Drei urbane Romane, die ins Turin der 1940er Jahre führen

Cesare Paveses Romantrilogie „Der schöne Sommer“ ist in einer Neuausgabe erschienen

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor vier Jahren startete der Rotpunktverlag die Neuausgabe der Romane des italienischen Schriftstellers Cesare Pavese (1908–1950), der als wichtigster Vertreter des Neorealismus und Begründer der modernen Literatur seines Landes gilt. Auftakt der Neuübersetzungen von Maja Pflug bildete 2016 Paveses letzter Roman La luna e i falò (1950, dt. Der Mond und die Feuer), der die Rückkehr eines Auswanderers in sein italienisches Heimatdorf schildert. 2018 folgte La casa in collina (1948, dt. Das Haus auf dem Hügel), der in den dramatischen Sommermonaten 1943 in Oberitalien spielt und in dem sich Pavese selbstkritisch mit seiner passiven Haltung im politischen Widerstand auseinandersetzt. 2019 dann der Roman Il compagno (1947, dt. Der Genosse), in dem sich der Protagonist der Widerstandsbewegung anschließt.

Nun liegt die Romantrilogie La bella estate (dt. Der schöne Sommer) vor, die zwischen 1940 und 1949 entstand. Die „Turiner Trilogie“ – wie sie auch genannt wird – besteht aus den schmalen Romanen La bella estate, Il diavolo sulle colline (dt. Der Teufel auf den Hügeln) und Tra donne sole (dt. Die einsamen Frauen), die jeweils in viele kleine Kapitel unterteilt sind. 1950 wurde Pavese dafür mit dem wohl bedeutendsten italienischen Literaturpreis, dem Premio Strega, ausgezeichnet. Im selben Jahr nahm er sich in einem Turiner Hotelzimmer das Leben. Das „absurde Laster“, wie er selbst einmal seine Einsamkeit und das Sich-Unverstanden-Fühlen nannte, hatte ihn sein ganzes Leben nicht verlassen.

Am 9. September 1908 in Santo Stefano Belbo, einem Dorf in Piemont, als Sohn eines Turiner Juztizbeamten geboren, wuchs Pavese in Turin auf, wo er auch Literaturgeschichte studierte, wurde Lehrer und schließlich Lektor im berühmten Verlagshaus Einaudi. 1935/36 verbannte ihn das Mussolini-Regime wegen antifaschistischer Tätigkeit nach Kalabrien. Seine letzten Lebensjahre nach dem Ende des Krieges verbrachte er wieder in Turin. So sind die Handlungen vieler seiner Romane und Erzählungen in der piemontesischen Metropole angelegt.

Bereits im Vorwort der Originalausgabe äußerte sich Pavese zum literarischen und persönlichen Anliegen seiner Turiner Romane:

Drei urbane Romane, drei Romane über die Entdeckung der Stadt und der Gesellschaft, drei Romane über jugendliche Begeisterung und gescheiterte Leidenschaft. In jeder der unterschiedlichen Handlungen und Milieus kehrt das Thema der Versuchung wieder, der Einfluss, dem alle Jugendlichen zwangsläufig ausgesetzt sind. Ein weiteres Thema ist die atemlose Suche nach dem Laster, das übermütige Bedürfnis, die Norm zu übertreten, an die Grenzen zu stoßen.

Der schöne Sommer (entstanden 1940) ist der erste und mit etwas mehr als hundert Seiten der kürzeste Roman der Trilogie. Er beschreibt die Liebeserfahrung der sechszehnjährigen Ginia. Die schüchterne Näherin macht im Turin der Vorkriegsjahre ihre ersten Erfahrungen in der Liebe. Der Sommer ist das Symbol für eine Zeit der Ausgelassenheit und des Glücks. Gemeinsam mit ihren Freundinnen bummelt Ginia in der Stadt, besucht Cafés und Tanzlokale. Durch ihre eher freche Freundin Amelia macht sie Bekanntschaft mit einer Bohèmeszene und verliebt sich in den Maler Guido. Bald steht sie ihm Modell; doch die verträumte Ginia wird hintergangen und erlebt eine große Enttäuschung.

Doch es gelang Ginia nicht, wirklich verzweifelt zu sein. Ihr war klar, dass sie sich dumm angestellt hatte. Den ganzen Vormittag dachte sie daran, sich umzubringen oder wenigstens eine Lungenentzündung zu bekommen. Dann wären die anderen schuld daran und hätten Gewissensbisse. Aber sich so umzubringen, lohnte sich nicht. Sie hatte sich als Frau aufspielen wollen und es nicht geschafft.

Der zweite Roman Der Teufel auf den Hügeln erzählt von drei Studenten, die sich am Tag langweilen und abends auf den Hügeln am Stadtrand Streifzüge unternehmen: neben dem Ich-Erzähler, dessen Name nicht erwähnt wird, die beiden Freunde Pieretto und Oreste. Bei einem nächtlichen Spaziergang treffen sie Poli, den Oreste aus seiner Kindheit kennt. Dieser kokainsüchtige und schwer lungenkranke Sohn einer reichen Mailänder Familie lebt getrennt von seiner Frau mit seiner Geliebten Rosalba zusammen. Die nächsten Tage verbringen sie gemeinsam, unternehmen Ausflüge oder besuchen ein Luxus-Café. Daran schließen sich die Sommerferien der drei Freunde in Orestes Heimat an, einer Hügellandschaft südlich von Turin, die zu dieser Jahreszeit neben Weinbergen von dürren Stoppelfeldern geprägt wird. Als sie erfahren, dass der verwahrloste Landsitz von Polis Familie sich in der Nähe befindet, besuchen sie Poli, der hier auf Wunsch seines Vaters seine Lungentuberkulose auskurieren soll. Vergnügungen und lange Gespräche über Gott und die Welt füllen die Tage aus.

