Ein neuer Turn in den Kulturwissenschaften: der ‚Turn to the Perpetrator‘

Die Düsseldorfer Studie „Das Unsagbare verschweigen“ entwickelt interdisziplinäre Textanalyseverfahren für Holocaust-Literatur aus der Täterperspektive

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eva Mona Altmanns Dissertationsschrift mit dem Titel Das Unsagbare verschweigen. Holocaust-Literatur aus Täterperspektive basiert auf der Wahrnehmung, dass die Texte der Holocaust-Literatur aus fiktionaler Täterperspektive besondere Aufmerksamkeit verdienen, „weil sie paradigmatisch für einen gesamtgesellschaftlichen Trend stehen, der (reale wie fiktive) Täter in das Zentrum der Aufmerksamkeit und des Interesses rückt“. Die Arbeit verfolgt die Intention, ein multiperspektivisches Konzept für die Analyse entsprechender Texte zu entwickeln. Dabei stehen die Funktionsweisen der Sprache und der Rhetorik gleichberechtigt neben Kategorien wie „Empathie“ respektive „Sympathie“, des Weiteren wird der „textimmanenten Dekonstruktion des Täterdiskurses durch das literarische Verfahren des unglaubwürdigen Erzählens“ ein besonderes Augenmerk gewidmet. 

Das Thema der vom Romanisten Frank Leinen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf betreuten Studie hat erinnerungskulturelle und gesellschaftspolitische Bedeutung, da hier in nuce ein gesamtgesellschaftliches Phänomen tangiert wird, wie die Autorin mehrfach betont: 

Während die Auseinandersetzung mit den Tätern einerseits zu einem analytischen Verstehen der Tatzusammenhänge beiträgt und dadurch letztlich der Prävention dienen kann, droht sie andererseits eine Faszination auszulösen, die nicht nur zu einer sekundären Viktimisierung der Opfer, sondern mitunter sogar zu Nachahmungstaten führen kann.

Es existiert also mehr als ein fachspezifisches Interesse an der Frage, wie man Täter und deren Handeln verantwortlich und ohne Pathos darstellen bzw. ohne ‚Beschädigung‘ der Opfer ins Zentrum rücken kann. Eine wichtige Rolle für die Kontextualisierung des Forschungsprojekts spielt somit der ‚Turn to the Perpetrator‘, also die expandierende kulturelle Adaption und Rezeption des Täterdiskurses, welche durchaus theoretisch wie pragmatisch neue Herausforderungen mit sich bringen.

Das Unsagbare verschweigen ist in drei große Teile mit insgesamt fünfzehn Kapiteln untergliedert. Differenziert und auf dem aktuellen Forschungsstand wird im ersten Teil Grundlegendes geklärt: Um welche historischen Ereignisse geht es überhaupt und lassen sie sich passend benennen, etwa mit Shoah oder Holocaust oder Churban oder „Endlösung“ oder Völkermord? Sodann stellt sich die Frage, welche Definition für bzw. welche Texte unter Holocaust- bzw. Shoah-Literatur subsumiert werden. Altmann wägt dazu zwischen gegenstandsbezogenen, thematischen, zeitlichen sowie engeren und weiteren Konzepten ab, sie gelangt zu einer fluiden Betrachtungsweise des Textkorpus, welcher sich „nicht ohne weiteres fixieren“ lasse.

Danach fokussiert sie den sogenannten Unsagbarkeits- bzw. Undarstellbarkeitstopos, worunter die Fragen nach einer normativen Ästhetik von Kunst und Literatur über Auschwitz konzise erfasst und betrachtet werden. Material- und belegreich werden die Diskurse über eine (angemessene) Darstellbarkeit der Shoah in Abgrenzung zu anderen Ereignissen und Handlungen einerseits und Fiktionalisierungsverboten andererseits referiert und historisch systematisiert, wobei herausgearbeitet wird, wie sich die Rezeption von Holocaust-Literatur in Deutschland und Frankreich seit der Nachkriegszeit verändert hat und inwieweit noch Tabus relevant sind. Resümierend bezieht Altmann kritisch Stellung gegen den Unsagbarkeitstopos, nicht zuletzt, da sich wegen der Fülle an faktisch vorliegenden Holocaust-Literatur-Texten dieser Topos als ein Paradox erweist, der „nicht als Handlungsmaxime, aber als Bewertungsinstrument für vorhandene und kommende Darstellungen“ funktioniere. 

