Wieder Luft bekommen

Amanda Lasker-Berlin taucht mit ihrem zweiten Roman „Iva atmet“ in die Geschichte einer Täterfamilie ein

Von Pauline WernerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pauline Werner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Iva fällt das Atmen manchmal schwer. Sie hat zwar Asthma, doch da ist noch mehr, was ihr immer wieder die Kehle zuschnürt. Die 32-jährige Anästhesistin, die mit ihrem Mann Roy und ihrem kleinen Sohn Shlomo in Wuppertal wohnt, bricht zu Beginn des Romans zu einer Reise in ihre Vergangenheit auf, als ihr Vater in Dresden im Sterben liegt. 18 Tage verbringt sie in dem riesigen Haus ihrer Jugend und begleitet den Vater, früher einmal ein einflussreicher Richter, zu dem sie seit jeher ein distanziertes Verhältnis hat, auf seinem letzten Weg. Zu Beginn ihres Aufenthalts lernt sie die abenteuerlustige Ismene kennen, die ihr ab da kaum mehr von der Seite weicht. Doch vor allem muss die Protagonistin sich ihren Erinnerungen sowie denen ihrer Vorfahren stellen.

Am Eingang des Elternhauses stehen zwei große Köcherbäume, ein solcher Baum ziert auch den Buchumschlag. Sie standen früher vor dem alten Haus der Familie in Wuppertal. Ivas Großmutter bestand darauf, beim Umzug nach Dresden die Bäume mitzunehmen, doch sie überlebten die Reise nicht.

Tote Bäume schlagen keine Wurzeln mehr. Der Vater betoniert sie ein, bestreicht sie mit Chemie. Damit die Bäume nicht verrotten. Hofft, dass die Großmutter es nicht merkt. Doch die merkt alles, riecht die Chemie, riecht den Beton. Stirbt kurz nach den Bäumen.

Sie sind Relikte aus der Zeit in Namibia, der früheren Kolonie Deutsch-Südwestafrika, wo die Großmutter aufwuchs. Als Kind weiß Iva nichts über die Taten ihrer Vorfahren dort am Waterberg und später in der Zeit des Dritten Reichs, doch je älter sie wird, desto mehr muss sie sich damit auseinandersetzen.

In Rückblenden, die sich assoziativ aus den Gedanken und Erlebnissen Ivas in der Gegenwart ergeben und episodenhaft eingeflochten werden, wird von ihren Erlebnissen in der Kindheit und Jugend erzählt. Es ist eine einsame Zeit, die von Distanz zwischen den Familienmitgliedern und von geheimnisvollen Zusammenkünften, an denen nur die Erwachsenen teilnehmen dürfen, geprägt ist. Auch die Kindheit der Großmutter in Deutsch-Südwestafrika wird auf diese Weise thematisiert. Stück für Stück wird so die Geschichte ihrer Familie zusammengesetzt.

Dabei wird viel nur angedeutet und nicht auserzählt, was jedoch den Reiz des Romans ausmacht. Die Kolonialverbrechen werden nicht ausgeschlachtet und verurteilt, sondern aus verschiedenen Blickwinkeln thematisiert. Dabei spielt nicht nur Ivas Sicht als Nachfahrin und die der Großmutter als indoktriniertes Kind, das die Taten der eigenen Eltern teils mitbekommt, aber nicht hinterfragt, eine Rolle. Roys Vater Rüdiger, den die Protagonistin genau wie Roy schon aus Kindertagen kennt, ist der Erste, der die junge Iva mit der Schuld ihrer Vorfahren konfrontiert. Er schreibt in Roys und ihrer Kindheit eine Biographie über Ivas Familie und ist geradezu besessen von der Thematik. Die bohrenden Fragen, die er der überforderten, weil unwissenden Iva stellt, kann sie nicht beantworten – und auch als Erwachsene denkt sie nur ungern darüber nach.

Der Umgang mit Schuld ist ein wichtiges Thema im Roman, auch wenn in Ivas Familie meist schlicht über die Vergangenheit geschwiegen wird. Ihr Bruder Alexander, der provozierende Fragen stellt und scheinbar gleichgültig „Wir sind eben eine Mörderfamilie. Musst du dich mit abfinden“ sagt, ist die Ausnahme. Jette, Ivas Schwester, schwärmt stattdessen in ihren Youtube-Videos von der paradiesischen Landschaft Namibias und der emotionalen Nähe zur Großmutter, wobei sie die historischen Umstände konsequent ignoriert. Ivas Weg scheint die Isolation von der Familie zu sein, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Roman beginnt. Man könnte der Autorin einerseits vorwerfen, das Thema zu passiv, zu unkritisch angegangen zu sein. Andererseits ist der fehlende belehrende Ton im Roman eine Gelegenheit für den/die Leser*in, sich selbst mit den verschiedenen Sichtweisen kritisch auseinanderzusetzen.

Besonders interessant und gleichermaßen aufwühlend ist dabei die Wahrnehmung der Großmutter als Kind: Sie sieht ihre Landsleute ganz selbstverständlich als die „Beschützer“ des Waterbergs an und diejenigen, die im Kampf mit den Herero gestorben sind, als „Heilige“. Dieser Blickwinkel ist ihre Wahrheit, sie hat es nicht anders gelernt, sie kann es nicht besser wissen. Aussagen wie diese rütteln stärker wach, als ein erhobener Zeigefinger eines/r Autors*in es könnte.

Das brisante Thema aus der Vergangenheit steht zwar im Vordergrund, aber auch die Gegenwart, die die Protagonistin vor allem mit Ismene verbringt, die „wirklich große Lust auf das Jetzt“ hat, kommt nicht zu kurz. Die Beziehung zwischen den beiden wird nicht genauer definiert, genauso wie Ismenes Leben geheimnisvoll ist: Mal erzählt sie, sie sei eine begabte Pianistin, mal, sie verdiene ihr Geld als Prostituierte. Lasker-Berlin erzeugt sowohl im Hier und Jetzt als auch in den Erinnerungen mit wenigen Worten eindrückliche Bilder und Atmosphären. Mit kurzen, prägnanten Sätzen fängt sie einzelne Momente ein und macht sie greifbar. Besonders oft wird beispielsweise das Symbol des Laubs erwähnt, das Iva das Atmen schwer macht. In der Regel liegt es „auf ordentlichen Haufen“ auf dem Boden der Lunge, aber in aufwühlenden Situationen und Konfrontationen mit der Vergangenheit beginnt das Laub „in ihren Lungenflügeln zu flattern […]. So wild, dass die Atemwege fast verstopfen“. Um wieder richtig Luft zu bekommen, muss Iva sich letztendlich mit ihrer Familie auseinandersetzen.

Iva atmet ist ein eindrucksvoller Roman der jungen Autorin über die Frage nach Tätern und Opfern. Mit Worten und Bildern, die noch lange nachklingen, nähert sie sich dem Thema der deutschen Kolonialverbrechen und den unterschiedlichen Wahrheiten der Betroffenen an. Durch das langsame Aufrollen der Geschichte von Ivas Familie, die sehr unterschiedlichen Figuren und die sprachliche Gestaltung entsteht ein Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Von Amanda Lasker-Berlin wird in Zukunft hoffentlich noch viel zu hören sein.

Titelbild

Amanda Lasker-Berlin: Iva atmet.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2021.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002855

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