Eine Wiedergeburt in der Provinz

Mathias Enard begibt sich im Roman „Das Jahresbankett der Totengräber“ in die tiefe französische Provinz

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mathias Enard ist ein weit gereister Autor. Sein literarisches Werk zeugt davon. Der Roman Zone (2010) erinnert sich an die Schlachtfelder des Balkans, Die Straße der Diebe (2013) bestreicht den Mittelmeerraum, Kompass (2016) vermittelt zwischen Okzident und Orient, und die Gedichte in Letzte Mitteilung an die Proust-Gesellschaft von Barcelona (2019) führen bis nach Tadschikistan. Mit seinem jüngsten Roman entdeckt Enard nun eine ganz andere, ihm im Grunde aber bestens vertraute Welt.

Das Jahresbankett der Totengräber spielt in der Region von Niort im westfranzösischen Département Deux-Sèvres, wo der Autor 1972 zur Welt kam. Hier lässt sich auch sein Protagonist, der Anthropologe David Mazon, nieder, um seine Doktorarbeit zu schreiben. Mit hundert Interviews will er ergründen, was es heißt, „heute auf dem Land zu leben“. Im Dorf La Pierre-Saint-Christophe bezieht er ein einfaches Domizil, das er „Zum wilden Denken“ tauft, denn ganz unbescheiden sieht er sich selbst in der Nachfolge von Malinowski und Lévy-Strauss als Hoffnung der modernen Anthropologie. Sein Hochmut verfliegt allerdings schnell, als er merkt, dass er der Aufgabe vielleicht doch nicht ganz gewachsen ist. Erstens überschätzt er sich intellektuell, zweitens ist sein Beziehungsstatus mit Lara in Paris prekär, und drittens ist das Landleben vielfältiger als er gedacht hat.

Davids Tagebuchaufzeichnungen bilden den Auftakt zum Roman. Darin hält der Neuankömmling fest, wie er Bekanntschaft mit Martial Pouvreau macht, dem Bürgermeister und örtlichen Bestattungsunternehmer. Dieser führt ihn ins Angler-Café „Chez Thomas“ ein, das einzige Lokal im Ort und Heimat der Apérotrinker. Hier lernt er weitere Dorfbewohner kennen, den Kneipier Thomas, Max den Künstler oder Lucie, der man wegen ihrer Widerborstigkeit mit Misstrauen begegnet. David interessiert sich gerade deshalb für sie.

Ab dem zweiten Kapitel übernimmt ein auktorialer Erzähler und berichtet, wie sich der Pariser Anthropologe peu à peu ins Dorfleben einfügt und diesem etwas zu entlocken versucht, was ihn auch wissenschaftlich weiter brächte. Der Städter David kann sich immer weniger der Melancholie des Landlebens entziehen. Er erfährt in Gesprächen von den alltäglichen Problemen in einer spärlich besiedelten Landschaft, der das historische Dorfleben längst abhanden gekommen ist. Und er bekommt alte Geschichten erzählt, in denen sich Realität und Mythos durchdringen; beispielsweise jene von Jérémie und Louise in den Wirren der 1940er-Jahre, als Frankreich von den Deutschen besetzt und die Männer an die Front abkommandiert waren. Überhaupt wird in diesem Buch viel gestorben, dafür sorgt allein schon der Leichenbestatter Martial, der für den Kreislauf des Lebens steht.

Mathias Enard nimmt dies alles zum Anlass für ein funkelndes Feuerwerk von Geschichten, Mythen und Mären über Liebe, Leben und Tod, in welchem er auch die wechselhafte Geschichte der Region einbettet. Wo heute Gemüse- und Viehbauern ihr stilles Handwerk betreiben, herrschten in alten Zeiten oft turbulente Zustände. Die Landschaft des Bas Poitou, zwischen den Flüssen Laye und Charente gelegen, war Schauplatz verschiedenster Kämpfe und Kriege, in denen sich das Schicksal der französischen wie der europäischen Geschichte entschied. In Poitiers wurde im 8. Jahrhundert die islamische Expansion gestoppt, im 16. Jahrhundert wüteten hier die Hugenottenkriege, während der französischen Revolution erwies sich die Region als aufmüpfiger Hort der katholischen Reaktion. Mit diesen Ereignissen belebt Enard auch die widerspenstige Tradition der karnevalesken Groteske wieder, die in Rabelais‘ Gargantua und dem spöttischen François Villon zwei wunderbare Repräsentanten hat, denen Das Jahresbankett der Totengräber lustvoll seine Reverenz erweist.

