fremdem, sammeln neue Eindrücke und lernen Orte kennen, an die wir immer wieder in Gedanken zurückkehren. Wenn wir heute das Wort ‚Sightseeing‘ nur noch mit einem spöttischen Unterton auszusprechen wagen, dann weil der Massentourismus daraus einen Akt der Verdinglichung gemacht hat. Eine Unzahl von Urlaubsfotos soll als Vergewisserung dienen, genug gesehen und erlebt zu haben, und täuscht darüber hinweg, dass für echtes Sehen und Erleben überhaupt keine Zeit gewesen ist. Die Kunst des Reisens besteht darin, intensiv wahrzunehmen und zu erleben.
Ich gehöre zu den Menschen, die im Urlaub alle Kirchen, Schlösser und Denkmäler sehen wollen. Was mich zu diesen Orten zieht, ist aber nicht in erster Linie mein Wissensdurst, sondern ein besonderes Gefühl, die „Bestürzung, oder Art von Verlegenheit“, die laut Kant „den Zuschauer in der St. Peterskirche in Rom beim ersten Eintritt anwandelt“. Kunstwerke wie der Petersdom sind nicht die einzige Quelle solcher Erfahrungen. Auf das Erhabene und das Schöne stoßen wir auch bei der Betrachtung der Natur, etwa in der Aussicht über Täler und Wälder oder im überwältigenden Anblick eines Wasserfalls oder Gebirgsmassivs. Während einer Reise gilt meine Aufmerksamkeit aber nicht nur einer begrenzten Anzahl besonderer Sehenswürdigkeiten. Meine Sinne werden vielmehr allgemein dafür sensibilisiert, noch in den unscheinbarsten Details die Schönheit der Welt zu entdecken.
Reisen verbinde ich mit einer bestimmten Erfahrung, die ich mache, wenn ich mich Unbekanntem aussetze. Man könnte sie bewusstseinserweiternd nennen. Hans R. Jauß hat sie mit Blick auf Kunst als ästhetische Erfahrung bezeichnet. Vor den Mauern einer alten Festung zu stehen, verschafft mir so etwas wie ein historisches Bewusstsein, das sich durch kein historiografisches Wissen ersetzen lässt; das diesem Wissen erst Tiefe und Bedeutung verleiht. Das Treiben an einem belebten Platz kann, in ästhetischer Einstellung wahrgenommen, zum pars pro toto werden, das die unbegreifliche Vielfalt der Welt um uns erahnen lässt. Hier liegt offensichtlich eine Parallele zur Literatur. Sie ist aber nicht oberflächlich. Nicht jeder Reisebericht bringt mit den beschriebenen Eindrücken und Erlebnissen auch ihre besondere Wirkung zum Ausdruck. Jeder Text droht im Gegenteil, als Schrifterzeugnis hinter die Erfahrungen zurückzufallen, die er festhalten soll. Nur als Literatur, durch eine besondere Sprachverwendung, haben Texte dieser Mittelbarkeit etwas entgegenzusetzen. Ob ein literarischer Text ästhetische Erfahrungen vermitteln kann, hängt deshalb auch von seiner Form ab. Das macht Lyrik als dichteste sprachliche Kunstform zum prädestinierten Ort dichterischer Erfahrung.
In ihrem Gedicht das trödeln am rand kleiner straßen beschreibt Nadja Küchenmeister Eindrücke aus Bukarest:
männer tragen ihre hemden, fadenscheinig, als haut
durch den park, hüte schlafen auf den knien, und etwas
von dem grau der wolken ist hineingeschleudert
in die gesprenkelten markisen, in gardinen aus spitze
in ungeputzte fensterscheiben und wartezeiten bei der post
Der Wirklichkeitseffekt, den diese Verse erzeugen, hat auch mit Küchenmeisters Gespür für Motive zu tun. Details wie die abgetragenen Hemden der Männer in einem Park sind oft untrennbar mit unserer Erinnerung an bestimmte Orte verbunden. Das ist aber nicht alles, was Küchenmeisters Gedicht ausmacht. Wenn darin die Hemden der Männer als ihre Haut beschrieben werden oder die Hüte als schlafende Lebewesen, hält es zusammen mit diesen Details die Faszination fest, die sie auslösen. Selbst der Schmutz der Stadt erscheint verwandelt: Er ist das aus den Wolken geschleuderte Grau, wird zum erhabenen Naturereignis. Unscheinbare, nicht mal mehr schöne Dinge werden auf diese Weise lebendig und mit Sinn aufgeladen.
