Schwarz und Weiß mit Grauzonen

Dorothy Wests fulminanter Roman „Die Hochzeit“ liegt jetzt in einer überarbeiteten Neuausgabe vor und erklärt, warum Klassenzugehörigkeit und Hautfarbe das Leben diktieren

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gewidmet ist der Roman Jacqueline Kennedy Onassis. Der Grund dafür ist recht einfach. Ohne sie gäbe es den Roman wahrscheinlich nicht. Was vielleicht nicht allzu bekannt ist, Kennedy Onassis arbeitete ab 1976 als Lektorin für den amerikanischen Verlag Doubleday, in dem Wests Roman 1995 erschienen ist. „Auch wenn es den Anschein nach nie ein ungleicheres Paar gab, haben wir uns doch vorbildlich ergänzt“, lautet die schlichte Widmung. Die Lektorin, die ein besonderes Interesse für afroamerikanische Literatur besaß, wollte gerade diesen einen Roman dem Lesepublikum zugänglich machen und damit zugleich eine Schriftstellerin ins Rampenlicht zurückholen, aus dem sie schon so lange verschwunden war. Das Verschwinden erklärt Diana Evans in ihrem Nachwort so: West habe „vornehm schwarz“ geschrieben, als „elend schwarz“ in Mode war – es klingt so provokant wie einleuchtend.

Ab 1992 besuchte Kennedy Onassis die Autorin während der Sommermonate regelmäßig einmal die Woche, um zusammen mit ihr den Roman in eine publikationsreife Fassung zu bringen. West war da bereits 85 Jahre alt. Nachbarinnen waren sie überdies, denn beide lebten damals (zumindest zeitweise) auf der Insel Martha’s Vineyard, diesem exklusiven Wohnort der amerikanischen Oberschicht, wo auch Dorothy West ein Haus besaß, das sie von ihrem Vater geerbt hatte. Und auf eben dieser Insel ereignet sich, wovon der Roman erzählt. Darin enthalten ist die Erzählung vom gesellschaftlichen und ökonomischen Aufstieg zweier schwarzer Familien, beginnend in der Epoche der Sklaverei. Das Buch wurde ein Bestseller und seine deutsche Übersetzung erschien bereits im Jahr darauf bei Rowohlt. Jacqueline Kennedy Onassis hatte den Erfolg ihrer Autorin mit all den anschließenden Ehrungen allerdings nicht mehr erlebt, sie starb im Mai 1994 und West war 91 als sie ihr wenige Jahre später folgte.

Wer war diese im damaligen Literaturbetrieb weitgehend vergessene Dorothy West? Geboren wurde sie 1907 in Boston. Sie wuchs in einer wohlhabenden Familie auf und begann sehr früh mit dem Schreiben. Es waren vor allem Kurzgeschichten, mit denen sie erste Erfolge feierte, und Kurzgeschichten schrieb sie auch später am liebsten. Sie war erst siebzehn als sie sich einer künstlerischen Bewegung anschloss, die als „Harlem Renaissance“ und als „eine Dekade frenetischer Kreativität“ in Erinnerung blieb, wie dies Angela Köckritz in einer in „Die Zeit“ erschienenen Würdigung beschrieb. Man darf diese Zwanziger Jahre in Harlem wohl tatsächlich als ein kulturelles Feuerwerk bezeichnen, das ausschließlich von Afroamerikaner*innen gezündet wurde. Zwischen all den großen Künstler*innen, den Jazz-Musiker*innen, Sänger*innen und Schriftsteller*innen behauptete sich die junge Dorothy, die den Spitznamen „the Kid“ erhielt. New York zog viele wie ein Freiheitsversprechen magisch an und hier entstand zugleich eine Keimzelle der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Stellvertretend für viele andere sei hier der Bürgerrechtler W. E. B. Du Bois und der Dichter Langston Hughes genannt.

Die Kurzgeschichte blieb zeitlebens Wests bevorzugtes Format, bis sie 1948 ihren ersten autofiktionalen Roman The Living is Easy veröffentlichte. Fast fünf Jahrzehnte sollten dann vergehen, bis ihr zweiter und letzter Roman The Wedding erschien, der dann 1995 sogleich ein breites Lesepublikum fand. In einem Interview für die „Los Angeles Times“ erinnerte sie sich an die Zeit damals in Harlem, dem nördlichen Teil von Manhattan, mit all seiner Aufbruchstimmung:

Wir dachten, wir würden die größten Schriftsteller der Welt werden. Wir waren alle jung und haben uns ineinander verliebt. Wir hatten alle die gleichen Ambitionen […]. Wir waren frei. […] Wir hatten eine Unschuld, die heute niemand mehr haben kann.

