Das Einwohnerlimit

Die kanadische Erfolgsautorin Miriam Toews erzählt in „Kleinstadtknatsch“ herzenswarm und humorvoll von Menschen in einer Kleinstadt, die weder wachsen noch schrumpfen soll

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Algren ist eine Kleinstadt in der kanadischen Prärieprovinz Manitoba. Nicht irgendeine, sondern mit 1.500 Einwohnern die kleinste in ganz Kanada. Das muss so bleiben, wenn man am Nationalfeiertag dem Premierminister John Baert begrüßen will, denn der hat seinen Besuch in der kleinsten Stadt Kanadas versprochen. Bekommt Algren auch nur einen Einwohner mehr, ist der Status gefährdet. Und mit einem weniger wäre Algren keine Stadt mehr, sondern ein Dorf. Noch vor 18 Monaten hätte man es als deutscher Leser für eine lächerliche Erfindung gehalten, dass sich die Politik auf staatlicher und kommunaler Ebene an einer willkürlich festgelegten Zahl festbeißt. Seit der Erfahrung mit den immer wieder „angepassten“ Inzidenzlimits für Corona sieht man das anders.

Die 24jährige Knute ist mit ihrer kleinen, in freudigen Augenblicken am ganzen Körper zitternden Tochter Summer Feelin aus der Provinzhauptstadt Winnipeg nach Algren zurückgekommen, um sich mit ihrer Mutter um den kranken Vater zu kümmern. Gleich nach Knute lernen wir den schüchternen Bürgermeister Hosea Funk kennen. Für ihn ist die Einwohnerzahl nicht nur ein kommunales, sondern auch ein zutiefst persönliches Problem. Denn auf ihrem Sterbebett hat ihm seine Mutter gesagt, Premier John Baert sei sein Vater. Der unbeholfene Gemeindechef wirkt arg unterkühlt, wenn er darüber nachdenkt, dass der Tod eines alten Mannes gegen die Geburt eines neuen Erdenbürgers aufgerechnet werden könnte, während Drillinge zum Problem würden.

Hat die erfahrene und preisgekrönte Autorin einen herzlosen Ehrgeizling zum Protagonisten ihres bereits 1998 (!) erschienenen und nun von Christiane Buchner trefflich ins Deutsche übersetzten Romans gemacht? Die Bedenken, sie setze auf billigen Humor zu Lasten unbedarfter Leute, verstärken sich, wenn man liest, Hoseas damals achtzehnjährige Mutter Euphemia Funk habe ihren Jungen im Geräteschuppen zur Welt gebracht, ohne dass die Eltern die Schwangerschaft mitbekamen.

Später wird man eines Besseren belehrt. Hosea Funk hat das Herz auf dem rechten Fleck, auch wenn er das vor allem der geliebten Arzthelferin Lorna Garden aus Winnipeg nicht recht zeigen kann, so dass sie mit dem Umzug zu ihm zögert. Man liest mit Freude, wie der unentschlossene Mann sie zwar nervt, ihre Liebe aber nicht verliert.

Euphemias Eltern waren übrigens im Bilde und stellten sich der schwangeren Tochter zuliebe blind und taub. „Die Funks waren vielleicht gleichmütig, aber doch keine Idioten.“ Sie ließen die Sache auf sich beruhen, und nun gilt Euphemia im Dorf als großherzig, weil sie einem im Ort vorbeikommenden Reiter das noch keinen Tag alte Baby abgenommen hat und seither mütterlich für Hosea sorgt. (Keine reine Erfindung von ihr, denn es war auch ein fremder Reitersmann, der sie geschwängert hat.) Hosea ehrt das Andenken seiner Mutter, die schon mal Handstand auf einem Küchenstuhl machte und viele Kisten mit leeren Whiskeyflaschen hinterließ, indem er das Dorfstadion nach ihr benennen lässt, wenn auch mit einer so umständlichen Bezeichnung, dass kein Mensch sie verwendet.

Die Autorin schildert ihre Figuren mit Herzenswärme, was die ironische Betrachtung von Schwächen nicht ausschließt. Zu lachen oder zu lächeln gibt es genug. Es beginnt damit, dass der Ort vor allem durch die Algrener Küchenschabe bekannt wurde. Putzig sind auch Hoseas Versuche, den am Ortsrand ansässigen Farmer Johnny je nach Einwohnerzahl als neuen Brandmeister der Feuerwehr im Ort zu halten oder als Überzähligen auszugemeinden. Doch als Johnny sein tragisches Lebensgeheimnis offenbart, vergeht dem Bürgermeister (und dem Leser) das Lachen.

Eines Tages taucht Max wieder in Algren auf, der nach Europa abgehauene Vater von Summer Feelin. Wie er und Klute sich erneut näherkommen, zumal sie beide ihre Tochter von Herzen lieben, wird anrührend und kitschfrei erzählt. Da fällt auch ein anderes Licht auf die dem Alkohol ergebene Hundert-Kilo-Mutter von Max, die als bösartig gilt, aber nur unglücklich ist.

Vieles im Roman wird lakonisch erzählt, die schönste Stelle, ganz am Schluss, sogar lapidar. Kein Wort darüber; Hosea Funk wisse jetzt, was wirklich wichtig ist im Leben. Er verschläft, die Arme um Lorna geschlungen, um fünf Uhr morgens am Nationalfeiertag einen Anruf aus der Hauptstadt Ottawa. Gegen Mittag beantwortet er die Nachricht auf seinem Anrufbeantworter, indem er auf ein Band spricht, vielleicht klappe es nächstes Jahr.

Der deutsche Titel Kleinstadtknatsch wird dem Inhalt einigermaßen gerecht, ist aber nicht so schön ironisch wie der des Originals. Der nämlich lautet A Boy Of Good Breeding, wodurch Hosea Funk, den „der Esel im Galopp verloren“ hat, „Ein Junge aus gutem Stall“ wird.

Titelbild

Miriam Toews: Kleinstadtknatsch.
Aus dem Englischen von Christiane Buchner.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021.
272 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783455010008

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