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Barbara Beßlich untersucht Wandel und Konstanz im Alterungsprozess des Jungen Wien

Von Hans-Harald MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Harald Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Forschungslücken gibt es nicht, sie werden gemacht. Das Junge Wien zum Beispiel gehört zu den am stärksten überforschten Fanggebieten der österreichischen und deutschen Germanistik. So gut wie niemand aber, konstatiert die Verfasserin, habe sich je systematisch mit dem Altern des Jungen Wien beschäftigt, also mit dem älteren und Alterswerk jener Autorengruppe, zu der im Kern Hofmannsthal, Schnitzler, Beer-Hofmann und Salten zählen, des Weiteren aber auch Peter Altenberg, Leopold von Andrian, Raoul Auernheimer, Felix Dörmann und Richard Schaukal. Das „Alter“ liefert der Verfasserin ein weiträumiges Konzept, unter dem exemplarisch einzelne Werke, Themenkomplexe und Textgruppen aus dem Spätwerk der Autoren (1905-1938) analysiert werden können.

Anschauliche Überblicke über die Werkentwicklung „jenseits der Décadence“ gelten dem Oeuvre Peter Altenbergs und Leopold von Andrians. Altenberg bleibt bei seiner Wende vom sensiblen Betrachter (Wie ich es sehe, 1896) zum Propagandisten des Neuen Menschen im Zeichen von Lebensreform und Diätetik dem lakonischen Stil seiner Frühzeit verpflichtet, den auch die Expressionisten schätzten. Leopold von Andrian verabschiedet sich nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreichs vom ästhetischen Aristokratismus seiner Frühzeit und entwickelt in den 1930er Jahren ein adelsfundiertes ständestaatliche Ordnungsmodell, das sich dem „Anschluss“ ans ‚Dritte Reich‘ verweigert, dabei aber weniger realpolitischen Erwägungen als einer katholisch inspirierten österreichischen Geistpolitik verpflichtet ist.

Eher thematisch gebündelt sind die Großkapitel über „Kriegsbeginn und Habsburgs Ende“ und „Wiederkehr der alten Götter“. Das erstere enthält Untersuchungen zu Kriegspublizistik und literarischen Gestaltungen, aus deren Masse die „metrisch disziplinierte Kriegspropaganda“ Richard Schaukals herausragt, sowie zu den imperialistischen europapolitischen Vorstellungen Hermann Bahrs, die mit den oft untersuchten Europa-Ideen Hofmannsthals kontrastiert werden. Das zweite schildert das Wiedererstarken religiöser Selbstbesinnung nach dem Wert-Vakuum des Fin de Siècle und rekonstruiert sorgfältig Hermann Bahrs weltanschauliche Entwicklung von der Wissenschaftsgläubigkeit über Skepsis und Mystik zum disziplinierten Katholizismus. In unverschuldeter Nachbarschaft zu Bahrs Rückkehr zu den alten Göttern steht die Untersuchung zu Beer-Hofmanns Vorspiel Jaákobs Traum (1918), an dem neben der inspirierenden Kraft eines geistpolitischen religiösen Zionismus vor allem die poetische Qualität hervorzuheben ist, die, wie die Verfasserin zeigt, aus der engen Verbindung mit dem Frühwerk resultiert. Das alternde Wien hat innovative Potenzen.

Um ihretwillen soll das eher langweilige Kapitel über Lessing-Bilder im Wien des frühen 20. Jahrhunderts ebenso überschlagen werden wie das spannende Kapitel über Librettismus und Medienwandel um die Jahrhundertwende, das einmal nicht Hofmannsthal, sondern die Zusammenarbeit Felix Dörmanns, Felix Saltens und Arthur Schnitzlers mit dem jüngst erst ‚wiederentdeckten‘ Operettenkomponisten Oscar Straus gilt.

Im Hinblick auf die innovativen Potenzen des alternden Jungen Wien sind die letzten Abschnitte des Buchs die wichtigsten. Das sechste Kapitel untersucht anhand des Entwurfsmaterial das „kreative Zerbersten“ des Lustspielprojekts „Timon der Redner“, mit dem Hofmannsthal sich von 1916 bis 1926 in immer neuen Anläufen auseinandersetzte. Die poetischen Ansprüche aus Tradition und Gegenwart sowie die heterogenen politischen Ideen, die einen Bezug der antiken athenischen Staatsform zur Gegenwart herstellen sollten, verhinderten die Entwicklung einer Konzeption und eines plot, der die Komödie hätte tragen können.

Im siebten Kapitel dokumentiert die Verfasserin die immer wieder unterbrochene, fast vierzig Jahre währende Arbeit Schnitzlers an dem Stoffkern, aus dem 1928 der Roman Therese hervorging. Die Ergebnisse der vor allem mit Hilfe des unpublizierten Nachlasses rekonstruierten Werkgenese, die von der Erzählung Der Sohn (1892) bis zum vollendeten Roman reicht, können hier genau nachvollzogen werden. Sie betreffen die Evolution der Erzählverfahren weit mehr als die des Sujets, das freilich gegenüber dem naturalistischen Prätext in einen völlig neuen, der Protagonistin allerdings unzugänglichen Sinnzusammenhang eingebettet wird.

Gegenüber diesem vielleicht zentralen, weil evolutionsfähigstem Kapitel bildet das Finale „Nachschriften“ eher eine kurzweilige Coda. Es schildert, garniert mit Wiener Klatsch, wie Raoul Auernheimer, der es nicht nötig hatte, sich immer wieder an Arthur Schnitzler rieb. Ging es dabei eher um persönliche Beziehungsprobleme, die auf literarischem Felde erfolglos ausgetragen wurden, so zeigt die Verfasserin am Beispiel der narratologischen Analyse einer Erzählung von Leo Perutz, dass dieser – was er immer wieder betonte – Schnitzler nicht allein verehrte, sondern ihm auch die virtuose Handhabung des unzuverlässigen Erzählens verdankte. Was noch nicht viel besagt, denn unzuverlässiges Erzählen ist eine Technik: Es kommt darauf an, was man aus ihr macht.

Das Junge Wien im Alter ist ein durch zahlreiche Vorarbeiten gestütztes material- und forschungsgesättigtes Buch, um das nicht herumkommen wird, wer sich mit den Alterserscheinungen der Wiener Moderne beschäftigen will. Es fehlt ihm ein Resümee, das gute Gründe dafür sammelt oder sucht, weshalb zahllose Elemente des Jungen Wien seit Langem obsolet sind und andere ihr innovatives Potential noch nicht ausgeschöpft haben.

Titelbild

Barbara Beßlich: Das Junge Wien im Alter. Spätwerke (neben) der Moderne (1905-1938).
Böhlau Verlag, Wien u.a. 2021.
408 Seiten , 44,99 EUR.
ISBN-13: 9783205212393

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