Die vermeintliche Uniformität der Erwartungen

Historiker Valentin Groebner zieht in „Ferienmüde. Als das Reisen nicht mehr geholfen hat“ ein schonungsloses Resümee von Reiselust und -frust

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anderthalb Milliarden Menschen waren 2019 als Touristen auf unserem Erdball unterwegs. In jedem Augenblick davon allein knapp elf Millionen in einem Flugzeug von irgendwoher nach irgendwohin. Der Weltwirtschaftsfaktor Fremdenverkehr war ein einigermaßen verlässlich steil ansteigender Aktivposten in der Bilanz des großen Geldverdienens – bis zu jenem legendären Frühjahr 2020, als das „neuartige Coronavirus“ Regierungen in aller Welt zu bisher unbekannten Maßnahmen greifen ließ. Eine alte Kriegsplanung der NATO aus den 1980er Jahren, der sogenannte Stay Put, wurde über Nacht Wirklichkeit: im Fall der (Angriffs-)Krise (gedacht war einst an einen Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten) bleibt jeder wo er ist. Reisen verboten. Als Auslöser eine Seuche statt Panzer, doch ansonsten: Nous sommes en guerre.     

Das Szenario, welches der Luzerner Historiker Valentin Groebner noch Ende 2019 für einen Rundfunkbeitrag im SWR gezeichnet und gefragt hatte, was all die verzweifelten Hoteliers und Souvenirverkaufende, all die Parfümerien der Großflughäfen, Rent-A-Cars und Diskotheken in Ferienorten weltweit wohl anstellen würden, wenn sich nur eine Saison lang einmal eine Verweigerungshaltung der Ferienreisenden Bahn brechen würde – dieses Szenario also trat, wenn auch von der breiten Masse der potentiell Urlaubenden ungewollt, ein. Die Erwerbsmaschine Tourismus war urplötzlich zwangs-stillgelegt, und das zu weiten Teilen bereits konzipierte Buch Gröbners, Ferienmüde – Als das Reisen nicht mehr geholfen hat musste nur um ein aktualisiertes Vor- und Nachwort ergänzt werden, um ganz ungeahnt, jedoch punktgenau einen Nerv der Zeitgeschichte zu treffen.          

In seinem Großessay widmet sich Groebner verschiedenen Aspekten des (Vergnügungs-)Reisens: zunächst geht es an die tropischen Strände, dem, wie Groebner definiert, „Sehnsuchtsziel moderner Reisender schlechthin“ und weit zurück in die Geschichte der europäischen Entdecker des 15. und 16. Jahrhunderts. Das zweite Kapitel ist dem vorgefundenen wie auch selbstverursachten „Schmutz“ gewidmet, mit dem sich Reisende zwangsläufig konfrontiert sehen: den Dingen, die nicht so und nicht dort sind, wie und wo sie sein sollen, seien es fremde Haare im Abfluss der Dusche des Hotelzimmers oder die Feststellung, zur Anmietung eines Wagens keine Kreditkarte zur Hand zu haben. Das reproduktive Element des Bildermachens am Urlaubsort und unterwegs charakterisiert Groebner anschließend im dritten Kapitel „als Berührungsmagie und Einbalsamierung“ des Vorgefundenen. Im vierten Abschnitt steht die Frage im Vordergrund, wann Ferienziele eigentlich unberührt waren, ob es eine ‚gute alte Zeit‘ des Reisens überhaupt je gegeben hat. Kapitel fünf geht der Definition des Begriffes „Traumdestinationen“ nach und verfolgt deren interessante „Vorgeschichten aus ganz unterschiedlich pittoresken Vergangenheiten“, in welchen sich die Besuchenden in der Gegenwart immer wieder selbst in ähnlich ablaufende fiktionale Rollenbilder pferchen: „Heimkino im Menschenzoo“ nennt Groebner dieses Phänomen. Zu guter Letzt geht es um den inzwischen mehr als tausend Jahre alten Terminus „Urlaub“ als solchen, der ursprünglich „Erlaubnis, Entlassung aus der Pflicht“ bedeutete. Doch ist das Abwerfen von Verantwortlichkeiten nicht mit der Aufnahme neuer Verbindlichkeiten erkauft?          

