Fotografien als Kunst gelesen

Svetlana Alpers‘ Werkbiografie „Walker Evans. America. Leben und Kunst“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der amerikanische Fotograf Walker Evans (1903–1975) ist mit seinem Werk vor allem der 1930er Jahre ins kollektive Gedächtnis nicht nur der USA eingedrungen. Das ist ganz unabhängig davon, ob auf Evans‘ Porträts, seine Objektfotografien oder insbesondere seine Architekturfotos verwiesen wird, mit denen er eine ganz eigene, bis heute nachwirkende Ästhetik entwickelte. Kein Wunder also, dass Evans‘ Werk mehr und mehr veredelt worden ist und ihm Kunstcharakterzugeschrieben wird. Svetlana Alpers‘ Studie ist dabei vielleicht nur ein weiterer Schritt.  

Alpers baut ihre Studie über sieben, im Wesentlichen werkbiografisch orientierte Abschnitte, von den Anfängen, die von seinem einjährigen Aufenthalt in Frankreich motiviert sind, über seine Kuba-, USA- und U-Bahn-Fotografien (die jeweils als eigene Werkgruppen behandelt werden) sowie die zwanzig Jahre bei der US-amerikanischen Zeitschrift „Fortune“ bis zu seinem Rückzug in den 1970er Jahren. Das Frankreich-Kapitel widmet Alpers dem Versuch, Evans‘ fotografischen Ansatz auf die vor allem französische Anreger wie Flaubert, Baudelaire und – fotohistorisch einschlägig – Eugene Atget zurückzuführen. Das geht auf den Aufenthalt Evans‘ in Frankreich im Jahre 1926/27 zurück, in dem er sich, abseits der amerikanischen Gemeinde, intensiv literaturhistorischen Studien widmete und sich die französische Sprache aneignete. Die Fotografie folgt dem erst nach – erst nach seiner Rückkehr in die USA begann Evans zu fotografieren, wo er nicht zuletzt in Kontakt mit dem Werk Atgets kam, der als einer seiner Gewährsleute in der Fotografie gelten sollte. 

Dabei stellt Alpers vier Aspekte heraus: 1. Die fotografische Weltanschauung sei nicht von der (malerischen) Tradition bestimmt, sondern resultiere aus einer „frischen Wahrnehmung“. 2. Hinzu kämen die Gründe dafür, dass Evans die Fotografie als Genre aufnehme und sich von der Literatur (die hier noch blumig mit der Feder assoziiert wird) verabschiedet habe. 3. Sie fokussiert auf das „Ursprüngliche der amerikanischen Situation“ und auf die Gründe „warum die Photographie ein amerikanisches Medium“ geworden sei. 4. Die Studie spreche nicht zuletzt von Alpers selbst sowie von dem Wechsel ihres Forschungsgebiets von der europäischen Historienmalerei zu einem amerikanischen Fotografen.

Allein an dieser Zusammenstellung wird der Ansatz Alpers‘ erkennbar, werden aber auch die Punkte erkennbar, die Kritik provozieren: Zwar verweist Alpers auf die Wahrnehmung Evans‘, und nicht zuletzt auf seine Partizipation am Neuen Sehen, mithin dem neuen fotografischen Ansatz der Avantgarden Ende der 1920er Jahre. Sie schreibt aber der Fotografie zu, was genau gesehen ein allgemeines kulturelles Phänomen war. Hinzu kommt, dass die Abhängigkeit Evans‘ von der Literatur zwar immer wieder hervorgehoben wird. Im Wesentlichen reduziert sich das bei Alpers jedoch auf eine grandiose Metapher, nicht zuletzt, weil ihr narratologische Verfahren in Literatur und vor allem in der Fotografie fremd zu sein scheinen.

Auch die bemühte „Ursprünglichkeit der amerikanischen Situation“ weckt eher Miss- als Vertrauen in Alpers‘ Ansatz, hat sich Evans doch im Wesentlichen mit Lebensbedingungen in der fortgeschrittensten Industrie- und Mediengesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt. Allerdings verweist Alpers gerade die Medien zugunsten der Kunst auf den Rang, was ihr den Blick auf wesentliche Aspekte der Fotografie versperrt. Das ist wohl – mit Verweis auf ihren letzten Aspekt – darauf zurückzuführen, dass Alpers eigentlich eine konventionelle, auf Einzelwerke und Künstler fokussierte Kunsthistorikerin ist, die sich auf die Fotografie geworfen hat.

Das Verfahren Alpers‘, mit dem sie vorsichtig abwägend, ja tastend ihre Argumentation zu entwickeln versucht, macht dabei auf den ersten Blick einen ungemein sympathischen Eindruck. Kein Theoriedruck, keine sich überbietenden Argumentationsgebäude – sie wirkt stilistisch und methodisch unerhört geerdet: Hier bin ich, und ich schaue mit Walker Evans an. Sie nimmt ihre Leser mit und lässt sie an ihren Überlegungen und Reflexionen unmittelbar teilhaben, wie es auf den ersten Blick scheint. 

Auf den zweiten Blick jedoch verschließt sie sich im selben Moment der Lektüre, ist ihr Verfahren doch zugleich höchst subjektiv, intuitiv, assoziativ, anachronistisch und leider eben auch im großen Maße beliebig. Ihre Vorgabe, sie sei vor allem an einer produktionsästhetischen Perspektive interessiert, bedingt den intensiven Fokus auf die Reflexionen und Selbstaussagen Evans‘, soweit sie verfügbar sind, wie sie ja insgesamt mehr an der Person als am Werk interessiert zu sein scheint. Es gibt in ihrer Sicht keine Kunst, sondern nur Künstler.

Freilich ist es auffallend, dass Alpers – obwohl sie immer wieder auf die literarischen Analogien und Bezüge Evans‘ zu sprechen kommt – die seriellen Arbeiten Evans‘, und insbesondere die Arbeiten für „Fortune“ für weniger gelungen hält als die Arbeiten aus den 1930er Jahren. Alpers fokussiert mithin eingestandenermaßen auf die einzelne Arbeit, das singuläre Bild in seiner jeweiligen Präsentation, was die Zeitschriftenarbeiten von vorneherein als nachrangig erscheinen lässt. Serialität, ja, eine das Einzelbild übersteigende und Reihen von Fotos verbindende Narration spielen für sie keine zentrale Rolle. Sie stellt mithin die Fotoserien, die Evans publiziert hat und bei denen er auf die unbedingte, von ihm vorgesehene Reihenfolge bestand, letztlich in den Dienst der Einzelaufnahme: „Die Anordnung dient den Bildern. Es geht um das Bild“, beschließt sie – ein wenig apodiktisch – den Abschnitt über die Kuba-Werkgruppe. Dem sei hier widersprochen.

Titelbild

Svetlana Alpers: Walker Evans. Photograph ohne Vorbild.
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Wolfgang Kemp.
Schirmer/Mosel Verlag, München-Bogenhausen 2021.
320 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783829609104

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