Wellen ohne Wucht

Während der hochaktuelle Stoff des „Doggerlands“ die Erwartung einer spannenden Lektüre weckt, fallen einem bei Élisabeth Filhols Roman regelrecht die Augen zu

Von Anja JeitnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Jeitner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alles ist in Bewegung, nichts besteht ewig – nicht einmal die Landmassen der Erde. Seit der letzten Kaltzeit lässt die globale Erwärmung die Konturen unserer Kontinente bedächtig schrumpfen: die Gletscher, die einst halb Europa umschlossen, sind an die Pole zurückgewichen, weichen immer noch zurück, schmelzen allmählich dahin, lassen den Meeresspiegel steigen. Die Insel, die heute Großbritannien heißt, war vor gar nicht allzu langer Zeit keine Insel, sondern fest verbunden mit dem europäischen Festland. Dazwischen thronte ein Areal, über das man gewissermaßen nach Dänemark herüberlaufen konnte, das biologisch und kulturell so vielfältig gewesen sein muss, dass die Forschung heute vom „alten Herz Europas“ spricht. Was wie der ideale Schauplatz für die nächste Steinzeit-Fantasy-Serie klingt, wurde vor 8000 Jahren von einem gewaltigen Erdrutsch versenkt und liegt heute am Grund des Beckens, das wir als Nordsee kennen: das Doggerland.

Bei dem gleichnamigen Roman, der im französischen Original bereits 2019 erschien und nun ins Deutsche übersetzt wurde, handelt es sich allerdings nicht um Fantasy – ganz im Gegenteil. Die beiden Protagonist*innen haben Biologie studiert und geben durch ihre verschiedenen Arbeitsbereiche einen wasserdichten Einblick in die wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung rund um das Gebiet der Nordsee. Während die schottische Geologin Margaret das Doggerland auf angeschwemmte Fossilien und Knochenreste erforscht, ist der Franzose Marc gefragter Ingenieur in der Off-Shore-Industrie und reist von einer Bohrinsel zur nächsten. Die beiden kennen sich aus dem Studium in Schottland und waren dort ein Paar, jedoch kehrte Marc der Universität und ihrer Beziehung vor 20 Jahren abrupt den Rücken zu und ließ Margaret seither ohne jede Erklärung zurück. Nach Jahren der Funkstille – Margaret ist mittlerweile verheiratet und Mutter eines erwachsenen Sohns – ergibt sich 2013 zum ersten Mal die Gelegenheit eines Wiedersehens; die beiden sind zu einem wissenschaftlichen Kongress in Dänemark eingeladen. Doch dem Treffen steht nicht nur eine emotionale Überwindung bevor; am Vorabend der Tagung ist außerdem ein gewaltiger Orkan in Anmarsch auf Nordeuropa und droht, den Verkehr komplett lahmzulegen.

Die Französin Élisabeth Filhol erzählt die Geschichte zweier Menschen, deren beruflicher Alltag nicht nur intensiv vom Naturgeschehen geleitet ist, sondern deren gesamte Lebensrealität direkt und indirekt im Bezug zur Umwelt steht. Die wirtschaftliche Erschließung der Nordsee ist dabei zentral und prägt, ausgelöst vom Öl-Boom seit den 50ern, die Bevölkerung und Landschaft der Region. Mit der Gegenüberstellung der beiden Pole Wirtschaft und Wissenschaft und der Rolle des Doggerlands, welches die Beziehung der beiden Protagonist*innen sowohl professionell als auch metaphorisch verknüpft, führt die Autorin deutlich einen herrschenden Diskurs vor Augen, der sich in vielen anderen Romanen des Nature Writings abspielt: der Mensch und seine ambivalente Beziehung zum Klima; die Natur, die der Mensch vollkommen zu kontrollieren glaubt, die er schonungslos ausbeutet, die irgendwann doch mit voller Wucht zurückschlägt. Filhol, die hauptberuflich als Wirtschaftswissenschaftlerin tätig ist, bestückt die Handlung dabei einerseits mit umfangreichem Backgroundwissen rund um die Off-Shore-Industrie und lässt ihre Figuren andererseits ausgiebig über die Naturhistorie der Nordsee referieren. Wer sich nur ein bisschen für diese Themen interessiert, kann hier sicherlich etwas Fachwissen mitnehmen.

Die Message des Romans ist dabei einleuchtend, die Konstruktion vielversprechend und doch gelingt es ihm nicht, seine Handlung entlang der emotionalen Beziehung der Figuren und des fachlichen Gegenstands überzeugend abzuwickeln. Gerade die sachlichen Inhalte, die teils durch unwirkliche Dialoge zwischen den Figuren wie Referate abgehalten werden, teils mit abschweifenden und detaillierten Nebengeschichten enorm viel Platz im Text einnehmen, tragen zu diesem Gefühl der Künstlichkeit bei. Die eigentliche Handlung beschränkt sich zeitlich gerade mal auf zwei Tage, jedoch müssen die Leser*innen erst 180 Seiten über sich ergehen lassen, bis sie mit einem Funken Spannung und der Auflösung des Romans belohnt werden. Dieser „Twist“ am Ende hält sich dann letztlich auch in Grenzen, die Figuren bleiben unnahbar bis zum Schluss. 

Mit ihrem Erstlingswerk Der Reaktor, das 2011 bereits ins Deutsche übersetzt wurde und das von Zeitarbeiter*innen in der französischen Atomindustrie handelt, scheint Élisabeth Filhol der Brückenschlag zwischen Natur, Umwelt und Wirtschaft erfolgreich gelungen zu sein: Der Roman wurde in Frankreich mit dem Prix France Culture/Télérama ausgezeichnet. 

Während das Doggerland per se die thematische Grundlage für eine spannende Geschichte liefert und den Anspruch eines hochaktuellen Themas weckt, verzettelt sich die Handlung in aussichtslosen Abschweifungen und unnatürlich verpackten Details, sodass man sich bei der Lektüre an vielen Stellen ganz einfach langweilt. Schade also, denn die Wellen sind da – ihre Wucht bleibt allerdings aus.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2021 entstanden sind und gesammelt in der Septemberausgabe 2021 erscheinen.

Titelbild

Elisabeth Filhol: Doggerland.
Aus dem Französischen von Cornelia Wend.
Edition Nautilus, Hamburg 2020.
272 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783960542322

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