Der süffige Cocktail aus Bonmots und Zitaten zahlreicher Stichwortgeber von Susan Sontag bis Salman Rushdie ist ein angenehm ironischer und alltagsweiser Führer durch die Welt des saisonal wiederkehrenden Selbstbetruges: „Die meisten Wünsche, die ich habe, haben in Wirklichkeit mich“, befindet Valentin Groebner. Er portraitiert Urlaubsreisende als Getriebene ihrer Erwartungen, die das Vorgefundene niemals einlösen kann, weil eine clevere Reiseindustrie es perfekt präfiguriert, um es einem Massengeschmack, der sich als Individualpräferenz geriert, überzustülpen. Aber stimmt das denn so wirklich? Haben die jährlich anderthalb Milliarden Menschen, die an die See und in die Berge strömen, wirklich so uniforme Vorstellungen von Erholung und Freizeit?

Viele finden im Gegenteil doch genau das, was sie für sich imaginiert haben: den Trubel, das Bad in der Menge, den lautstarken Spaß. Dass das Erlebte manche von ihnen mitunter dann im Rückblick doch nicht so beglückt, sondern es sich auch für sie irgendwie schal anfühlt – hat das nicht weniger mit der gewählten Destination zu tun als mit ihrer eigenen Phantasielosigkeit, der mangelnden Reflexion der eigenen Bedürfnisse?

Nicht selten schwingt beim Autor implizit ein wenig das Bedauern darüber mit, dass es so vielen aus unseren Breiten möglich ist, oder zumindest bisher war, die ganze Welt mit ihrer temporären Anwesenheit zu behelligen. Und in den letzten Jahrzehnten sind ja noch Millionen und Abermillionen Reisende aus Ländern dazugekommen, aus denen früher keine Urlauber zu erwarten waren, weil es sich das Gros der dortigen Bevölkerung gar nicht leisten konnte. Auch wenn die Maßnahmen zur Viruseindämmung zwei, drei Sommer lang zu einem spürbar langsameren Lauf der Tourismusmaschine führen werden, so ist doch abzusehen, dass sie in Kürze zumindest für eine Zeit des Übergangs (wohin ist noch nicht ganz klar) wieder Fahrt aufnehmen könnte.

Valentin Groebner ordnet sich selbst als Outdoor-Typ ein, dem es gleichwohl vor jenen graut, die sich auf die Gipfel der Himalaya-Achttausender hinauftragen lassen. Er ist sich klar darüber, dass auch er selbst immer wieder den Autofiktionen von Urlaub verfällt:

Die Outdoorläden sind der dreckige Dienstleister für das unberührte reine Echte: Sie verkaufen in Südostasien gefertigte Industrieware plus touristische Erschließung der reinen Wildnis. Konsum als demonstrativer Antikonsum.

Nicht ganz nachvollziehbar mag vielen der Turn erscheinen, den das Buch am Schluss noch einmal in Bezug auf die erste Lockdown-Erfahrung nimmt:

Vor allem werde ich das Gefühl nicht los, dass ich in zukünftigen Ferien das Gefühl vom Frühjahr 2020 – den plötzlichen Leerraum, die Stille, diese Mischung aus verzückter Überraschung und Ungewissheit – werde wiederzubekommen versuchen.

Bei anderen dürfte genau dieses Erlebnis die Beklemmung der Fremdbestimmung ausgelöst haben, die ein paternalistischer Staat behauptete aus einer Fürsorgepflicht heraus anwenden zu müssen. Groebners abschließende Erkenntnis, dass die Zukunft des Reisens in „Weglassen-Können und Beweglichkeit“ bestehe, „mit leichterem Gepäck“ und „über kürzere Distanzen“ stattfinden könnte, improvisierter und unkomfortabler, aber auch weniger infantilisiert und „weit weg von den Träumen anderer Leute“, setzt allerdings ein massenhaftes Umdenken voraus, das durch eine einzige disruptive Ereigniskette wie Corona und seiner verordneten Folgen nicht dauerhaft eintreten dürfte. Menschen mit Stil und wenig Geld reisen seit Jahrzehnten schon so (oft ohne die eigenen Staatsgrenzen zu überschreiten), die anderen kehren vermutlich baldmöglichst zum für sie Gewohnten zurück, solange es bezahlbar bleibt. Alles andere wäre wohl eher von oben verordnet. Und das will ja am Ende auch niemand, oder vielleicht gerade doch?

Titelbild

Valentin Groebner: Ferienmüde. Als das Reisen nicht mehr geholfen hat.
Konstanz University Press, Konstanz 2020.
151 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835391260

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