Die Ehefrau ist ein Nichts

Lou Andreas-Salomé literarisiert in ihrem Roman „Das Haus“ das Eheleben zweier Generationen einer Familie um 1900

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pünktlich einhundert Jahre nachdem Lou Andreas-Salomés Roman Das Haus erstmals erschien, wurde er nun als neunzehnter Band in die Ausgabe ihrer Werke und Briefe der MedienEdition Welsch aufgenommen.

Zwar tritt das titelstiftende Gebäude zu Beginn des Romans als Subjekt auf, das sich in einen Berg „eingebaut“ hat und „mit sehr vielen hellen Fensteraugen“ die im Tal gelegene Stadt „überblickt“. Doch steht nicht das Haus im Mittelpunkt, sondern die es bewohnende Familie, insbesondere die zu Anfang fast noch jugendliche Protagonistin Gitta, deren spätere Ehe derjenigen ihrer Eltern gegenübergestellt wird. 

Ihr Vater Frank Branhardt, von Beruf Gynäkologe, ist ein Patriarch, der sich seiner Gattin Anneliese wie überhaupt allen Frauen grundsätzlich überlegen fühlt. Seine Herablassung gegenüber dem weiblichen Geschlecht bricht sich nicht zuletzt in einem Wutausbruch gegenüber seiner Tochter Bahn: „Zum Himmeldonnerwetter! Achtung vor Männerwert und Männersachen! Mit deinen Frauenzimmerfingern fort davon!“ Es sei dies die „Empörung des Mannes für den Mann“ kommentiert die Erzählstimme apologetisch. Adressiert sie alle anderen Familienangehörigen stets mit dem Vornamen, so spricht sie von ihm nur als Branhardt. Damit entspricht sie sowohl den Erzählkonventionen der Zeit, spiegelt die innerfamiliären Machtverhältnisse wider und schafft der Figur gegenüber eine gewisse Distanz. 

Überlegungen Annelieses wischt ihr Mann mit dem verächtlich hingeworfenen Verdikt „Frauenlogik“ vom Tisch. Beeindruckt ihn einmal ein bestimmter Charakterzug einer Frau, was selten genug vorkommt, so bedauert er, dass an ihr „ein Mann verloren gegangen“ sei. Später, nach dem seine inzwischen verheiratete Tochter ihrem Mann Markus „fortgelaufen“ ist, fühlt er sich ihrem Ehegatten gegenüber schuldig, „keine bessere Musterfrau“ für ihn „herangezogen“ zu haben. Ein wenig konterkariert wird sein Superioritätsdünkel gegenüber dem weiblichen Geschlecht durch den Umstand, dass er kleiner als seine Frau ist, wie einmal beiläufig erwähnt wird.

Gittas Mutter wiederum ist sowohl Opfer der patriarchalen Verhältnisse im Allgemeinen und ihres Gatten im Besonderen wie auch passive Mittäterin. Sie geht nicht nur „still ihren häuslichen Pflichten“ nach und beschäftigt sich mit „Näharbeiten“, wenn sich der Hausherr „an freien Abenden bis in die Nacht hinein in Theoretisches vertief[t]“, sondern „bewunder[t]“ die „sachliche Überlegenheit“ ihres Mannes und „vergöttert“ seinen Beruf. Denn sie ist der Ansicht, „daß in allen entscheidenden Vorkommnissen der Frauenschaft oder Mutterschaft die Autorität des Mannes von der des Arztes sich nicht mehr trennen ließ“. Dass sie ihren Herzenswunsch, „sich zur Musikvirtuosin ausbilden“ zu lassen, wegen der Ehe aufgegeben hat, gesteht sie sich nicht ein. Hätte sie nicht geheiratet, so sagt sie sich, wäre sie „eben um Vaters willen Krankenschwester geworden am Spital, wo er damals Hilfsarzt war“. Vielleicht aber spiegelt sich darin auch die Erkenntnis wider, dass Frauen ihrer Generation so oder so keine Chance hatten, sich zu verwirklichen.

In ihrer Ehe lebt sie jedenfalls „im Grund dem Bild nach[.], das ihr Mann sich von ihr gemacht“ hat. „Oh – deinen Willen tun!“ spricht sie einmal „leidenschaftlich“ vor sich hin, „Frank, ich bin ja nur noch du! Nichts bin ich außer dir.“ Später fühlt sie sich und ihr ganzes Dasein nicht mehr allein in ihrem Mann „aufgegangen“, sondern „in den beiden Menschen, die sie liebt[.]“. Gemeint sind ihr Gatte und ihr Sohn Balduin. An ihre Tochter denkt sie dabei nicht. Nur um ihres Sohnes willen wendet sie sich einmal gegen die familiäre Allmacht ihres Mannes. So gefangen zwischen den beiden Männer, fragt sie sich nun, „worin“ sie selbst „denn eigentlich noch [stecke]“. Am Ende des Romans ist es denn auch nicht sie, die sich „ein wenig Freiheit im Handeln“ erringt, es ist viel mehr ihr Mann, der sie ihr gestattet. „[D]urch ihn“ wird ihr „zur Wirklichkeit“, was sie insgeheim doch stets ersehnt hatte: „persönliche[r] Spielraum,  – Gewährenlassen, – Selbstbestimmung“. Doch ist sie sich nicht mehr sicher, ob sie dies nun überhaupt noch möchte.

