Vom Tod und der Wiederauferstehung des Autors

Frank Witzel greift in „Die Unmöglichkeit eines Ich“ eine schon etwas ältere Literatur-Debatte auf und stellt die Identitätsfrage

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Roland Barthes‘ Der Tod des Autors von 1967 hatte seine Wirkung nicht verfehlt und wohl manchem mächtig Angst eingejagt. Denn welcher Autor (von Autorinnen wusste man scheinbar noch nichts und erst recht nichts von weiteren Geschlechtern) wollte sich schon als Subjekt schreibend zum Verschwinden bringen und sich seiner Identität im Text beraubt sehen? Gegen dieses Verschwinden protestierte die Eitelkeit am heftigsten, die in der schreibenden Zunft einen zwar uneingestandenen, aber umso wirkmächtigeren Antrieb darstellt. Neulich definierte Franz Schuh die Eitelkeit allerdings recht böse als die Einsamkeit, mit der wir anderen auf die Nerven gehen. Aber die Angst verflog rasch wieder. Denn die Sprache mag zwar irgendwie unabhängig von uns sein und trotzdem für alle nach Gusto verfüg- und formbar, doch ohne die Schreibenden geht literarisch nun mal nichts, weshalb es nur rechtens sein kann, wenn sie auch Spuren hinterlassen, sozusagen ihre Handschrift (so unleserlich sie auch sein mag) und ebenso ihre mentale Verfasstheit. Am Ende hatte es nicht einmal Roland Barthes geschafft, sich aus dem herauszuhalten, was er schrieb, und revidierte wenig später seinen provokanten Sturm im Wasserglas, um in seinen Werken selbst peu à peu immer sichtbarer zu werden.

Frank Witzel gibt jetzt noch einmal Entwarnung und zitiert dafür erneut einen diskursaffinen Franzosen, nämlich Michel Houellebecq. Ihm zufolge sei der Autor [sic] als Mensch in seinen Büchern stets präsent, unabhängig davon, wie gut oder wie schlecht er schreibe. Wobei Witzel an diese klare Ansage die hintersinnige Frage hängt, wie es denn um das Verhältnis von Autor und Figur stehe. Die Figuren lernen wir in den Texten kennen, aber wo ist die Person, die diese Figuren geschaffen hat? „Oder verbirgt sich hinter diesem von mir angenommenen Wechselspiel zwischen Autor und Figur lediglich ein Scheinproblem, das von der dem allen vorgeordneten Frage ablenkt, der Frage nach dem Ich, sei es nun das Ich des Autors oder das der Figur.“ Und damit sind wir wieder mittendrin im Problem, nämlich bei der Ich-Frage, die ein wirklich sehr populärer Philosoph in den Witz verpackte: Wer bin ich und wenn ja wie viele?

Ist das Ich nur eine „Instanz des Illusionären“ oder doch ein recht kompaktes „Ich-Gehäuse“, wie es bei Sigmund Freud heißt? Freud sprach schließlich von Ichtrieben, die ohne das dazugehörige Individuum sicherlich nicht existierten. Was also ist das Ich? Vielleicht eine ‚Fiktion, die sich aus ihrer Körperlichkeit, aus Sozialisation und damit kulturellen Einflüssen zusammensetzt, mithin die Summe aus Gedächtnis und Gewohnheiten als Resultate aus Identifizierungen und Lernprozessen‘ (wie ich es bei dem Psychoanalytiker Peter Widmer definitorisch las)? Aber dann wäre es ja nicht fiktiv, sondern besäße eine erzählbare, weil erlebte und gelebte Biografie. In die Erzählung allerdings ließe sich leicht Fiktives mischen – Erhellendes darüber wusste schon Goethe in Dichtung und Wahrheit mitzuteilen.

Für eine unverbesserliche Pragmatikerin wie mich sieht die Sache mit dem Ich keineswegs so kompliziert aus, wie es scheint, denn erstens gibt es natürlich ein Ich, solange es einen Menschen gibt, der sich damit meint, und zweitens ist das Ich immer ein Einzelposten (auch wenn wir uns alle so nennen) und in seiner Präsenz eine Summe aus Vergangenheit mit fortschreitender Tendenz und garantiertem Finale. Außerdem würde uns die Psychologie über das frühkindliche Dasein erzählen können, wie ichbezogen unsere vorerst noch sprachlose Existenz sich in Szene zu setzen versteht – und Eltern wissen es erst recht. Schließlich ist unser (bezeichnenderweise) von einem Schreien begleitetes Ankommen in der Welt keine Ankunft aus dem Nichts, wofür schon unsere Chromosomen, die DNA und die „programmierten“ Triebe sorgen. Weshalb ich Witzels Diktum, das Ich sei nicht zuerst da, sondern konstituiere sich mit dem Denken und Wollen, lieber in Frage stelle.