Daran anknüpfend widmet sich Altmann dem Genre der Holocaust-Literatur aus Täterperspektive, indem sie wiederum historisch, kategorial und mit Blick auf die Täterforschung die Genese und Entwicklung – auch in anderen Medienbereichen wie Filmen – darstellt. Neben Fernsehformaten, Filmen, Ausstellungen und Romanen geht sie auch auf Biografien und Familienbücher (sogenannte Väter- bzw. Enkelliteratur) ein, um die weite Verbreitung entsprechender narrativer Ansätze zu illustrieren, was sie als Paradigmenwechsel hin zu einem „größeren gesellschaftlichen Turn to the Perpetrator“ deutet. Darunter versteht sie ein interdisziplinär-transnationales Forschungsfeld, das sich von ursprünglich soziologisch bzw. psychologisch ausgerichteten Forschungsansätzen hin zu kulturwissenschaftlichen Theorien und Projekten wandelt, wobei der Holocaust „sowohl den Ursprung als bis heute die Hauptreferenz“ bilde. Insofern ist die Studie in Abgrenzung zur Opferperspektive ein Beitrag zur Entwicklung und Stärkung komparatistischer Täterstudien, die allerdings noch Theorie- und Analysekonzepte ausschärfen müssten. Aus einer dezidierten (Forschungs-)Perspektive wäre dies laut Altmann sehr zu begrüßen: 

Auf diesem Weg kann dann der Täter vielleicht in indirekter, ja widersinniger Weise zu einer Art ‚Zeuge‘ werden und sein Text letztlich doch die für die Holocaust-Literatur typische Zeigefunktion erfüllen.

Hinter der Überschrift „Interdisziplinäres Konzept für die Textanalyse“ verbirgt sich der methodische Schwerpunkt der Studie. Auf etwas mehr als 100 Seiten finden sich Antworten auf drei Leitfragen, die Altmann als epistemologisch relevant einstuft: Wie fassen die Täter ihre Taten in Worte und versprachlichen sie dadurch? Lädt der Text zur Identifikation mit dem oder zur Sympathie für den Täter ein? Ist der Täter ein glaubwürdiger Täter? Hinter diesen recht simpel anmutenden Ausgangsfragen verbergen sich komplexe Forschungs- und Methodenkonglomerate, die die Autorin umfassend und höchst plausibel angeht. Die Täterrhetorik sei strategisch in literarischen Texten durch Schweigen (und bisweilen Verschweigen), Ablenken, Bestreiten und Gestehen bzw. durch Teilgestehen oder Teilbestreiten gekennzeichnet. Häufig versuchten Täter durch Neutralisationstechniken und Rationalisierungen ihr Handeln zu relativieren, erst da, „wo es nicht mehr möglich ist, die Existenz oder Kenntnis der Taten oder die eigene Beteiligung an ihnen zu leugnen, beginnen die Rechtfertigungsversuche“. 

Dies führt zu der Problematik, inwiefern entsprechende Texte zur Identifikation und Sympathie bzw. Antipathie mit dem Tätererzähler führen, insgesamt also nach dem Grad der leserseitigen Rezeptionslenkung. Detailliert liefert die Studie entsprechende Textmittel und zeigt deren Bedeutung und Funktion auf. Daneben widmet die Kulturwissenschaftlerin dem literaturwissenschaftlichen Modell des unzuverlässigen bzw. unglaubwürdigen Erzählens große Aufmerksamkeit. Dazu geht sie differenziert auf mögliche Unglaubwürdigkeitssignale und Zuverlässigkeitsindikatoren ein und konstatiert als Fazit in plausibler Weise, dass für die Beurteilung der (Un-)Zuverlässigkeit „die Stärke der jeweiligen Signale, ihre Verteilung und Dichte sowie die Zugänglichkeit der Korrektive und Affirmative wichtig“ sei. 

