Im Reich der Zeichen und Fiktionen

Ein von Erik Schilling herausgegebenes Handbuch beschäftigt sich mit Leben, Werk und Wirkung von Umberto Eco

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang steht die Erinnerung an ein unter dem Weihnachtsbaum liegendes Exemplar von Der Name der Rose, das der Herausgeber als Jugendlicher von seinem Vater, einem Mediävisten, geschenkt bekommt, und das ihn an die Welt des Mittelalters heranführt. In dieser persönlichen Geste scheint auf, wie (Lese-)Kultur entsteht, die Passion für Literatur und Historie geweckt, ein Kunstwerk von einer Generation an die nächste weitergegeben wird – ein dynamischer, in die Zukunft weisender Prozess, „lebenslange Lesefrüchte“ (Eco).

In sechs umfangreichen Kapiteln und nahezu fünfzig Unterkapiteln, ergänzt um einen Anhang mit Zeittafel und Werkregister, beleuchtet das Umberto Eco Handbuch, erstes umfassendes Nachschlagewerk zu Umberto Eco, Person und Zeit, theoretische Werke, Romane und weitere literarische Werke, Schriften zur Ästhetik, Medientheorie, Politik und Zeitgeschehen sowie Denkfiguren und spezifische Begriffe Ecos. Mit seinen fast 400 Seiten Umfang deckt es wohl so ziemlich alle wesentlichen Aspekte hinsichtlich Autor und Werk in Produktion, Distribution und Rezeption ab. 

Im Vorwort betont der Herausgeber, der in München und Stanford mit einer Arbeit zu Umberto Eco und dem historischen Roman promoviert wurde und aktuell als Privatdozent für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Vergleichende Literaturwissenschaft an der LMU München tätig ist, dass das Handbuch sich nicht allein an Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler richte, sondern ebenso an Philosophinnen und Medienwissenschaftler, Musikwissenschaftlerinnen und Historiker, Sprachwissenschaftlerinnen und Zeichentheoretiker. Wie Ecos Wirken selbst sei es hoch anschlussfähig für weite Teile der Geistes- und Sozialwissenschaften, selbst die Naturwissenschaften könnten manche Anregung finden, etwa ausgehend von Ecos Überlegungen zum Verhältnis von biologischen Signalen und Semiotik. Das Handbuch bietet mithin zahlreichen Leser- und Zielgruppen einen „Wegweiser durch die verschlungenen und vielfältigen Denkräume Ecos“ und stellt zugleich eine Anregung zum Selber- und Weiter-Lesen dar.

Thomas Stauder gibt in seiner biographischen Skizze einen vielschichtigen und spannenden Einblick in zentrale Begebenheiten, Entwicklungen und Verläufe im Leben Umberto Ecos. Dieser wuchs in einer kleinbürgerlichen Familie auf, so dass seine spätere intellektuelle Laufbahn keineswegs vorhersehbar war. Seine Großmutter mütterlicherseits war eine begeisterte Leserin von Romanen, die sie aus Bibliotheken entlieh. Über sie lernte der kleine Umberto früh Fjodor M. Dostojewski und Honoré de Balzac kennen. Sein Großvater väterlicherseits war Drucker, arbeitete in seinen letzten Lebensjahren als Buchbinder. Nach dem Tod des Großvaters entdeckte der zehnjährige Umberto eine von diesem zurückgelassene Truhe, die noch ungebundene Werke enthielt, darunter Abenteuerromane aus dem 19. Jahrhundert, was dem Jungen weitere prägende Lektüreerfahrungen ermöglichte .

Auch die übergeordneten diskursiven Kontexte der Zeit und Ecos kontinuierliche Auseinandersetzung mit diesen prägten das theoretisch-wissenschaftliche wie das literarische Schaffen des Autors, führt Klaus Birnstiel im Kapitel Diskursive Kontexte aus. Ecos Interesse galt der literarischen Avantgarde ebenso wie der Kultur populärer Medien. Wie die Diskussionen um Strukturalismus, Semiotik und Poststrukturalismus gehört der Postmoderne-Diskurs zu den wesentlichen Kontexten von Umberto Ecos Schaffen und Wirken. All diese miteinander verwobenen Diskurs-Stränge stellen das Fundament für seine Denk- und Schreibweg(e) dar. Ecos klassische philosophisch-ästhetische Ausbildung, verbunden mit seinem breit gefächerten kulturanalytischen Interesse, sorgte für die unkonventionelle Fruchtbarmachung dieser intellektuellen Felder, so Birnstiel. 

Ab 1980 und bis zu seinem Tod gelang es Eco, parallel und auf höchstem Niveau wissenschaftlich tätig zu sein, sich zu Themen gesellschaftspolitischer Aktualität und Relevanz zu äußern sowie mehrere umfangreiche Romane zu verfassen, wobei es zu thematischen Überschneidungen und Synergien zwischen den diversen Bereichen kam. Angesiedelt zwischen Zeichenwissenschaft und historischer Ästhetik, Kulturgeschichte und Medienanalyse, akademischer Lehre und literarischer Produktivität bildete sich die „intellektuelle Statur einer weit über Italien und ihre eigene Lebenszeit hinaus wirksamen Figur“ aus. Der Tod Ecos im Februar 2016 bot weltweit Gelegenheit, seine Persönlichkeit und seine intellektuellen Aktivitäten noch einmal umfassend zu würdigen. Eco habe eine „grenzenlose Bibliothek“ in sich getragen, formulierte es Dario Francheschini, Minister für Kulturgüter und Tourismus. Ecos leidenschaftlicher Bürgersinn wurde in den Nachrufen ebenso hervorgehoben wie sein Verhältnis zum Humor und sein Status als öffentlicher Intellektueller.

Wie Armin Burkhardt in seinem Beitrag über die späteren Schriften Ecos zur Semiotik und Sprachphilosophie ausführlich darlegt, ist Ecos literarisches Schaffen nicht allein durch intertextuelle Bezüge zu den Werken zahlreicher anderer Autoren gekennzeichnet, sondern auch durch deutlich erkennbare Bezugnahmen auf seine eigenen semiotischen Schriften, so dass hier von „Auto-Intertextualität“ gesprochen werden könne. Dies gelte nicht nur für den Namen der Rose, wo diese Bezüge besonders offensichtlich erkennbar seien, sondern auch für seine anderen Romane, am deutlichsten wohl für Die Insel des vorigen Tages

Grit Fröhlich führt in ihrem Beitrag Ästhetik aus, dass die Beschäftigung mit Ästhetik zu den frühesten theoretischen Interessen Umberto Ecos gehörte und sein Denken zeitlebens gefärbt habe. Bereits in der Schulzeit lernte Eco die zu dieser Zeit in Italien vorherrschende Ästhetik Bernedetto Croces kennen. Während des Studiums begegnete er Luigi Pareyson, bei dem er seine Abschlussarbeit („tesi di laurea“) über ästhetische Fragen bei Thomas von Aquin („Il problema estetico in San Tommaso“, späterer Titel: „Il problema estetico in Tommaso d’Aquino“) schrieb. Die philosophische Ästhetik Pareysons stelle eine wichtige Orientierung für Ecos „erstes großes theoretisches Buch“, Das offene Kunstwerk, dar. 

Zu den hauptsächlichen Aspekten, die aus der Ästhetik seines Lehrers für Eco relevant geworden seien, zählt nach Fröhlich Pareysons Theorie der Formativität, die den produktionsästhetischen mit einem rezeptionsästhetischen Ansatz verknüpft und künstlerische Tätigkeit, wie überhaupt alles menschliche Tun, als Poiesis (Erschaffen, Hervorbringen im Gegensatz zu mimesis, Abbilden, Nachahmen) versteht. Der Begriff der Formativität beschreibe einen dynamischen Prozess der Hervorbringung und Herausbildung von Formen, der mit einem Moment der Erfindung einhergehe und sich „in einer suchenden Bewegung innerhalb der stofflichen Materie“ vollziehe. Dieselbe erfinderische Dynamik gelte für das (spätere) verstehende Nachvollziehen und Interpretieren der hervorgebrachten Formen und Werke. Die Produktivität der menschlichen Einbildungskraft verbleibe bei Pareyson nicht im rein Geistigen, sondern könne nur in der Materie wirken. Die von der Einbildungskraft beflügelte erfinderische Arbeit an und in der Materie, die „Ausdrücke“ – sei es Kunst oder andere Arten menschlicher Artefakte – hervorbringe, spiele in Ecos Kultursemiotik eine entscheidende, kulturbildende Rolle. Neben der Ästhetik des Erfindens bzw. der künstlerischen Produktion sei Pareysons Theorie der Interpretation der Aspekt seiner Ästhetik gewesen, der am wichtigsten für Ecos späteres Denken geworden sei. 

