Formen des Denkens

Werner Stegmaier hat eine Einführung zu „Formen philosophischer Schriften“ verfasst

Von Thomas MerklingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Merklinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gedanken benötigen eine Form, um zum Ausdruck gebracht zu werden. In der Geschichte der Philosophie ist diese Form aber oftmals nicht vorhanden gewesen, sondern musste erst neu gefunden werden. Das abendländische Denken lässt sich daher nicht nur als Abfolge revolutionärer Ideen darstellen, es ist zugleich eine Geschichte der literarischen Textformen, die einer neuartigen Perspektive Gestalt verleihen. 

Werner Stegmaier hat nun im Junius Verlag 50 dieser Formen philosophischer Schriften zur Einführung in chronologischer Linie vorgestellt und zeichnet nach, wie sich klassische Ideen in Verbindung mit einer innovativen textuellen Gestalt entwickelt haben. Die Einführung des 2011 emeritierten Professors geht auf Vorlesungen zum philosophischen Schreiben zurück, die er zwischen 1997 und 2008 an der Universität Greifswald gehalten hat. In die Buchpublikation ist aus diesem breiten Fundus schließlich eine runde Zahl der wichtigsten Textformen eingeflossen, die darüber hinaus in einer Übersichtstabelle im Anhang zusammengefasst sind. 

Für den renommierten Nietzsche-Forscher ist das Zusammenspiel von Textgestalt und Textgehalt keine Neuigkeit. Aber nicht bloß für den ästhetisch versierten Autor des Zarathustra ist die äußere Form seiner Schriften mitzudenken, es gilt dies zuletzt doch für alle Texte. Die Form ist nicht beliebig, sondern integraler Teil des Denkens: „Sie ist, wie diese Einführung zeigen will, nie von ihren Inhalten zu trennen.“ Das Textäußere besitzt damit heuristischen Wert, insofern es zum philosophischen Gehalt beiträgt. Im Mittelpunkt der Darstellung Stegmaiers sollen jedoch Schriften stehen, die sich darüber hinaus dadurch auszeichnen, dass sie innerhalb der Philosophiehistorie eine neuartige Form erschließen. 

Um die Relevanz der Textgestalt für die Philosophie zu zeigen, ist es nötig, den Zusammenhang von Inhalt und Form, aber auch von philosophischem Leben und historischem Kontext darzulegen, da sich die jeweilige Entscheidung für eine bestimmte textuelle Präsentation erst in der Kombination dieser Faktoren verstehen lässt. Weil eine innovative Form einerseits nur in Abgrenzung zu einer vorgängigen Tradition als solche erfahrbar wird und diese zweitens meist mit innovativen Gedanken einhergeht, ergibt sich letztlich ein Durchgang durch die Geschichte der westlichen Philosophie aus der Perspektive ihrer Textgestalten.

Diesem Dilemma, die Geschichte der Philosophie voraussetzen zu müssen, sie aber nicht erneut reproduzieren zu können, begegnet Stegmaier dadurch, dass er zu Beginn auf gängige philosophiehistorische Einführungen verweist und sich in seiner eigenen Darstellung auf die wichtigsten Inhalte beschränkt. Gleichwohl begegnen auf fünf epochale Abschnitte verteilt – „Antike“, „Mittelalter“, „Neuzeit“, „19. und 20. Jahrhundert“ sowie „Gegenwart“ – bekannte Denker und ihre Grundthesen. Allerdings werden in der Tat lediglich zentrale Informationen geboten, um die im Vordergrund stehenden Formen zu kontextualisieren. Bei 50 durchnummerierten philosophischen Textsorten und nahezu ebenso vielen mit ihnen verknüpften Namen (manche Philosophen wie Augustinus und René Descartes sind mit mehreren Punkten verbunden) zeichnen sich aber doch die klassischen Pfade des Denkens ab. 

Das Zusammenspiel von Form und Denken wird bereits zu Beginn des Philosophierens deutlich, wenn die Vorsokratiker ihre Gedanken gerade nicht in Versen präsentieren, sondern die Prosaform wählen und sich dadurch von den kultischen Lehrgedichten oder Göttererzählungen abgrenzen. Erst Parmenides greift dann wohl bewusst auf das Lehrgedicht zurück, um von der göttlichen Gestalt der Wahrheit zu künden. Die Form bietet hier nicht nur einen Mehrwert, sondern kodiert offenbar auch einen Teil der Botschaft: Drückt sich bei Thales, Anaximander und Pythagoras im Verzicht auf den Hexameter eine Abkehr von göttlichen Weltentstehungsmythen aus, wird die Autorität des Lehrgedichts von Parmenides schließlich für die eigene Lehre von der Wahrheit des Seins in Anspruch genommen. 