Der Roman mäandert, wie die Kanäle im ausgedehnten Marais unweit des (fiktiven) La Pierre-Saint-Christophe, beständig zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Gegenwart und Geschichte hin und her. Als Bindeglied zwischen diesen vielen Ebenen vermittelt – ein raffinierter Dreh – das Rad des Lebens, die Reinkarnation im Kreislauf des ewigen Werdens der Seele. Alle Toten sind demnach eingespannt in einen Kreislauf des Seins, der zwar nie die Region verlässt, aber zwischen Generationen und Lebensformen vermittelt. So bleibt der jüngst verstorbene Abbé Largeau dem Dorf als Wildschwein treu, ohne dass er solches je geahnt hätte, ebensowenig wie seine früheren Leben als „ein Frosch, ein Rabe, ein Fährmann und vieles andere“, all seinem Glauben ans Paradies zum Trotz. Der gewalttätige Jérémie wiederum büßt sein Verbrechen als Fadenwürmer-Schwarm in der Dusche von David, der sich täglich darüber graust.

Mathias Enard bezeugt hier abermals sein profundes Weltwissen und verbindet es mit seiner Vertrautheit mit dem Leben in dieser Provinz. Er beobachtet die Verhältnisse scharf und mit Empathie, er charakterisiert die Figuren mit Schalk und Ironie, und er malt die historischen Tiefenschichten mit sprachlicher Lust und intellektueller Opulenz aus. Spätestens im Zentrum des Buches, dem titelgebenden Jahresbankett, gehen Fantasie und Schwelgerei dann gänzlich mit ihm durch. Die Schilderung des Gelages stellt sich ebenbürtig neben Rabelais‘ Fressorgien oder Petrons „Cena Trimalchionis“. Bei dieser überbordenden Feier des Lebens lässt er keine kulinarische Raffinesse der französischen Gastronomie aus – bis hin zu den 99 köstlichsten Käsesorten und all den süßen Varianten von Windbeuteln. Enard erweist sich dabei als vollmundiger Liebhaber der Trink- und Essfreuden.

Glücklicherweise versteht er sich aber auch auf leisere Töne, etwa wenn Lucie über Anbauformen für Gemüse nachdenkt und schließlich mit David ein solches Projekt in Angriff nimmt, um auf dem Hof „Aux bons Sauvages“ (Zu den guten Wilden) ein paar Hektar des Planeten zu retten, „ein Strohhalm im Rad der Apokalypse“.

David nimmt am Ende des Romans erneut seine Tagebucheinträge zur Hand und rekapituliert, wie er mit Lucies Hilfe sein universitäres Scheitern allmählich eingesehen hat. Er verabschiedet sich von der Anthropologie ebenso wie von Paris und seiner dort lebenden Lara, um sich in der Provinz zusammen mit Lucie ernsthaft dem Anbau von Obst, Kräutern und Gemüse zu widmen. Zu Villon und Rabelais gesellt sich zum guten Ende ungenannt auch Voltaires Candide und sein zu bestellender Garten.

Das Jahresbankett der Totengräber gibt ein virtuos erzähltes, sprachgewaltiges, hin und wieder auch etwas ausuferndes Panorama des Lebens in der tiefen französischen Provinz. Dabei überwindet er den viel beschworenen Graben zwischen Stadt und Land. Der Roman bleibt literarisch und intellektuell ganz dem urbanen Milieu verhaftet, sucht aber glückend den Bogen hin zu einem einfachen Leben, dem sich der Held am Ende auch zuwendet. Genauso wie sein Autor Enard, der in Barcelona Arabisch lehrt und, laut Verlagsangabe, neuerdings auch wieder in Niort lebt.

Titelbild

Mathias Énard: Das Jahresbankett der Totengräber.
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
Hanser Berlin, Berlin 2021.
512 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783446269347

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