„Religion“, sagte Pieretto und blieb stehen,

heißt zu verstehen, wie die Dinge laufen. Dazu ist kein Weihwasser nötig. Man muss mit den Leuten reden, muss sie verstehen, wissen, was jeder will. Alle wollen etwas im Leben, wollen etwas tun, wissen aber nie genau, was. Doch für jeden ist in diesem Wollen Gott. Man muss es nur verstehen und helfen, zu verstehen …

Nach einem ausgelassenen Fest erleidet Poli einen Blutsturz. Die drei Freunde verabschieden sich von ihm und kehren in Orestes Dorf zurück. Neben ihren vielen Diskussionen untereinander und mit Poli nehmen Landschaftsschilderungen eine zentrale Rolle in dem Roman ein.

Der dritte Roman Die einsamen Frauen spielt wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Ich-Erzählerin Clelia Oitana, die sich von der einfachen Schneiderin zur ehrgeizigen Modistin hochgearbeitet hat, kommt zurück in ihre Heimatstadt, das winterliche Turin, wo man sich gerade auf den Fasching vorbereitet. In der eleganten Großstadt soll sie im Auftrag einer römischen Firma eine Modefiliale aufbauen. Kaum in ihrem Hotel angekommen, wird sie flüchtige Zeugin, wie im Nachbarzimmer eine junge Frau einen Selbstmordversuch unternommen hat. „Einen allgemeinen Ekel vor dem Leben“ gibt die lebensmüde Rosetta später als Begründung für ihre Verzweiflungstat an.

Bald hat Clelia Kontakt zur besseren Gesellschaft der Stadt, ihrer zukünftigen Kundschaft. Meist sind es junge, reiche Frauen, die ihre Zeit totschlagen. Leere bestimmt ihr Leben. Clelia, die eine „Lust am Alleinsein“ hat, fühlt sich unwohl in dieser gelangweilten Müßiggängergesellschaft; doch sie ist gezwungen, Empfänge, Partys und Besuche im Spielcasino wahrzunehmen.

Ich schlenderte unterdessen durch die Säle, doch die vielen sich um die Spieltische drängenden Leute gingen mir auf die Nerven. An den Wänden hingen große Gemälde, Landschaften und nackte Frauen, als sollte damit gesagt werden, das Ziel aller Spieler sei, es sich gut gehen zu lassen und nackte Frauen im Pelzmantel auszuhalten.

Am Ende sind die Arbeiten an dem neuen Modesalon abgeschlossen, doch Clelia ist zunehmend desillusioniert. Gegen ihren Willen – eigentlich möchte sie nach Rom zurück – wird sie die Chefin der Filiale. Damit und mit dem geglückten Selbstmord Rosettas spannt Pavese einen Bogen zum Anfang des Romans und symbolisiert damit die Ausweglosigkeit des Lebens.

Die Turiner Romane gehört zu den Hauptwerken des Neorealismus. Neben den Naturbeschreibungen schilderte Pavese hier das Lebensgefühl der jungen Leute in den 1940er Jahren. Er fing die Atmosphäre jener Nachkriegsgesellschaft ein, die ihren Illusionen erliegt und deren Werteverfall sich bereits abzeichnet. Und so verzweifelte Pavese auch an den gesellschaftlichen Verhältnissen in Italien und der Unfähigkeit des Menschen zu echter Kommunikation. Das ließ ihn schließlich verstummen.

Die Roman-Trilogie liegt in einer Übersetzung von Maja Pflug aus dem Jahre 2008 vor. Neben Cesare Pavese hat sie auch Natalia Ginzburg, Fabrizia Ramondino, Rosetta Loy u. v. a. übersetzt. 2010 wurde sie mit dem Deutsch-Italienischen-Übersetzerpreis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Pavese war selbst Übersetzer der großen amerikanischen Romanciers wie William Faulkner, Herman Melville, John Dos Passos und John Steinbeck gewesen. Diese Übersetzertätigkeit wirkte sich auch unmittelbar auf seinen literarischen Stil aus. Die Neuübersetzung Maja Pflugs macht diese sprachlichen und stilistischen Elemente wieder sichtbar.

Neben einer Auflistung ausgewählter Daten und Werke wird die Ausgabe statt eines Nachwortes durch ein kurzes Porträt eines Freundes der Schriftstellerin Natalia Ginzburg (1916–1991) ergänzt, die in Turin über viele Jahre hinweg einen engen Kontakt mit Pavese hatte. Sie erinnert an diese gemeinsame Zeit und seinen Freitod:

Niemand von uns war da. Er wählte, um zu sterben, irgendeinen Tag jenes glühend heißen Augusts, und er wählte dazu ein Hotelzimmer in der Nähe des Bahnhofs: Er wollte wie ein Fremder sterben in der Stadt, die ihm gehörte.

Titelbild

Cesare Pavese: Der schöne Sommer. Drei Romane.
Aus dem Italienischen von Maja Pflug.
Rotpunktverlag, Zürich 2021.
487 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783858699039

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