Das Verfahren, das Küchenmeister dabei einsetzt, hat Viktor B. Šklovskij Verfremdung getauft. In das trödeln am rand kleiner straßen drückt es in eins mit dem Fremden seine Fremdartigkeit aus. Die Personifikation („hüte schlafen“) ist eine Variante dieser literarischen Technik. Die Vorgehensweise ist aber immer dieselbe: Etwas zu verfremden, heißt, es auf ungewöhnliche Weise zu beschreiben. Wie imposante Bauwerke und Naturschauspiele können literarische Texte uns so dazu bringen, innezuhalten. Was sie darstellen, wird durch das Verfahren der Verfremdung „aus dem Automatismus der Wahrnehmung herausgelöst“, und dieser Entautomatisierung der Wahrnehmung misst Šklovskij größte Bedeutung bei. Sie soll unseren abgestumpften Blick wieder für das Besondere schärfen, uns die Dinge wieder intensiv erleben lassen.
In Jan Wagners Gedicht hamburg – berlin reist das lyrische Ich mit der Bahn von Hamburg nach Berlin, hat die Welt jenseits des Fensters aber vermutlich bisher nur desinteressiert wahrgenommen, wenn überhaupt. Erst als der Zug mitten auf der Strecke hält, verändert sich etwas:
der zug hielt mitten auf der strecke. draußen hörte
man auf an der kurbel zu drehen: das land lag still
Die unverhoffte Konfrontation mit der fremden Umgebung, die im Kontrast zur eben noch schnell am Fenster vorbeiziehenden Landschaft jetzt wie erstarrt daliegt, entautomatisiert den Blick. Die Außenwelt drängt sich dem lyrischen Ich in ihrer irreduziblen Faktizität auf. Es folgt eine ganze Reihe verfremdender Darstellungen. Das in der Abenddämmerung liegende Dorf wirkt, als hätte es dem Tag den Rücken zugekehrt, die Windräder erscheinen wie Schaufelräder, die in den Himmel graben. Das lyrische Ich betrachtet die Welt mit derselben Bewunderung, die besondere Orte auf Reisen in uns wecken können.
Jan Wagner muss auf einer Zugfahrt in seine Wahlheimat zu diesen Zeilen inspiriert worden sein. Sie verdanken sich einer Erfahrung, die man nicht am Schreibtisch machen kann. Bilder wie das der Windräder als Maschinen, die in den Himmel bohren, sind gemeinsame Produkte der Sinne und der Fantasie. Sie müssen draußen in der Welt gefunden werden. Der Zusammenhang zwischen Reisen und Lesen ist nicht zufällig. Schriftsteller*innen sind geschäftlich Reisende.
Verfremdung macht die Dinge echt, bringt unbeachtete Facetten der Wirklichkeit zu Bewusstsein und schafft unerwartete Assoziationen. Der intensiven Betrachtung kann sich dabei weit mehr enthüllen als nebensächliche Details. In hamburg – berlin beobachtet Gott mit angehaltenem Atem die mit den Windrädern vorgenommene „probebohrung im himmel“. Wer das Gedicht auf seine Komik reduziert, übersieht den Ernst dieser Zeilen, die Bedeutung der Erfahrung, die Jan Wagner in ihnen festgehalten hat. Sie hat mehr mit dem Betreten des Petersdoms gemeinsam, als das Sujet des Gedichts erwarten ließe. Auch Nadja Küchenmeisters Metaphern wollen ernst genommen werden: Indem sie die Hemden der Männer als ihre Haut und die Hüte als Lebewesen vorstellen lassen, verleihen sie Alltagsgegenständen eine existenzielle Dimension. Im Schmutz der Stadt gibt sich womöglich sogar eine Gottheit zu erkennen, die das Grau der Wolken in Markisen, Gardinen und Fensterscheiben geschleudert hat.
Verfremdung ist eines der wirkungsvollsten literarischen Mittel, um ästhetische Erfahrung sprachlich festzuhalten. Sie vermittelt uns Eindrücke und Gefühle, die Autor*innen in der Welt gesammelt haben und nur auf diese Weise ausdrücken konnten. Sie hilft uns, einen offenen Blick wiederzuerlangen, den wir im Alltag mit der Zeit verlieren. Dieser Effekt ist nachhaltig und messbar. Er zeigt sich in einer stärkeren Aufmerksamkeit für unsere vertraute Umwelt. Wenn uns, zurück aus dem Urlaub, zum ersten Mal die schöne Fassade eines alten Gebäudes auffällt, an dem wir schon oft vorbeigelaufen sind. Oder beim Lesen auf einer Parkbank, wenn wir kurz vom Buch hochschauen und sich unser Blick im Park mit seinen Spaziergängern verliert wie in einem Gemälde. Ein gutes Buch kann uns, wie Šklovskij sagt, lehren, zu sehen, statt nur wiederzuerkennen. Wer solche Erfahrungen macht, wird aufmerksamer durch sein Leben gehen. Man muss nur wissen, wie man richtig liest. Nicht wie ein Tourist, der von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit eilt, sondern empfänglich für das, was uns die Dinge sagen, wenn wir genau hinhören.
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