Doch zurück zur Literatur und zur Frage nach den Ich-Anteilen in der literarischen Figur und der Person, die sie schuf. Für den Roman mag sie eher schwer zu beantworten sein, doch auf dem Gebiet der Biografie und Autobiografie herrschen bei genauerer Betrachtung kaum eindeutigere Verhältnisse. Sie seien in ihren Handlungen wie der Roman Wegbeschreibungen eines Lebens, Verlaufserzählungen, in denen ein Mensch auftritt, der lange Zeit nicht wusste, wohin es gehe, „und dem sich dann doch ein Sinn erschloss, als er aufhörte, nach vorn zu schauen und stattdessen auf sich sah“. In Witzels Roman Direkt danach und kurz davor ist der Blick auf sich selbst zu Recht problematisiert: 

Im Nachhinein kann man alles zurechtrücken, weil man weiß, wie es weiterging. In der Erinnerung verschmilzt alles zu einer kleinen überschaubaren Strecke. Es ist ein Fußweg. Ein Katzensprung. Die ganze Kindheit ein kurzer Augenblick. Als hätte man sich versehen.

Ja, der Mensch ist ein Sinnsucher. Nicht immer passt die Wirklichkeit zur Sinnentdeckung, aber da ist der Mensch seit jeher erfinderisch, wie uns Witzel in seinem Essay wissen lässt. Erst recht, wenn sich in biografischen Schilderungen Widersprüche mischen, die, wie der Autor richtig vermutet, überhaupt erst durch die Sinnsuche entstehen würden. Nicht das Leben schmerze, „sondern eben dieser Sinn, nach dem ich giere, um ihn meinem Leben aufzupfropfen“. Und wo die Wirklichkeit auf diese Weise „fehlerhaft“ werde und ihre Darstellbarkeit leide, ist da eine Korrektur erlaubt? „Darf ich die Wirklichkeit verändern, um die Realität herzustellen“, fragt Witzel. Wir tun es einfach, lehrt uns die Erfahrung.

Witzel bekennt uns seine Erinnerungslust, die wir längst aus seinen Romanen kennen. „Erinnern heißt also, ich bin bereit, meine Gegenwart für die Vergangenheit zu opfern, heißt, ich erachte Vergangenheit höher als die Gegenwart.“ Hier ließe sich einwenden, ohne Erinnerung gäbe es keine Gegenwart. Glücklicherweise verfügen wir über einen mal mehr, mal weniger gut funktionierenden Speicher zwischen den Ohren. Im Übrigen beansprucht der Akt des Erinnerns ja auch Gegenwart und Gegenwart produziert unentwegt Vergangenheit, indem sie unsere Zukunft verschlingt. Witzels Hierarchisierung der Zeiten hätte wohl nur Sinn, wenn wir sie im Leben fein säuberlich auseinanderhalten könnten, aber wie macht man das in einem Zeitfluss? Klar, das Vergangene bleibt vergangen und dennoch wird es erinnernd wieder lebendig. 

Wir kennen Frank Witzel als einen diskursfreudigen Autor und Gedanken-Jongleur, was der kleine Essay-Band erneut bestätigt. In ihm gesteht er uns seine Vorliebe für das Biografische und Autobiografische und teilt mit uns Leser*innen sein reiches Lektürewissen. Um eine kritische Anmerkung komme ich nicht herum: Wo es um Annie Ernaux und Didier Eribon geht, wird das naheliegende Thema „Herkunft“ behandelt, die uns prägt und mitunter auch gefangen hält. Warum ist das Verlassen der sozialen Herkunft aber eine „Form der Entfremdung vom eigenen Ich“? Heißt das übersetzt: Milieuwechsel bewirke Ich-Verlust? Darf man seine „Klasse“ (im Fall der beiden genannten Autor*innen ist es die „classe populaire“) nicht verlassen, weil es Verrat sei, es zu tun, der mit dem „hohen Preis“ der Entfremdung bezahlt werde? Für mich als „abtrünniges“ Arbeiterkind klingt das höchst befremdlich. Dabei empfand ich in meinem Leben noch nie so viel entfremdungsfreies Ich wie heute. Welcher Sozialromantik gehen Eribon, Ernaux und Witzel da eigentlich auf den Leim? Als ob soziale Herkunft etwas Angeborenes sei oder man „Milieu“ verlerne. Und selbst wenn, die besten Revolutionen beginnen im eigenen Leben, so mein aus Erfahrung gespeister Kommentar zur Klassenfrage, während ich derweil milieutreu in einer Siedlung des sozialen Wohnungsbaus lebe, also unter lauter (vermeintlich) einfachen Leuten.

Titelbild

Frank Witzel: Die Unmöglichkeit eines Ich. Blessuren, Klammern, Beharrungen.
Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2021.
142 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783465045670

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