Mit Gänsen ins All

Francis Godwins frühneuzeitlicher Kurzroman „Der Mann im Mond oder Bericht über eine Mondreise von Domingo Gonsales dem fliegenden Boten“

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner 2018 gegründeten Reihe Weltraumreisen erschließt der hannoversche Wehrhahn Verlag in zeitgemäßen Editionen ein ungewöhnliches Genre der Frühen Neuzeit: Literarische Weltraumreisen. Nach ihren Erstveröffentlichungen waren viele der heutzutage oftmals vergessenen Texte „Bestseller“ auf dem europäischen Buchmarkt, sie wurden viel beachtet und zahlreich übersetzt. Die Verlagsreihe will diese Erzählungen, die zu Recht als Vorläufer der modernen Science-Fiction gelten können, wieder zugänglich machen. Dazu gehört, dass die sorgfältig erstellten Texteditionen von Anmerkungen begleitet werden und in Werk, Autor/in und historischen Kontext jeweils durch ein umfangreiches Nachwort einführen. Weiterführende Literaturhinweise sowie ein umfangreiches Bestandsregister erleichtern die Verwendung im Forschungsbereich Literatur der Frühen Neuzeit. 

Die Reihe wird von der Marburger Wissenschaftlerin Hania Siebenpfeiffer betreut und herausgegeben. Bislang erschienen ist als erster Band bereits Eberhard Christian Kindermanns kurze Erzählung aus dem Jahr 1744 Die Geschwinde Reise auf dem Lufft = Schiff nach der obern Welt. Der Thüringer Astronom und Mathematiker Kindermann hatte sein astronomisches Wissen in einer imaginären Expedition von fünf Reisenden zum Marsmond allegorisiert, um dessen Existenz und Bewohntheit zu beweisen; er schuf damit zugleich die erste originäre Science-Fiction-Erzählung der deutschsprachigen Literatur und harmonisierte die zeitgenössische naturwissenschaftliche Auseinandersetzung um die Vielzahl und Bewohntheit der Welten mit der theologischen Frage nach der Stellung des Menschen in der göttlichen Ordnung.

Vorausgegangen war dieser Allegorie als erster englischsprachiger Science-Fiction-Roman Francis Godwins (1562–1633) Kurzroman The Man in the Moone, der 1638 in Form eines fiktiv-autobiografischen Reiseberichts erschienen war. Godwins Weltraumreise verknüpfte die zeitgenössischen Diskussionen um Kosmologie und Astronomie, Mechanik und Magnetismus mit seinen fiktiven Schilderungen eines gewissen Domingo Gonsales und dessen abenteuerlichen Erlebnissen auf einem Flug zum Mond – mithilfe eines von wilden Gänsen gezogenen Apparats, der „flying engine“. Auf dem Erdtrabanten beweist er durch seine Begegnung mit den Lunariern nicht nur die Bewohntheit extraterrestrischer Welten, seine fingierte Augenzeugenschaft bezeugt auch die Glaubwürdigkeit des kopernikanischen Weltbildes. 

Dieser Kurzroman von Francis Godwin ist nun als zweiter Band der Reihe erschienen, übersetzt aus dem Englischen von Ekbert Birr und herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Dong Chen, Sneha Kabburi, Hanneliese Lenk, Jonathan Lenz, Xinyi Liu, Lukas Müller, Maximilian Raab, Hania Siebenpfeiffer und Nadja Tulakow. Die vorliegende Edition präsentiert erstmals eine ungekürzte deutsche Übersetzung des Romans und erschließt in umfangreichen Annotationen und einem Nachwort den historischen Kontext sowie Leben und Werk des Autors.

Vor Dir liegt hier ein Versuch der Phantasie, der sich dadurch auszeichnet, dass sich in ihm die Erfindungsgabe der Urteilskraft bedient. Es lag (wie ich vermute) keineswegs in der Absicht des Verfassers, Dich kraft seiner Rede dazu zu bewegen, jedem einzelnen Umstand Glauben zu schenken. So ist es nur recht und billig, ihm gestalterische Freiheiten zuzugestehen, bist schließlich auch Du selbst so frei, diesbezüglich von Deinem eigenen Urteilsvermögen Gebrauch zu machen. Der Sache nach handelt es sich hier um die neue Entdeckung einer neuen Welt, die Dir vielleicht kaum weniger abwegig erscheinen wird, als es der Gedanke der Entdeckung einer neuen Welt durch Columbus zunächst nach allgemeiner Ansicht war. Und doch offenbarte dessen ursprünglich nur mangelhafte Erkundung Amerikas unserem Wissen so vieles, das seither zu einer gewaltigen Pflanzung angewachsen ist. Und das damals Unbekannte ist jetzt so groß wie der gesamte Rest der bekannten Welt. 

So beginnt das Vorwort an den Leser, das mit den Initialen „E. M.“ unterzeichnet wurde. Verfasst hat es – so nachzulesen im umfangreichen Stellenkommentar der Edition – aber vermutlich nicht Godwin selbst, sondern Thomas Godwin, einer seiner Söhne, der in die schriftstellerischen Tätigkeiten seines Vaters eng einbezogen war und das Werk nach dessen Tod auch herausgegeben hat. Bereits 1648 erfolgte eine erste Übersetzung ins Französische, auf der die Erstübertragung ins Deutsche im Jahr 1659 beruht. Allerdings waren in dieser Fassung viele Passagen aus konfessionellen Gründen gestrichen worden, die in der vorliegenden Neuedition nun vollständig wieder vorliegen. Ziel der Übertragung von Ekbert Birr war nicht nur diese Rekonstruktion, sondern auch das Bemühen, den frühneuzeitlichen Charakter des Textes zu wahren und ihn dennoch für heutige Leser verständlich zu machen.
Der schon erwähnte ca. 30 Seiten umfassende Stellenkommentar sowie die ausführlichen Nachworte der Marburger Projektgruppe werden um die vollständigen bibliographischen Nachweise der Originalausgabe und der Zweitauflage von 1657 sowie eine Auflistung der späteren Teil- und Faksimiledrucke und der Übersetzungen ins Französische, Deutsche, Niederländische und Spanische ergänzt. Zur Popularisierung im Deutschland des 17. Jahrhunderts dürften insbesondere drei Fassungen mit dem Titel Der fliegende Wandersmann nach dem Mond beigetragen haben, die unter der Herausgeberschaft des Hans Christoffel von Grimmelshausen 1684, 1695 und 1713 erschienen sind.

Zu Godwins Quellen gehörten zahlreiche nautische Werke, darunter eine Beschreibung der Seereise zur Insel St. Helena von Thomas Cavendish als Bestandteil seines Berichts aus dem Jahr 1588 von seiner ersten Weltumsegelung. Godwin verarbeitete als praktizierender englischer Bischoff aber auch Schilderungen der ersten Jesuitenmission in China aus dem Jahr 1625, aufgeschrieben von deren Begründer Matteo Ricci. Diese Quellen verschmolz er mit dem aufkeimenden Interesse an Kosmologie und Astronomie, Berichten von frühen Flugexperimenten und von weiteren einschlägigen technologischen Fortschritten in der Mitte des 17. Jahrhunderts und vermischte all das mit mythischen Vorstellungen von Teufeln, bösen Geistern und anderen Wesen, die angeblich die Sphäre zwischen Erde und Kosmos bevölkern. Waren es in Shakespeares The Tempest noch Harpyien, also geflügelte Mischwesen der griechischen Mythologie, so verwendete Godwin „alltägliche“ Tiere wie Gänse, um seinen wissenschaftlichen Anspruch innerhalb der zeitgenössischen naturphilosophischen Diskussionen plausibel zu untermauern. So wurden in der Verkleidung als Mondreise die von der damaligen Theologie bekämpften Anschauungen (La pluralité des mondes) sowie die umstrittenen Konsequenzen der kopernikanischen Thesen umgangen.

Die Anlage des Kurzromans folgt dem Muster des spanischen Pikaroromans in Gestalt der anonym veröffentlichten Novelle Lazzarillo de Tormes von 1552. Godwin geht allerdings weit darüber hinaus und markiert somit den Beginn einer frühneuzeitlichen Science-Fiction – so die Interpretation der Herausgeberin Siebenpfeiffer, die sich auf die im Roman enthaltenen Elemente des Gedankenspiels und die entworfene kontrafaktische Diegese beruft. Godwins Allegorie verarbeitet quellengerecht damalige Reiseberichte, lässt diese aber in einem Mondflug und schließlich mit einer Landung in China enden. Vielfältigen Nachhall hat Godwins Werk u.a. in Cyrano de Bergeracs 1657 veröffentlichtem Roman Les Etats et Empires de la Lune et du Soleil gefunden, Parallelen finden sich aber auch im ersten „bürgerlichen“ Roman Robinson Crusoe von Daniel Defoe (1719) bis hin zu Edgar Allan Poes The Unparalleled Adventure of One Hans Pfaall von 1835. Eingang in die deutsche Literatur des 18. Jh. hat die von Vögeln begleitete Mondreise in die von Gottfried August Bürger bearbeitete Sammlung Feldzüge und Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen (1786) gefunden; noch im 20. Jh. hat der Schriftsteller Klabund (d.i. Alfred Henschke) die Mär vom „Fliegenden Wandersmann“ in seinem Roman Pjotr. Roman eines Zaren 1923 gestaltet.

Der Verlag hat mit der bibliophil gestalteten frühen Weltraumreise eine schöne Leseausgabe bereitgestellt, der weitere folgen sollen (als dritter Band der Reihe ist mittlerweile Samuel Brunt: Capitain Samuel Brunts Reise nach Cacklogallinien, und weiter in den Mond (1735) als Neuausgabe der Übersetzung v. Johann Georg Mentzel erschienen).

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Francis Godwin: Der Mann im Mond oder Bericht über eine Mondreise von Domingo Gonsales dem fliegenden Boten.
Aus dem Englischen von Ekbert Birr.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2021.
199 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783865258175

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