West war davon überzeugt, dass zwar Hautfarbe von Bedeutung ist, aber mehr noch die Klassenzugehörigkeit. Wie sich beides vermischt und das Leben prägt, genau davon erzählt West in ihrem Roman. Das, was wir heute strukturellen Rassismus nennen, sah sie mit klarem, illusionslosem Blick in ihrem Land und in der sie umgebenden weiß dominierten Gesellschaft. Diesen Blick lehrte sie schon früh ihre Mutter, wenn sie in der Stadt unterwegs waren: „Kommt, Kinder, lasst uns rausgehen und die Weißen verrückt machen“, hieß es dann immer. „Sie sagte es ohne Groll“, erinnerte sich West,

und sie sagte es auf diese unverschämte Art, die uns zum Lachen brachte. Sie erleichterte uns den Eintritt in eine Welt, die uns überragte und uns zahlenmäßig überlegen war.

Am Ende geht es auch um Stolz und um Selbstbewusstsein. Hier liegt vielleicht der Grund, weshalb sie beim Thema Rassismus wohlfeile Erwartungen, die stets zur Hand sind, vorzugsweise ignoriert und dabei immer wieder durch eigenwillige perspektivische Verschiebungen verblüfft. Die Realität ist selten nur schwarz-weiß, sondern um einiges verworrener, uneindeutiger, eben mit Grauzonen durchsetzt. „Die Hochzeit“, auf die sich die junge Shelby und ihre Familie vorbereiten, liefert dafür Anschauungsmaterial in Fülle. Auf Martha’s Vineyard, dem Sommersitz der Reichen und Wohlhabenden, haben auch die erfolgreichen Schwarzen ihre Siedlung, die das Oval heißt und deren Bewohner Ovaliten genannt werden. Ja, sie gehören mit zu dieser Splendid Isolation, auch wenn man feinsäuberlich getrennt unter sich bleibt.

Obwohl das Geld im Oval eine ebenso große Rolle spielte wie überall in der Oberschicht, war es doch nicht der ausschlaggebende Faktor bei der Unterscheidung zwischen Groß und Klein: Die Unterschiede waren so fein, die Abstufungen so dezent, dass nur der Ovalit selbst wusste, auf welche Stufe er gehörte, und ein Außenseiter mitunter den ganzen Sommer damit vergeudete, dem Falschen die Stiefel zu lecken.

Shelby, die jüngste Tochter der Coles, hat sich für Meade, einen weißen Jazzmusiker aus gutem Hause entschieden – und nun steht die Hochzeit an, zu der die Eltern des Bräutigams erwartungsgemäß nicht kommen werden. Shelby selbst ist hellhäutig, blond und hat blaue Augen. Als sie sich einmal als Kind auf der Insel verirrt und ihre Familie sie durch die Polizei suchen lässt, halten alle nach einem schwarzen Mädchen Ausschau und niemand entdeckt es in dem hübschen kleinen Kind. Es ist in seiner Tragikomik und seinem bitteren Humor eines der berührendsten Kapitel. Shelby erlebt diese ganze Verwirrung um sie herum und versteht nicht, was eigentlich gespielt wird. Als sie endlich wieder Zuhause ist, fragt sie ihre weiße Urgroßmutter Gram, ob sie eine Farbige sei. Ja, das sei sie. „Shelbys Brust hob und senkte sich erleichtert, nicht weil sie ‚farbig‘, sondern einfach weil sie etwas Eindeutiges war und jetzt endlich wusste, was.“

Die Frage der Hautfarbe eskaliert am Tag vor der Hochzeit. Heirate sie Meade, nur weil er ein Weißer ist und sie sich vor schwarzen Männern fürchte, herrscht sie ihr Vater an. Auch mit ihrer Schwester Liz gerät sie darüber in Streit, die uns diese elementare Menschlichkeit wissen lässt:

Aber wenn ich mich zwicke, dann fühlt sich das nicht schwarz an. Ich spüre bloß, dass es weh tut – und vielleicht ist es das, was schwarz zu sein für die meisten von uns bedeutet. Man spürt, dass es weh tut.

Nein, die Hautfarbe ist so oder so kein „Tugendbarometer“. An Shelbys großem Tag geschieht dann Fürchterliches, aber auch ganz Unscheinbares und dabei menschlich zutiefst Berührendes – das alles zusammen gibt der jungen Frau die Gewissheit, „dass es für sie und Meade noch nicht zu spät war. Die Hautfarbe war eine Scheindistinktion, die Liebe dagegen nicht.“ Zu rühmen bleibt eine, wie mir scheint, stimmige Übersetzung durch Christa E. Seibicke, die Wests erzählerische Tonlagen souverän mitvollzieht und so einem bedeutsamen und unbedingt lesenswerten Roman sprachlich das passende Gewicht verleiht, das ihm eigen ist.

Titelbild

Dorothy West: Die Hochzeit. Roman.
Aus dem Englischen von Christa E. Seibicke.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021.
280 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783455010657

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