Im dritten Teil der Studie wird das entwickelte Textanalysemodell auf zwei Texte angewendet: auf Robert Merles 1952 erschienenen Roman La mort est mon métier und auf Jonathan Littells Les bienveillantes aus dem Jahr 2006. Beide Romane zeichnen sich durch eine dezidierte Täterperspektive aus, zählen kategorial zum Genre der fiktiven Autobiografie bzw. historiografischen Metafiktion: einerseits das in Ich-Form erzählte Leben von Rudolf Lang und die auf Basis der authentischen Verhör-Protokolle unternommene Literarisierung des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß, andererseits die fiktiven Memoiren des SS-Offiziers und Juristen Maximilian Aue. Nach der jeweiligen Einordnung in den Rezeptions- und Forschungsstand werden jeweils der Peritext und drei Textstellen genauer analysiert unter der Fragestellung: 

Findet sich in ihnen die beschriebene Rhetorik der Täter wieder? Ist der Erzähler eine Identifikationsfigur? Erscheint er sympathisch? Ist er ein glaubwürdiger Erzähler? Welches Täterbild dominiert? 

Altmann kann nachweisen, dass im Falle von La mort est mon métier der Täter vorrangig als 

Opfer der gesellschaftlichen und familiären Umstände erscheint, was zu Beginn der Erzählung eine starke Empathie mit ihm etabliert, die erst gegen Ende durch den Dialog mit verschiedenen anderen Figuren wieder dekonstruiert wird, die auch die Täterrhetorik als unglaubwürdig entlarven.

Hingegen erweist sich Les Bienveillantes als Roman, der sich einer identifikatorischen Lektüre widersetzt, da Erzählweise und Täterrhetorik als sehr komplex erscheinen. In vergleichender Betrachtung wird nach Meinung Altmann deutlich, dass es sich um deutlich unterscheidbare Texte aus Täterperspektive handle, die nach dem von ihr entwickelten Modell gut beschrieben werden können. Folglich könne es damit „als tauglich für die Analyse von Holocaust-Literatur aus Täterperspektive gelten“. 

Die Ausführungen von Eva Mona Altmann zeugen von einer profunden Sachkenntnis und intensiven Beschäftigung mit dem wichtigen Komplex der Holocaust-Literatur. Die Darstellungsweise ist insgesamt nachvollziehbar, die Auseinandersetzung mit der einschlägigen Forschungsliteratur beeindruckt, was bereits der Umfang des fast 80-seitigen Literaturverzeichnisses belegt. Mitunter wirkt die Argumentation durch die Fülle an Literaturzitaten dadurch etwas mosaikartig kompiliert, nicht zuletzt durch die akribisch-skrupulöse Zusammenstellung vielfältiger Forschungspositionen. 

Insgesamt ist sehr positiv zu vermerken, dass die Autorin neben der theoretischen Durchdringung des ‚Turn to the Perpetrator‘ und einer entsprechenden Analysemodellierung darum bemüht ist, an konkreten Texten den von ihr beschriebenen und systematisierten Analyseapparat anzuwenden. Ob sich ihre euphorische Schlussfolgerung der allgemeinen Tauglichkeit ihres Analysekonzeptes auch für weitere Holocaust-Literatur aus Täterperspektive als evident erweisen kann, müssten Folgestudien und größere Textkorpora erweisen. Altmanns Studie lädt aber im besten Sinne genau dazu ein, wie die Forscherin in ihrer „Schlussbemerkung“ selbst bereits konstatiert: Ihr Analysekonzept solle die Analyse von weiteren Holocaust-Zeugnissen aus Täterperspektive flankieren bzw. initiieren, ferner böte sich eine Konzeptmodifikation „für andere Textsorten, Medien, Tätertypen und thematische Kontexte“ an. Das Unsagbare verschweigen erweist sich in toto als Glückfall für die Holocaust-Literatur-Forschung aus komparatistischer Perspektive und kann als wichtiger Impuls zur weitergehenden Erforschung der Täterperspektive gelten.

Titelbild

Eva Mona Altmann: Das Unsagbare verschweigen. Holocaust-Literatur aus Täterperspektive. Eine interdisziplinäre Textanalyse.
Transcript Verlag, Bielefeld 2021.
482 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783837654684

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch