Wenn ich zurück bin, ist alles wie immer – oder nicht?

Die Debütromane dreier irischer Autorinnen helfen bei der Suche nach verlorenen Zeiten

Von Laura HarffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Harff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mitte vergangenen Jahres habe ich den Teil meiner Erinnerungen, der mit Dublin verbunden ist, in eine kleine Truhe gepackt, den Schlüssel in meinem Herzen eingeschlossen und der Gegenwart erlaubt, mich für eine Weile zu verstecken. Gedanken an diese andere Stadt, in der ich einen Teil meiner Vergangenheit verbracht habe und die in Corona-Zeiten mit Reisebeschränkungen plötzlich unerreichbar wurde, haben mich traurig gemacht. Und mir vor Augen geführt, wie zerbrechlich der Kompromiss gewesen ist, den ich mir vor fast drei Jahren überlegt hatte: Wohnen in der einen Stadt, die andere regelmäßig besuchen. Aber wie soll es sonst funktionieren, so ein Leben zwischen zwei Städten? In einer Welt unendlicher Möglichkeiten haben wir noch nicht gelernt, an zwei Orten gleichzeitig zu sein.

Ich habe die Truhe erst vor Kurzem wieder geöffnet, nachts um 12 Uhr in einem zweistündigen Telefongespräch mit einem meiner besten Freunde – mit dem ich knapp ein Jahr lang nicht gesprochen hatte. Und was habe ich vorgefunden? Neben dem winzigen Tropfen Schmerz, den ich über Monate hinweg so sehr gefürchtet hatte? Richtig, die Freude darüber, mit jemandem zu sprechen, der einige meiner wichtigsten Erinnerungen mit mir teilt. Die Lust, jede einzelne dieser Erinnerungen aus der Truhe herauszuholen, sie zu betrachten und zu bewundern. Und die Hoffnung, den Sommerurlaub auf irgendeine Art und Weise doch noch in der Stadt meiner Träume zu verbringen.

Nachdem ich im vergangenen Jahr auf alles verzichtet habe, das eine Form des Fernwehs auslösen könnte, ist nun das Gegenteil der Fall. Irische Musik, Serien, Filme… Für das richtige Irland-Gefühl sauge ich alles in mich auf, was mich nur entfernt an meine Zeit dort erinnert. Eine Reise in die Vergangenheit ist schließlich auch eine Reise. Selbst den strömenden Regen vor meinem Fenster begrüße ich mittlerweile als alten Freund. Und mehr als alles andere: Bücher! Gegen die Sehnsucht und für ein bisschen Schreibinspiration habe ich mir die Erstlingswerke dreier irischer Schriftstellerinnen auf die Sommer-Lese-Liste gesetzt: Sally Rooneys Conversations With Friends (2017), Louise Nealons Snowflakes (2021) und Megan Nolans Acts of Desperation (2021).

In den Geschichten der drei jungen Protagonistinnen, die sich nach einer Kindheit auf dem Land zum Studium im großen, unheimlichen und unbekannten Dublin zurechtfinden müssen, hoffte ich, einen Teil der Magie wiederzufinden, die ich selbst bei meinem ersten Besuch in der irischen Hauptstadt vorgefunden hatte.

Magie habe ich in den Romanen durchaus gefunden, wenn auch nicht in der Form, die ich erwartet hatte. Rooney, Nealon und Nolan sprechen von (toxischen) Beziehungen, an denen man festhält, von Eifersucht, emotionalem Druck. Sie sprechen von Menschen, die an der Realität zerbrechen, von jenen, die sich Häuser, Wohnungen in der Stadt, teure Abendessen und Reisen leisten können und von denjenigen, die sich Sorgen um die nächste Miete machen müssen. Ihre Protagonistinnen trinken zu viel, bringen jede Woche einen anderen Mann mit nach Hause, um die Leere in ihrem Inneren zu stopfen, fügen sich selbst Verletzungen zu und leiden unter Depressionen.

Doch trotz all dieser Traurigkeit und dem Selbsthass, trotz der Unsicherheit und Dunkelheit – Erfahrungen, die man als Leserin überhaupt nicht teilen möchte – entdeckt man sich in gewisser Weise wieder. Denn letztlich geht es ihnen wie jeder jungen Frau, die sich in der modernen Welt zurechtfinden muss. Eine Welt, die viel zu lange unter der Herrschaft alter weißer Männer gestanden hat und sich selbst erst neu erfinden muss. Die getrieben wird von der elendigen Gier nach mehr. Mehr Macht, mehr Geld, mehr Einfluss, mehr Gegenstände, mit denen wir versuchen, Sinn in eine Welt zu bringen, die sinnlos geworden ist in der verzweifelten Suche nach einem Sinn.

Diese Absurdität angesichts der Art und Weise, wie wir Menschen leben – was wir für wichtig halten, was uns Freude bereitet, was uns unglücklich macht – hielt sich während der Lektüre standhaft in meinem Kopf. Zumindest immer dann, wenn mein Herz nicht gerade höher zu schlagen begann, bei der Erwähnung einer Straße, eines Hotels, eines Museums, das ich kannte. Formulierungen wie „a club on Harcourt Street“ oder „a café on Wicklow Street” brachten mich jedes Mal dazu, Ecosia und Google Maps zu durchforsten, um mit den wenigen gegebenen Informationen herauszufinden, welcher Ort gemeint und ob ich selbst schon einmal dort gewesen war. Was soll ich sagen, ich bin eben auch nur ein Mensch… Ein Mensch, der sich Gedanken darüber macht, dass seine Art des Ausgehens, nämlich Vortrinken bei Freunden, Feiern im Workman’s Club und anschließend ein Stück Pizza in DiFontaine’s offenbar mainstream genug ist, um exakt auf die gleiche Art und Weise von einer Gruppe Romanfiguren praktiziert zu werden.

Was mir die drei Romane aber mehr als alles andere vor Augen geführt haben, ist, dass sich Dinge verändern und man die Vergangenheit nicht festhalten kann. Es ist in Ordnung, manche Erinnerungen, manche Träume in ein Kästchen zu packen, um sie in den Momenten, in denen man sie hervorholt, wirklich wertschätzen und bewundern zu können. Es ist okay, sich mit Sehnsucht an die Vergangenheit zu erinnern, solange man nicht vergisst, in der Gegenwart zu leben. Und es ist okay, auf immer und ewig zwischen zwei Städten hin- und hergerissen zu sein.

Titelbild

Sally Rooney: Gespräche mit Freunden. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Zoë Beck.
Luchterhand Literaturverlag, München 2019.
382 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875415

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Louise Nealon: Snowflake.
Englisch.
Manilla Press, London 2021.
304 Seiten, 14,05 EUR.
ISBN-13: 9781786580702

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Megan Nolan: Acts of Desperation.
Englisch.
Little, Brown and Company, New York 2021.
288 Seiten, 23,99 EUR.
ISBN-13: 9780316429856

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Sally Rooney: Conversations with Friends.
Englisch.
Faber and Faber, London 2017.
320 Seiten, 23,43 EUR.
ISBN-13: 9780451499059

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch