In einem anderen Land

Im Urlaub sein ist nicht gleich im Urlaub sein. Über Freizeit, und wie man darin ankommt

Von Jonas HeßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Heß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahren brauche ich stets mehrere Tage, um auch gedanklich wirklich im Urlaub anzukommen. Früher war das nicht so. Ich fuhr los und war da – physisch und geistig. Vielleicht ist das eine normale Veränderung. Man wird älter, hat mehr Sorgen, denkt intensiver und länger über anstehende und vergangene Aufgaben nach. Vielleicht ist es auch ein individuelles Problem. Wie dem auch sei, was ich weiß, ist, dass mich diese verzögerte Ankunft jedes Mal aufs Neue nervt, weil sie mir kostbare Urlaubszeit raubt.

Über die Jahre habe ich verschiedene Strategien erprobt, um das Problem zu lösen oder zu umgehen. Die allermeisten waren erfolglos. Ganz gezielt nicht an etwas zu denken, was nichts mit Freizeit zu tun hat, funktioniert schlecht – Stichwort: Rosa Elefant. Sich andersherum ganz gezielt ins Gegenwärtige zu versenken, hilft ebenfalls nur mittelmäßig. Denn je nachdem, wie man unterwegs ist, ist es schlicht gar nicht oder nur sehr schwer möglich: Auf Autobahnen oder in Flugzeugen verändert sich nicht nur die Umgebung ständig, bei ersterem ist man ja meist auch gefordert, das Fahrzeug zu steuern. Das Ganze erst nach Ankunft anzugehen, sorgt wiederum für Irritationen, während man sich nämlich bald nach Eintreffen am Urlaubsort absondert, um zur Zwangskontemplation wie ein Irrer schweigend in die Felder zu glotzen.

Kurzum: Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte. Doch dieser goldene Weg ist nicht leicht zu finden. Sicher ist zumindest: Der Urlaubsmodus lässt sich nicht erzwingen. Der richtige Weg für mich, so fand ich nach einiger Zeit heraus, ist der etwas längere über Bande. Und diese Bande ist – wahlweise – die richtige Musik oder die richtige Lektüre.

Nun hört sich „richtig“ sehr definitiv und unveränderlich an. Was ich damit aber meine, ist eine für mich individuell in dieser Hinsicht zielführende Wahl von Musik bzw. Literatur, die für andere natürlich eine andere sein kann. Während nun die „richtige“ Musik für mich häufiger im Genre wechselt und sehr von der gerade vorherrschenden Stimmung abhängt, lässt sich die „richtige“ Literatur auf einen bestimmten Schreibstil, mehr noch: sogar auf einen bestimmten Autor festlegen. Und dieser Autor ist Ernest Hemingway.

Zuerst aufgefallen war mir diese Wirkung vor einiger Zeit in den Niederlanden. Ich lag auf dem Bett und wusste nicht so recht etwas mit mir anzufangen. Am Meer war ich bereits gewesen, in die Ferne geschaut hatte ich auch. Das war alles schon ganz gut, nur so wirklich dort war ich eben trotzdem noch nicht. Mehr aus Langeweile als aus einer gezielten Intention heraus nahm ich mir The Sun Also Rises (dt. Fiesta) zur Hand, was ich vor Abfahrt irgendwo gekauft hatte, und begann zu lesen. Es ist Hemingways erster größerer Roman. Er schrieb ihn mit Mitte zwanzig. Ich muss damals in einem ähnlichen Alter gewesen sein.

Es war nicht der erste Text von Hemingway, den ich las. Ein paar Jahre zuvor hatte ich bereits The Old Man and the Sea und For Whom the Bell Tolls gelesen, aber dabei war ich nicht im Urlaub gewesen, sondern zu Hause auf der Couch. Die Wirkung auf mich, so erinnere ich mich zumindest jetzt, war jedoch schon damals ähnlich beruhigend und entschleunigend, wie ich es auch heute noch empfinde. Nur gab es seinerzeit eben keinen Urlaub, in dem anzukommen die Lektüre mir hätte behilflich sein können, sodass mir diese praktische Funktion zunächst nicht auffiel. Bei diesem Effekt handelt es sich übrigens – und das war mir auch bei der Erstlektüre bereits klar – nicht um eine irgendwie generelle Begleiterscheinung des Lesens überhaupt; Beruhigung durch Konzentration auf Lektüre oder ähnliches. Ganz und gar nicht. Für mich hat es etwas mit der Art und Weise zu tun, wie mir da Geschichten erzählt werden, und vielleicht auch mit den Geschichten selbst.

Jedenfalls las ich, damals in Holland, Hemingways ersten Roman. Die Handlung hat nichts mit den Niederlanden zu tun. Es geht um das Leben in Paris in den 1920ern und den Stierkampf in Nordspanien. Dennoch half mir die Lektüre, gedanklich in der Gegenwart der 2010er Jahre im Norden Frieslands anzukommen. Eine eigenartige innere Ruhe stellte sich mit dem Lesen bei mir ein, ein Ankommen im Jetzt, gewissermaßen. Ich schaute aus dem Fenster und sah die Wolken, die hier immer etwas unscharf an den Rändern waren. Sie zogen auffällig flach übers Land, stumm getrieben von einem Wind, der von See her kam. Es war Herbst und ich roch, dass es bald regnen würde.

Ganz ähnlich ging es mir in einem anderen Urlaub wenige Jahre später. In einer mehrwöchigen Überführungsfahrt segelte ich gemeinsam mit meinem Vater und wechselnder Crew über das westliche Mittelmeer. Nach der Erfahrung im niederländischen Norden hatte ich in weiser Vorrausicht wieder einen Hemingway dabei, diesmal die Kurzgeschichtensammlung Men Without Women. Ich glaube, das war das bisher eindrücklichste Erlebnis, wobei ich nicht mehr sagen kann, ob es wirklich am Buch lag oder nicht viel eher am Segeln, das ja immer sehr entschleunigt. Ich weiß aber noch, dass ich auch hier eine Weile brauchte, um wirklich anzukommen. Weil ich ahnte, dass es ein erlebnisreicher Urlaub werden würde, hatte ich außerdem ein kleines Buch mit mir, in dem ich den Verlauf und die Eindrücke der Reise tagebuchartig festhalten wollte. An einem der ersten, noch recht ruhigen Tage im Oktober schrieb ich:

Mittlerweile ist etwas Wind aufgekommen. Der Himmel ist aufgerissen und wir haben auf kurze Bekleidung gewechselt. Setzen uns in der Hoffnung auf mehr Wind noch weiter südlich vom Land ab. Wir haben den Gennaker gesetzt und laufen bei 6 Knoten Wind 5 Knoten auf 262°. Michael und mein Vater kochen schon wieder. Ich ziehe mich mit einem Kaffee und Hemingway auf das Deck zurück. Bei bestem sommerlichem Wetter ist Ruhe in der Crew eingekehrt. Langsam komme ich an.

Ich weiß, dass mir die Lektüre bei ebenjenem Ankommen half. Wir waren zu dieser Zeit südlich von Sardinien und grob in Richtung der Balearen unterwegs. Es war sonnig und ruhig und die See fast flach. In einer der folgenden Nächte zogen in der Ferne einige Gewitter über das Meer, der Wind blies beständig, die Wellen wurden höher und der Himmel über uns war sternenlos. Es war, als führe man durch einen rauschenden, konturlosen pechschwarzen Raum und nur, wenn irgendwo ein Blitz zuckte, sah man für einen kurzen Moment das ganze Meer eisern bis zum Horizont, bevor es wieder in der Dunkelheit versank. In dieser Nacht riss der Gennaker.

Ich weiß noch immer nicht, was genau an Hemingways Stil mir hilft, mich in der Situation zu verorten, anzukommen. Es ist nicht sein parataktischer Stil – oder zumindest nicht nur. Vielleicht ist es das stoische Hinnehmen des Seins, was man bei seinen Figuren häufiger findet. Vielleicht ist es auch nur die schlichte Schilderung dieses Seins durch die Erzählerstimme. Sicher bin ich mir immer noch nicht. Aber ehrlich gesagt bin ich mir auch nicht sicher, ob ich es genau wissen möchte. Manchmal verlieren die Dinge ja den Zauber, wenn man ihre Funktionsweise durchschaut. Wie die Tricks der Magier.

In einem der letzten Urlaube war ich in Venedig. Es war das erste Mal, dass ich die Lagunenstadt mit eigenen Augen sah. Wieder hatte ich Hemingway dabei, passenderweise Across the River and into the Trees, das in jener Stadt spielt. Und wieder – auch wenn die Handlung (die um einen alternden Colonel, seine Kriegserinnerungen und die Liebschaft zu einer viel jüngeren Frau kreist) wenig mit meiner damaligen Lebensrealität zu tun hatte – trat derselbe Effekt ein. Nach dem Lesen war ich schlagartig realer, und mit mir die Stadt und der ganze Urlaub. Es ist jedes Mal, als rücke die Welt plötzlich näher heran. Und dafür reichen oft schon wenige Seiten.