Die Innovation liegt hier nicht darin, eine neue Form gefunden, sondern eine bereits vorhandene für die eigenen Inhalte aufgeschlossen zu haben. So werden in der Philosophiegeschichte religiöse, politische oder literarische Vorbilder aufgegriffen. Stegmaier nennt beispielsweise das Gebet bei Anselm von Canterbury oder die Orientierung am Talmud-Kommentar bei Emmanuel Lévinas. Die Sophistik und insbesondere Isokrates nutzen die öffentliche Rede, Seneca den öffentlichen Brief. Erasmus von Rotterdam besinnt sich auf die Satire; der Essay, Maximen und Aphorismen hingegen werden meisterhaft von Michel de Montaigne und François de La Rochefoucauld für die Philosophie vereinnahmt. 

In vielen Fällen ergeben sich beim Blick auf die äußere Form der Philosophie Überschneidungen mit anderen Wissenschaftsdisziplinen, insbesondere mit den Philologien. Altphilologische Studien setzen sich immer schon mit philosophischen Texten der Antike auseinander, Thomas Mores Utopie hat ein ganzes Literaturgenre angestoßen und mit Søren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche finden sind Denker, die mit literarischen Formen jonglieren. Deutlicher noch wird die interdisziplinäre Tendenz, wenn Stegmaier darauf verweist, dass durchaus auch genuin literarische Texte mit philosophischen Inhalten wie beispielsweise Friedrich Hölderlins Dichtung oder Fjodor M. Dostojewskijs Romane, aber natürlich auch Jean-Paul Sartres dramatische Texte in der Einführung hätten Berücksichtigung finden können, mehr Platz vorausgesetzt. 

Darüber hinaus gibt es aber auch Formen, die eigens für eine neue philosophische Perspektive gefunden worden sind. Ludwig Wittgensteins Dezimalnotation im Tractatus logico-philosophicus kann hier als berühmtes Beispiel gelten. Auch wenn Wittgenstein für seinen philosophischen Neuansatz später wieder von dieser Ordnung abrückt und die Gedanken in seinen Philosophischen Untersuchungen komplementär zu ihrem Gegenstand, der Alltagssprache, als ein durch Paragraphen lose gegliedertes Album aufbaut, hat die Dezimalstruktur eine eigene Textform begründet, die im wissenschaftlichen Schreiben weiterhin verwendet wird.

Stegmaiers abschließender Blick auf die heute vorherrschenden Textformen der Philosophie ergibt zunächst ein vermeintlich recht eintöniges Bild: Im Gegensatz zur Vielfalt der beschriebenen Textformen dominieren Beiträge in philosophischen Zeitschriften und Themenbänden sowie Monographien. Diese Gegenüberstellung jedoch mag täuschen. So sind zum einen auch in der Vergangenheit standardisierte Textformen verbreitet gewesen, andererseits lässt sich jenseits von universitären Qualifikationsschriften und normierten Wissenschaftsriten auf den gesamten Textfundus der Philosophiegeschichte zurückgreifen. 

Aber vor allem durch digitale Medien ergibt sich ein großes Feld neuer Möglichkeiten zu philosophieren. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass sich auf dem Gebiet philosophischer Textformen am ehesten im Digitalen Neuerungen erwarten lassen. Auch wenn sich bislang noch kein inhaltlich wie formal innovativer philosophischer Wurf erkennen lässt, muss das nicht beunruhigen, denn es ist dem Neuen wesentlich, nicht vorhersagbar zu sein. 

Seine Einführung möchte Stegmaier auch als Anregung für weitergehende Forschungen verstanden wissen. Abgesehen von Detailuntersuchungen zu einzelnen philosophischen Texten gibt es bislang kaum allgemeine Abhandlungen zu der hier skizzierten Thematik, so dass durch die vorliegende Auswahl historischer Schriftformen ein vorbereitender Beitrag geleistet worden ist. Sicherlich hätten dabei auch andere Werke und Autoren den Vorzug erhalten können, und man hätte sich auch einige grundsätzliche Überlegungen zur Beziehung von philosophischer Textform und ihrem Inhalt gewünscht, die über die knappen Bemerkungen in der Einleitung hinausgehen. 

Gleichwohl ist zu sehen, dass eine Junius-Einführung selbst formalen Beschränkungen unterworfen ist und das vorliegende Buch mit 288 Seiten bereits zu den umfangreichsten Bänden der Reihe gehört. So ließe sich jede der ausgewählten philosophischen Schriften natürlich ausführen und die Liste auch ergänzen (nicht zuletzt um die Textform der Einführung selbst). Die gesetzte Aufgabe jedoch, die vielfältige textuelle Gestalt der westlichen Philosophie in Erinnerung zu rufen und exemplarisch zu zeigen, wie sich ein neues Verständnis philosophischer Texte aufgrund ihrer Form ergeben kann, gelingt Stegmaier sehr anschaulich. 

Titelbild

Werner Stegmaier: Formen philosophischer Schriften zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2021.
288 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783960603207

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