Gittas Bruder ist ein öfter an Händen und Füßen erkrankter Student mit ausgesprochener Ader für die Schriftstellerei, der sein „Gruseln[.]“ zu einem „kleine[n] Poem“ sublimiert und sich als „erster und natürlicher Beschützer“ seiner Schwester phantasiert. Auch bei Gitta selbst macht sich ein Talent zum Schreiben bemerkbar, dem aber nicht weiter nachgegangen wird. Dafür erweist sie sich in anderen Dingen als „unnatürlich geschickt“ – für ein Mädchen, wie sich die Lesenden wohl hinzudenken sollen. Auch ist sie überzeugt, dass „[m]an […] sich den weiblichen Existenzbedingungen eben anpassen [muss]!“ So „entfaltet[.]“ die Tochter des Hauses, die einst nicht nur selbst „wahrhaftige Nichtsnutzigkeiten“ beging, sondern auch andere „leichtsinnig“ machte, nach der Hochzeit zunächst „unerwartet häuslich-organisatorische Talente“. Am Ende bricht sie jedoch vorübergehend aus dem ‚Lebensbund’ aus und plädiert überhaupt für die „Aufhebung der Eheeinrichtung“. So richtig Ernst ist es ihr damit aber offensichtlich nicht, wie sich symbolisch darin zeigt, dass sie „den weiteren Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung noch auf den Lippen [plötzlich] ein[schlief]“.

Ist es in der Elterngeneration ihr patriarchaler Vater, der seiner Frau irgendwann einmal „ein wenig Freiheit im Handeln“ zugesteht, so ist es nicht etwa Gitta, die schließlich eine Rede, wenn auch nicht für die Frauenemanzipation, aber doch gegen die männliche „Überhebung“ hält, sondern ihr Gatte Markus, dem es zuvor noch „angenehm“ war, wenn sie sich ohne ihn „kläglich verläuft“, und der ihr überwältigt von seinem Zorn, einen  „[r]atzekahl[en] […] Sklavenkopf“ scherte, als sie sich einmal die Haare am Herd versengte. Die emanzipatorische ‚Botschaft’ des Romans fällt also bestenfalls ambivalent aus.

Verfasst hat Andreas-Salomé Das Haus nicht 1921, im Jahr seines Erscheinens, sondern bereits 1904. Warum siebzehn Jahre zwischen seiner Niederschrift und seiner Publikation verstrichen, erklärt die Herausgeberin Brigitte Spreitzer in einem auch ansonsten sehr kenntnisreichen Nachwort, für das die österreichische Literaturwissenschaftlerin zum Vorteil der Lesenden offenbar intensiv recherchierte und etwa auf bislang nicht veröffentlichte Tagebücher zurückgriff.

Zwar weist Spreitzer auf die zahlreichen Parallelen zwischen dem Geschehen und den Figuren des Romans einerseits und Andreas-Salomés Tagebucheintragungen andererseits hin, doch betont sie unter Bezugnahme auf das in Andreas-Salomés Tagebuch niedergelegte „poetologische[.] Konzept“ des Romans, dass es die „künstlerische Absicht“ der Schriftstellerin völlig verkennen würde, würde Das Haus als Schlüsselroman gelesen. Daher gelte es nicht, seinen „Inhalt so zu entschlüsseln, als sei die literarische Formung nur sein Mäntelchen, in dem die nackten Tatsachen des Lebens der Künstlerin stecken“. Vielmehr sei „[umgekehrt] der Inhalt das Mäntelchen, in dem die Formung […] steckt“.

Neben dem Nachwort hat Spreitzer Andreas-Salomés Roman mit einem teils ausgesprochen detaillierten Stellenkommentar versehen, dessen einzelne Anmerkungen auch schon einmal fünf Seiten umfassen können. In ihnen merkt sie etwa an, dass „der gesamte Roman die Ehe der Elterngeneration mit Gittas und Markus’ Ehe [kontrastiert]“. Vor allem aber legen die Stellenkommentare dar, welche Züge welcher Realpersonen in bestimmte Figuren eingeflossen sind und welche Theorien und persönlichen Erlebnisse Lou Andreas-Salomé in der „ironisch-spielerischen Verweisstruktur des Romans“ literarisiert. Meist argumentiert die Kommentatorin dabei sehr überzeugend.

Das aber allein der Gebrauch des Wortes „Ketzereien“ auf die 1899 in der Zeitschrift Die Zukunft ausgetragene Kontroverse zwischen Andreas-Salomé und der mit ihr befreundeten Feministin Frieda von Bülow verweise, da ein Diskussionsbeitrag ersterer den Titel Ketzereien gegen die moderne Frau trug, überzeugt nicht wirklich. Denn schließlich ist der Kontext im Roman ein ganz anderer. Bei aller Ausführlichkeit lässt Spreitzer zudem die eine oder andere durchaus erläuterungswürdige Stelle unkommentiert. So etwa auf den letzten Seiten des Romans zwei religiöse Topoi: das Bibel-Zitat aus dem 1. Korintherbrief „Tod, wo ist dein Stachel?“ und die Wendung von der „freie[n] sittliche[n] Tat“, als die ein bestimmtes katholisches Konzept den Gottesglaube verstanden wissen will. Insgesamt aber sind sowohl Nachwort wie auch Kommentar höchst instruktiv und ebenso begrüßenswert wie die Neuausgabe des Romans selbst.

Titelbild

Lou Andreas-Salomé: Das Haus. Familiengeschichte vom Ende vorigen Jahrhunderts.
Hg. von Brigitte Spreitzer.
MedienEdition Welsch, Taching 2021.
395 Seiten, 32,80 EUR.
ISBN-13: 9783937211442

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