Einen Abschnitt des Romans las ich an einem kleinen Tisch einer Kneipe in einer schmalen Seitengasse, abseits des in den größeren Straßen herrschenden Trubels. Die Sonne stand so, dass sie genau in die Gasse und auf meinen quietsch-orangen Aperol Spritz schien. Und als ich vom Buch auf und nach oben in den schmalen Streifen blauen Himmels sah, bemerkte ich, dass die Bewohner der oberen Stockwerke ihre Wäsche zwischen den Häusern zum Trocknen aufgehängt hatten. Ein leiser Wind strich durch die Kleidung und wiegte sie leicht in den Sonnenstrahlen zwischen den alten Steinmauern hin und her, wie wohl an jedem anderen Sommertag seit Jahrzehnten und Jahrhunderten.

Der Literaturtheoretiker Viktor Šklovskij sah den Sinn von Literatur und Kunst darin, das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, den ‚Stein wieder steinern zu machen‘. Und genau das ist es, was die Hemingway-Lektüre für mich schafft. Den Urlaub wieder zum Urlaub zu machen, sozusagen, Italien italienisch und den Wein weinern. Für Šklovskij – einen Zeitgenossen Hemingways übrigens – ist das Verfahren hierbei das der Verfremdung: Indem uns Dinge auf ‚fremdartige‘ Weise gezeigt werden, ‚entautomatisiert‘ sich unsere sonst in immergleichen Mustern ablaufende Wahrnehmung. Genau das jedoch trifft auf meine Hemingway-Lektüre – und man könnte vielleicht sogar sagen: auf Hemingways Stil insgesamt – gerade nicht zu.

Die besonders eindrücklichen Stellen sind für mich nicht verfremdete, mit rhetorischen Mitteln aufgeladene Stellen (die man bei ihm ohnehin kaum findet), sondern, ganz im Gegenteil, schlichte und sprachlich fast schon plumpe Sätze. Es sind einfache Beschreibungen von Dingen, die eben passieren. In Across the River and into the Trees etwa liest man Sätze wie diese: „… as he kissed her he thought of nothing. They kissed for a long time, standing straight, and kissing true, in the cold of the open windows that were onto the Grand Canal.” Und auf eine beinahe dämliche Art denke ich dann: Ja, dem ist nichts hinzuzufügen.

Selbst jetzt ist es wieder, als könnte ich die frische Oktoberluft am Kanal auf der Haut spüren, dabei sitze ich nur am Schreibtisch im Arbeitszimmer, das dringend gelüftet werden müsste. Irgendwie schafft dieser Autor es, mich näher an die Wirklichkeit zu bringen – oder an das, was ich dafür halte. Und schlussendlich fühlt sich das immer warm und freundschaftlich an. Wie eine Versöhnung mit der Welt.

Als nächstes werde ich wohl A Farewell to Arms (dt. In einem anderen Land) lesen. Das bietet sich an, da ich vor einiger Zeit im Friaul war und beim Wandern diverse Stellungen aus dem Ersten Weltkrieg beschauen konnte, deren Eindruck noch recht frisch ist. A Moveable Feast (dt. Paris – Ein Fest fürs Leben), von dem mir alle vorschwärmen, werde ich mir wohl noch aufsparen. Zu groß die Gefahr, dass es The Sun Also Rises überdeckt. Und außerdem: Ich muss ja haushalten, für die nächsten Urlaube.

Titelbild

Ernest Hemingway: Men Without Women.
Arrow Books, London 2004.
133 Seiten, 7,98 EUR.
ISBN-10: 0099909308
ISBN-13: 9780099909309

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Titelbild

Ernest Hemingway: The Old Man and the Sea.
Simon & Schuster US, New York 2020.
160 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9781476787848

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Titelbild

Ernest Hemingway: For Whom the Bell Tolls.
Simon & Schuster US, New York 2020.
576 Seiten, 15,98 EUR.
ISBN-13: 9781476787817

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Titelbild

Ernest Hemingway: The Sun Also Rises.
Simon & Schuster US, New York 2016.
320 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9781501121968

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Titelbild

Ernest Hemingway: Across the River and into the Trees.
Arrow Books, London 2004.
240 Seiten, 3,91 EUR.
ISBN-10: 009990960X
ISBN-13: 9780099909606

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Titelbild

Ernest Hemingway: A Farewell to Arms.
Arrow Books, London 2004.
304 Seiten, 7,98 EUR.
ISBN-10: 0099910101
ISBN-13: 9780099910107

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Titelbild

Ernest Hemingway: A Moveable Feast.
Arrow Books, London 2004.
144 Seiten, 7,98 EUR.
ISBN-10: 0099909405
ISBN-13: 9780099909408

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