Die Theorie der Formativität ging davon aus, dass im Kunstwerk vielfältige Perspektiven angelegt seien, die eine unendliche Zahl von Interpretationen hervorrufen – wobei Abgeschlossenheit und Bestimmtheit der Form die Voraussetzung für ihre „unendliche“ Interpretierbarkeit und Offenheit darstellen. Ecos in Opera aperta dargelegtes Konzept des offenen Kunstwerks avancierte seit den 1960er Jahren zu einem zentralen Begriff in der Debatte über moderne Kunst. Eco schreibt darin dem Kunstwerk einen offenen, kommunikativen Charakter zu, konzipiert das Werk als einen Ort des Dialogs, an dem die Unendlichkeit der Aspekte, die ein Autor darin angelegt hat, ihrerseits eine Unendlichkeit interpretativer Möglichkeiten evoziert. Mit dem in sie eingeschriebenen kreativen Impuls vermögen Kunstwerke neue, kulturverändernde Weltsichten hervorzubringen.   

Dieter Mersch beleuchtet in seinem Artikel Das offene Kunstwerk (Opera aperta) die von Eco entwickelte Poetologie und Poetik der Offenheit. Kunst bilde in dieser eine eigene, irreduzible Erkenntnisweise, die im Modus von Gestaltung argumentiere, und die durch keine andere Form ersetzbar oder paraphrasierbar sei. Ihr „Sinn“ entstehe dabei durch den interpretativen Dialog von Subjekt und Kunstwerk. „Offenheit“ stelle bei Eco einen historischen Begriff dar, er markiere den Beginn der literarischen Moderne im 19. Jahrhundert, und werde dann vor allem für die Kunstproduktionen der Nachkriegszeit, mit Bezug auf alle künstlerischen Disziplinen, reserviert. Die (offene) Kunst erhält im Denken Ecos „einen unveräußerlichen Platz in der humanen Selbsterkenntnis“ und wird zu einer epistemologischen Metapher, indem sie uns Menschen in unserer diskontinuierlichen, uneinheitlichen Welt einen Weg aufzeigt, „wie wir diese Welt sehen und damit anerkennen und unsere Sensibilität integrieren können“ (Eco). Kunst ist „erkenntnisartig“, sie bildet eine Sichtweise, die die Phänomene auf ihre nicht-propositionale Weise allererst aufschließt, eine Art, die Welt zu sehen. Kunst ist eine Weise kultureller Kommunikation, eine Praxis, an der „das Universum der Geschichten“ beteiligt ist.

Das Umberto-Eco-Handbuch bietet einen vollumfänglichen und gründlichen Einblick in Leben und Werk des großen Gelehrten, Romanciers und Intellektuellen. Es zeigt die Wechselwirkungen von wissenschaftlichen und literarischen Arbeiten Ecos auf und nimmt zudem Bezug auf eine Vielfalt relevanter ästhetischer, literarhistorischer und literaturtheoretischer Phänomene sowie gesellschaftspolitische Entwicklungen. Es bietet zahlreiche Möglichkeiten für Entdeckungen auch abseits des Geläufigen und sei sowohl dem Kenner des Eco’schen Werks wie auch dem Novizen ans Herz gelegt.

Titelbild

Erik Schilling: Umberto Eco-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2021.
395 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-13: 9783476057792

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